Ist es korrekt, wenn wir militärische Vokabeln wie Kriegsführung, Attacke und Abwehrmaßnahmen benutzen, um über Desinformationskampagnen zu reden?
Hybride Kriegsführung ist der richtige Begriff dafür. Und es ist wirklich wichtig, dass Menschen anfangen, das zu akzeptieren. Es bedeutet, dass es um ein Kriegsgeschehen geht, dass sich genauso auf Informationsmüll stützt wie auf Kugeln. Es entwickelt sich zu einem kosteneffektiven Geschehen, das dabei ist, die Normen und Regeln zu verändern, die wir als kriegszugehörig identifiziert haben. Der Weg zurück in den Frieden ist, jeden Aspekt dieses Geschehens kennenzulernen und zu verstehen – von der relevanten und labilen Infrastruktur dahinter bis zu den Desinformationskampagnen selbst.
Stimmt es tatsächlich, dass ausländische Gruppen mit Kontakten zu politisch und wirtschaftlich einflussreichen Personen das Brexit-Referendum unterlaufen haben?
Ich bin dieser Frage über ein Jahr lang nachgegangen und habe dabei hauptsächlich Techniken benutzt, die man im geheimdienstlichen und kriminalistischen Zusammenhang einsetzt und die ich in meiner Zeit als Polizist und spezialisierter Berater kennengelernt habe. Es gibt tatsächlich keinen Zweifel daran, dass das Brexit-Referendum gezielt beeinflusst worden ist, nicht nur von den Interessengruppen, die hinter Cambridge Analytica stehen, sondern auch direkt aus dem Kreml heraus. Ich habe die Daten auf Jahre zurückverfolgen können und bei meiner Recherche auch militärische Grundsatzpapiere gefunden, die zu dem passen, was die USA inzwischen über die Trollarmeen der vom Kreml gesteuerten Internet Research Agency weiß. Das reicht von offenkundigen Finanzkontakten zwischen dem Kreml und britischen Politikern sowie politischen Figuren in Nigel Farages Umfeld zu ruhenden Desinformationskampagnen, die das russische Medienunternehmen RT und sein Social-Media-Ökosystem mit dem Kreml verbinden. Die Annahme, dass der Brexit nicht von ausländischen Kräften beeinflusst war, ignoriert diese Erkenntnisse vorsätzlich.
Auf einer inzwischen gelöschten Webseite der Pro-Brexit-Kampagne Leave.EU konnte man etwas über die Wissenschaft hinter ihrer Kampagne erfahren. Da hieß es, dass Cambridge Analyticas Fähigkeiten – Wahlberechtigte lokalisieren, Gruppen mit geringem Einkommen gezielt ansprechen und Persönlichkeitsmerkmale analysieren und nutzen – den Ausschlag für den Gewinn des Leave-Lagers gegeben hat. Stimmt das?
Absolut. Das bestätigt inzwischen auch die Forschung. Die Leute scheinen zu vergessen, dass Big Data zuerst im militärischen Sektor angewendet wurde, bevor es zu einer Waffe wurde, die in falsche Hände geraten ist. Man muss nur 25 bis 40 Prozent einer Gruppe beeinflussen, um das Verhalten der gesamten Gemeinschaft zu verändern. Diese Strategie hat man in den vergangenen Jahren niemals besser erleben können als beim Brexit-Referendum und der Trump-Wahl. Das ist ein Multimillionen-Dollar-Geschäft, und Geld spielt dabei eine ebenso große Rolle, wie die Gefühle, die man damit kaufen kann.
Was hältst du von den Maßnahmen, die Großbritannien jetzt ergriffen hat: Bußgelder für Einzelne und für Facebook, Strafanzeigen und die Empfehlungen des parlamentarischen Untersuchungsausschusses? Gleichzeitig zeigt sich die Regierung nicht sehr bemüht, die Wahlgesetzgebung zu ändern. Hast du dafür eine Erklärung?
Diese Maßnahmen reichen nicht, auch nicht für die Zukunft. Die britische Demokratie ist schon lange kaputt, und dieser Umstand hilft einigen Leuten dabei, dafür zu sorgen, dass das noch einige Jahre so bleiben wird. Warum sollten sie daran etwas ändern wollen, wenn sie dadurch profitieren?
Manche sagen, dass es um Steve Bannon, den ehemaligen Trump-Berater, und seine Aktivitäten rund um eine Vernetzung der Europäischen Rechten einen Hype gibt. Wir sollten lieber gelassen bleiben im Hinblick auf die Europawahl im Mai 2019 und abwarten, ob seine Initiative überhaupt erfolgreich ist. Was sagst du dazu?
Da liegt eine Menge Arbeit vor uns, um die EU-Mitgliedsstaaten vor etwas zu schützen, was man als einen der größten offen angekündigten Faustschläge der Geschichte bezeichnen kann. Ich arbeite gerade an etwas, was damit zu tun hat, worüber ich noch nicht sprechen kann, aber Bannon stellt ein reales und relevantes Risiko dar – obwohl er auch nur eine Marionette ist von jemanden, der viel schlimmer ist.
Der Cyberangriff auf den Deutschen Bundestag 2015 konnte zwar bis nach Russland zurückverfolgt werden, wurde aber nicht als ein Akt eines Cyberkrieges eingestuft – auch weil es schwer ist, die Drahtzieher zweifelsfrei zu identifizieren. Hältst du das für angemessen? Im Dezember 2017 gab es einen weiteren Cyberangriff, diesmal auf das Außenministerium, das viel besser geschützt ist.
Ich verstehe, dass einzelne NATO-Mitglieder zögern, dafür Begriffe aus der Kriegsführung zu benutzen, weil sie wissen, dass man leicht eine Art der Angriffswaffe mit einer anderen Art austauschen kann. Das könnte uns zurück in den Kalten Krieg bringen – mit der Nuklearbedrohung, die allen noch präsent ist. Das Problem hat sich verstärkt, seitdem Russland in Amerika Erfolg hatte. Mit der Folge, dass sich die NATO-Alliierten voneinander entfernen und damit die Aussicht auf eine gemeinschaftliche NATO-Antwort abnimmt. Das ist schon eine ernstzunehmende Gefahr für den Frieden auf mittel- und langfristige Sicht.
Ich glaube trotzdem nicht, dass der beste Weg, damit umzugehen, eine Zug-um-Zug-Antwort wäre. Putin strebt Spaltung und Machtgewinn durch die Schaffung von Chaos an. Die wahre Aufgabe für Politiker ist, nicht nur nach einer Lösung zu suchen, wie man widerstandsfähiger gegen hybride Attacken wird, sondern auch zu lernen zusammenzuarbeiten, sodass der Unsinn aufhört, sich mit einem Bully auf Augenhöhe austauschen zu wollen. Man sollte Putin gemeinsam den Rücken kehren und damit Geschlossenheit demonstrieren.
Unter welchen Umständen würde die EU oder die NATO eine Cyberattacke als einen Kriegsakt begreifen?
Beim NATO-Gipfel in Wales 2014 hat die NATO (mit Artikel 5) die Möglichkeit geschaffen, Cyberattacken als einen militärischen Angriff zu betrachten, und ihren Mitgliedern damit eingeräumt, dafür den Allianzfall auszurufen, bei dem man auch konventionelle Abwehr einsetzen kann. Das heißt nicht, dass sie von Artikel 5 auch wirklich Gebrauch machen werden, was auch ein Blick auf die relativ gelassene Antwort zeigt, die nach dem Skripal-Fall – dem Anschlag mit einer Chemiewaffe auf britischem Boden – gegeben wurde. Es regiert noch der gesunde Menschenverstand. Das Problem, das NATO und EU haben, ist, dass ihre Verteidigung nur so gut sein kann, wie die ihrer Mitglieder. Dadurch, dass einige Mitglieder bereits durch eine hybride Kriegsführung der russischen Seite geschwächt sind und weiterhin attackiert werden, steigt die Aussicht auf mehr Geschlossenheit von EU und NATO. Das würde die Lage grundlegend verbessern.
Was rätst du den Deutschen und ihren Politikern im Hinblick auf kommende Wahlen, wie zum Beispiel die Wahl in Bayern im Oktober 2018 und die zum Europäischen Parlament im Mai 2019?
Deutschland kann sich glücklich schätzen, dass es schon einige wichtige Lehren gezogen hat. Holt einfach Luft, schaut zurück und rekapituliert das Gelernte noch einmal, damit ihr da gemeinsam durchkommt. Mit Politikern rede ich gerne jederzeit persönlich, weil ich meine Rolle als eine helfende verstehe, und derzeit bin ich in Großbritannien nicht ausgelastet.
J. J. Patrick wurde in New Forest in Südengland geboren und wuchs hauptsächlich in Derbyshire auf. Zehn Jahre lang war er Polizeibeamter. Er verließ den New Scotland Yard, nachdem er als Whistleblower dafür gesorgt hatte, dass das Parlament untersucht, wie die Polizei Straftatbestände manipuliert. Patrick wurde öffentlich auf höchster Ebene für seine Integrität gelobt. Er arbeitet jetzt freiberuflich als unabhängiger Journalist, Buchautor und Blogger.
*James Patrick hat inzwischen auch einen Film zum Thema bei YouTube veröffentlicht. Das gesamte Budget ist durch eine Crowdfunding-Aktion zusammengekommen. James findet es wichtig, dass möglichst viele Menschen die Möglichkeit haben, ihn anzuschauen, weil er dort zusammenfasst, woran er seit 2016 gearbeitet hat: Zu verstehen, wie Desinformationskampagnen funktionieren und wie sie demokratische Wahlen unterlaufen können. *
https://www.youtube.com/watch?v=A6gf5whRuQ0
Ich stelle in dieser dreiteiligen Serie vor, was wir über die Leave-Kampagnen im Brexit-Referendum wissen – mit welchen Methoden sie gearbeitet haben und welche Rolle Facebook dabei spielte. Im ersten Teil habe ich mir zuerst die technische Seite angesehen und die politischen Hintergründe zu den beteiligten Datenanalysefirmen erklärt. Im zweiten Teil geht es um die größere politische Dimension: Welche Geschichte haben politische Desinformationskampagnen – und was wissen wir darüber, welche Kräfte daran gearbeitet haben, dass die Idee des Brexits tatsächlich Realität wurde? Im dritten Teil erfährst du in einem Interview mit dem ehemaligen Polizisten und Investigativjournalisten James Patrick, welche Rolle Desinformationskampagnen innerhalb der hybriden Kriegsführung spielen.
Wenn ihr wissen wollt, welche Quellen ich verwendet habe, könnt ihr euch hier mein Rechercheprotokoll ansehen.
In dieser Trilogie zum Brexit und wie das Referendum manipuliert wurde, habe ich versucht, von der Technik über die Strategie bis zu den Akteuren ein möglichst komplettes Bild der Vorgänge rund um das Referendum zu zeichnen. Das Ganze ist sehr komplex, deshalb konnte ich nicht auf alle Aspekte ausführlich eingehen und nicht alle eure Fragen, die ihr mir im Vorfeld geschickt habt, beantworten. Eure Fragen haben mir aber sehr geholfen, die Texte zu schreiben und ich möchte mich an dieser Stelle herzlich dafür bedanken.
Vielleicht kann das Wissen um diese Ereignisse in Deutschland dazu beitragen, dass unsere Wahlen und Abstimmungen besser vor Manipulationen geschützt werden können. Und vielleicht hilft es auch den Briten, wenn andere Europäer mehr darüber wissen.
Redaktion: Theresa Bäuerlein; Schlussredaktion: Vera Fröhlich; Bildredaktion: Martin Gommel (Aufmacherfoto: Cynefin Road, Publisher).