Der Feind ist da. Nur eine Glasscheibe trennt Annalena Baerbock und Leuna, die drittgrößte Raffinerie Deutschlands. Baerbock blickt aus dem Busfenster und sieht, wie sich Rohre und Leitungen über sieben Kilometer unendlich oft verästeln. Ob sie sich gerade vorstellt, wie sie hier alles Stück für Stück abschraubt?
In Leuna, eine dreiviertel Stunde westlich von Leipzig, entstehen jede Stunde eine Million Liter Kraftstoff. Fossiles Rohöl wird zu Benzin, Diesel und Kerosin raffiniert und dann an zwölf internationale Flughäfen und hunderte Tankstellen geliefert. Es wird in Motoren verbrannt und in die Atmosphäre gepustet.
Baerbock ist 168 Tage im Amt als Co-Vorsitzende der Grünen, als sie die Raffinerie besucht. Sie würde Benzin- und Dieselmotoren am liebsten einfach abschaffen. „Abschied vom fossilen Verbrennungsmotor“, nennt sie das.
Es liegt ein Knistern in der Luft, das merkt auch Raffineriedirektor Willi Frantz, ein Mann mit festem Blick und noch festerem Händedruck. Schon vor der Rundfahrt warnte er: „Wir fahren jetzt nicht da raus, Frau Baerbock, und Sie fragen mich, was hier alles weg kann. Es gibt hier einen gewissen Stolz.“ Baerbock erwiderte: „Nee, aber umbauen?“
Verantwortung statt Verbote
Umbauen statt abschrauben, das sind die neuen Grünen. Oder – das wollen sie sein. Mit ihren neuen Chefs Annalena Baerbock und Robert Habeck wollen sie zeigen, dass ihre Partei nicht nur verbieten kann. Sondern auch aufzeigen, wie es nach dem Verbot weitergeht. Aus der Partei, die uns Atomstrom, Plastiktüten, Diesel und beinahe das Mensa-Schnitzel weggenommen hat, soll jetzt eine Partei der sozialen Verantwortung werden.
Für Baerbock heißt das: Wer Verbrennungsmotoren abschaffen will, muss zuerst dahin fahren, wo man von ihnen lebt – nach Leuna und zu seinen 630 Angestellten.
Baerbock hat dafür die nötige Erfahrung, sie kennt den Osten. Von 2009 bis 2013 war sie Landesvorsitzende der Grünen in Brandenburg. Und sie weiß über die Klimakrise Bescheid: Nach ihrer Zeit in Brandenburg war sie dann bis 2017 Klimaexpertin der Bundestagsfraktion der Grünen.
Eine Stunde vor der Bustour zeigt Leunas Direktor Frantz in einem kargen Vorraum eine Präsentation. Die Leunawerke gibt es seit mehr als hundert Jahren, sie wurden noch auf Befehl des deutschen Kaisers errichtet. Zunächst als Ammoniakwerk, dann als Hydrierwerk, das Kohle verarbeitet. In der DDR wurde Leuna zum Chemiewerk umgebaut. Man produzierte jetzt Methylalkohol, einen Ausgangsstoff für Kunststoff und Holzleim – und verkaufte in alle Welt. Anders als die meisten Industrien der DDR lief das moderne Leuna nach der Wende einfach weiter. Daher auch der Stolz.
Frantz glaubt, dass es die Leunawerke noch 100 weitere Jahre geben wird. Auch mit der Energiewende. Aber will er bei der überhaupt mitmachen? Muss er? Baerbock fragt: „Wie hoch ist denn aktuell Ihr Anteil erneuerbarer Energien?“ Frantz: „Fünf Prozent.“ Baerbock, schluckt: „Was planen Sie 2035?“ Frantz: „20 Prozent.“ Da senkt Baerbock den Kopf und notiert etwas mit dem Kugelschreiber.
Der Energieverbrauch auf deutschen Straßen nimmt zu
Vielleicht notierte die Grünen-Chefin so etwas wie „Ohgottohgottohgott“, denn schon 2050 will Deutschland 100 Prozent klimaneutral sein, so steht es in Plänen des Umweltbundesamtes. Auf den internationalen Klimakonferenzen hat sich Deutschland sogar vertraglich verpflichtet, seine Emissionen zu reduzieren. „Wie wollen Sie diese Ziele hier erreichen?“, fragt Baerbock den Direktor. „Frau Baerbock“, sagt der Raffineriedirektor Frantz und lächelt mild, „die Energiewende wird nicht von Leuna ausgehen.“
Sie wolle „frühzeitig ehrlich sein zu denen, die von der Energiewende betroffen sind“, sagt die Parteichefin, als sie sich für die ARD-Kamera vor das Panorama der Leunawerke stellt. Sie will „Leitplanken sichtbar machen“, deshalb sei sie nach Leuna gekommen. Leitplanken braucht normalerweise, wer ins Schleudern gerät. In Leuna hat niemand das Gefühl zu schleudern.
Es ist nicht so, dass den Grünen in diesem heißen Sommer die Argumente für die Energiewende fehlen würden. Trotzdem ist von der nicht so viel zu sehen. Vor zehn Jahren hatte sich die Bundesregierung noch ein Ziel gesetzt, bis 2020 wollte man zehn Prozent weniger Energie auf deutschen Straßen, Schienen und in der Luft verbrauchen. Stattdessen wurden es bislang drei Prozent mehr. Sparsame Elektroautos machen weiterhin nur 0,1 Prozent der deutschen Pkw aus.
„Wir sind doch grün, wir haben hier viele Grünflächen“, witzelt Frantz. Er kann sich die Witze erlauben, er muss die Energiewende nicht ernst nehmen. Sollen das doch andere machen. Nicht, solange auf deutschen Straßen nahezu ausschließlich mit Kraftstoffen, darunter sein Benzin und Diesel, gefahren wird.
Grün ist das neue Rot
Dass Baerbock nach Leuna fährt, hat auch mit einer Kampfansage zu tun, die ihr Co-Vorsitzender, der charismatische Robert Habeck, im Mai 2018 machte. „Wenn die SPD eine Lücke klaffen lässt“, sagte Habeck, „dann müssen andere sie schließen. Wir.” Die Grünen wollen die neue SPD werden? Das ließ aufhorchen, Rot-Grün gilt als bewährtes Bündnis, 16 Mal koalierten die beiden Parteien schon. Von 1998 bis 2005 auf Bundesebene unter Kanzler Gerhard Schröder.
Doch in den vergangenen Jahren hat der rot-grüne Pakt einige Risse bekommen. 2016 und 2017 gingen gleich vier rot-grüne Landesregierungen zu Ende. In Baden-Württemberg ersetzten die Grünen ihren roten Partner durch die CDU. In Hessen entstand eine neue schwarz-grüne Regierung, in Schleswig-Holstein regiert Jamaika, da ist die FDP mit im Boot. Versteht man unter der Großen Koalition bald Schwarz-Grün? In Umfragen liegen die Grünen nur zwei, drei Prozentpunkte hinter der SPD. Auch bei der Landtagswahl in Bayern im Herbst dürften sie die Sozialdemokraten überholen.
Wie aus Grün plötzlich Rot werden soll, erklärt Baerbock derzeit beinahe in jedem Interview. Sie sagt dann: Ökologische Politik ist immer auch soziale Politik. Sie nennt dann gern als Beispiel, dass die extremen Folgen des Klimawandels, also kalte Winter und heiße Sommer, in Deutschland zuerst die sozial Schwachen träfen. „Denn wer schläft denn in den schlecht gedämmten Häusern?“, fragt sie auf ihrem Sommerfest in Leipzig.
Damit hätte man die SPD natürlich im Sack. Wenn nicht, wie bislang immer angenommen, das Grüne im Roten steckt. Also, dass man sich grüne Politik nicht erst leistet, sobald die große Umverteilung stattgefunden hat. Sondern umgekehrt. Dass soziale Gerechtigkeit erst aus umweltbewusster Politik resultiert.
Im Osten haben es die Grünen schwer
„Mit der Nummer würde ich hier im Osten nicht unbedingt argumentieren“, sagt Jens Bitzka. Seit fast zehn Jahren sitzt Bitzka als einziger Grüner im Stadtrat im ostsächsischen Bautzen. Bei der Bundestagswahl holte seine Partei hier mit zwei Prozentpunkten ihr bundesweit schlechtestes Ergebnis. Bei der Bundestagswahl wären die Grünen in den neuen Bundesländern nicht einmal über fünf Prozent gekommen. Wenn die Partei wissen will, warum sie im Osten nicht ankommt, sie müsste Bitzka fragen.
„Wir haben es hier schon immer schwer gehabt“, sagt Bitzka. „Unsere größten Verbündeten sitzen noch in der Stadtverwaltung.“ Dass es die Grünen im Osten nicht leicht haben, liege an ihrem Image als Partei der Veränderung. „Mit Veränderungen tut man sich im Osten traditionell schwer, das hat auch mit den ostdeutschen Biografien zu tun“, meint Bitzka. Anders gesagt: Wer in seinem Leben schon einmal einen Einschnitt verdauen musste, ist für jeden weiteren Einschnitt nicht sonderlich dankbar.
Dass seine Chefin in eine Ölraffinerie fährt, beeindruckt ihn nicht. Es werde auch bei den ostdeutschen Wählern nichts ändern. „Im Osten gibt es eine recht eindeutige Aufgabenverteilung“, sagt er. „Geht es um einen Baum, sind die Grünen verantwortlich. Geht es um ein Auto, ist die CDU verantwortlich.“ Man stehe hier ohnehin vor ganz anderen Problemen. „Wir müssen viele Leute erst mal überzeugen, dass es den Klimawandel wirklich gibt.“
Klimaschutz – durchaus ein ostdeutsches Thema
Aber eigentlich, meint Bitzka dann noch, habe grüne Politik ja viel mit einem Thema zu tun, das den Osten bewegt: Heimat. „Ich habe schon ein Heimatgefühl, das sind für mich etwa die Teichlandschaften um Bautzen“, sagt er. „Wenn ich sehe, was ein Kohletagebau in unserer Natur anrichtet, geht mir das nahe. So gesehen wäre Klimaschutz für mich durchaus ein ostdeutsches Thema.“
Natürlich steht Heimat auch bundesweit hoch im Kurs, das haben die Grünen längst verstanden. Man hört es in Sätzen Habecks wie: „Wir müssen uns trauen, über Begriffe wie Heimat und Patriotismus zu reden, sie für uns zu reklamieren und sie definieren.“ Oder am „Heimatabend“, den Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt kürzlich beim Bautzener Bitzka abhielt. Es steckte auch im Titel der Sommertour der Grünen, der lautete „Des Glückes Unterpfand“ – eine Zeile aus der deutschen Nationalhymne, wie Baerbock auf ihren Terminen nicht müde wird zu erklären.
Die Grünen-Chefin erklärt ihren Mitgliedern die Nationalhymne. Warum nicht. So viel hatte man in letzter Zeit nicht mit Patriotismus und Heimatliebe am Hut. Jetzt fordern die Grünen es geradezu ein. Vielleicht klappt es ja so auch bald im Osten?
Der Osten als Orakel
Die Grünen stehen vor einem Neuanfang. Sozial, heimatverbunden und konstruktiv will man jetzt sein. Da zeigt sich der zweite Grund, warum es für die Parteichefin Sinn macht, durch den Osten zu reisen. Ostdeutschland wurde in den letzten Jahren immer mal als „Zukunftslabor“ bezeichnet. Neue Entwicklungen ließen sich oftmals zuerst hier beobachten, bevor sie bundesweit sichtbar wurden: der Fall der SPD, das Erstarken der AfD, womöglich auch die Zersplitterung der gewohnten Parteienlandschaft – das gab es alles zuerst in Ostdeutschland.
Es scheint fast, als versuchten die Grünen diese Regel zu ihrem Vorteil zu nutzen. Sie reisen zum Orakel des Ostens um herauszufinden, ob ihr Masterplan, die Beerbung der SPD, deutschlandweit funktionieren kann. Nach dem Motto: Wenn uns der Neuanfang hier gelingt, dann erobern wir bald auch die gesamte Republik.
Im Krautreporter Podcast „Verstehe die Zusammenhänge“ spricht Martin Gommel mit Josa Mania-Schlegel über seinen Artikel:
Was passiert, wenn die Chefin der Grünen das Gelände einer Raffinerie betritt, die pro Stunde eine Million Liter Kraftstoff produziert? Und was passiert, wenn sie den Direktor dieser Raffinerie fragt, wie hoch der Anteil der erneuerbare Energien ist? Darüber sprechen die beiden im Podcast.
Redaktion Vera Fröhlich. Bildredaktion Martin Gommel. Aufmacherbild: Josa Mania-Schlegel.