Das Gefühl ist zurück in der Politik. Seit 2015 hat es sich bequem gemacht zwischen den Rednerpulten, Fernsehmikrofonen und Demonstrierenden: In Dresden haben Zehntausende aus Angst gegen Menschen demonstriert, die es bei ihnen in der Stadt kaum gibt: Ausländer. Man wollte Zustände wie in anderen Städten gleich von Anfang verhindern, hieß es. Ein paar Monate später gingen wieder Zehntausende auf die Straße, mit Europa-Fähnchen am Rucksack und Beethovens „Ode an die Freude“ auf den Lippen. Die Demo-Teilnehmer von Pulse of Europe hatten kein Programm, sie wollten einfach: ein Zeichen setzen.
Und nun, im Sommer 2018, hat der erfahrene bayerische Politiker Horst Seehofer einen Regierungsstreit vom Zaun gebrochen – über einen „Masterplan Migration“, den wochenlang niemand zu Gesicht bekommen hatte. Er kämpft für einen symbolischen Sieg über Angela Merkel, die sich nicht rundheraus von ihrer eigenen Flüchtlingspolitik distanzieren will. Es geht ihm um die Genugtuung, am Ende doch Recht gehabt zu haben.
Das Gefühl ist zurück in der Politik. Und einige glauben, dass es darauf nur eine Antwort geben kann: Appelle an die Vernunft, Versachlichung der Debatte, Fakten in die Diskussion schieben und immer wieder darauf hinweisen, wie wichtig der gepflegte, zivilisierte Austausch in der Demokratie sei. Die Vernunftbegabten versuchen, den guten Weg der Aufklärung zu gehen.
Aber heute, jetzt, sind es nicht diese Stimmen, die den Takt angeben, sondern politische Menschen wie Horst Seehofer, die nach Instinkt regieren – und nicht den Kopf, sondern den Bauch ihrer Wähler ansprechen. Sie gibt es in allen politischen Lagern, sie können gerade die Aufmerksamkeit ganzer Länder kapern, weil sie wild und störrisch ein Versprechen abgeben, dem die Bürger so dringend Glauben schenken wollen: Wir hören euch.
Die Sozialforschung zeigt, dass das ein kluger Weg sein kann. Er ist schlicht, aber mächtig: Wiederholen, was jemand gesagt hat, sein Denken und Fühlen spiegeln, und schon ist der Boden bereitet, auf dem Vertrauen wachsen kann. Deswegen können wir uns keine Politiker wünschen, die nur trocken referieren, was ihnen vorher die Mitarbeiter ins Mäppchen gelegt haben. Appelle an die Vernunft allein sind, nun ja, vernünftig. Bloß oft nicht sehr effektiv.
Horst Seehofer, das muss man ihm lassen, hat das erkannt und daraus auf die inkonsequenteste und unglaubwürdigste Art, die man sich denken kann, seine Schlüsse gezogen. Wenn über den sogenannten Asylstreit die Regierung gestürzt wäre, wenn er sein Amt verloren hätte und die CSU im Herbst ihre absolute Mehrheit, wäre er dagestanden wie der dümmste Politiker, der je die Ehre hatte, das schöne Bayern zu repräsentieren.
Das ist die eine Sicht.
Aber es gibt noch eine andere.
In dieser Regierungskrise kann man den Wahnsinn eines Westentaschenpopulisten erkennen – oder den polternden Totengräber eines politischen Systems, das im 20. Jahrhundert geboren wurde, dort auch starb, aber eben nie zur letzten Ruhe gebettet wurde. Horst Seehofer und die anderen Gefühls-Politiker, darin liegt die beißende Ironie, überführen gerade mit ihren einfachen Wahrheiten die Politik ihrer Länder ins Zeitalter der Komplexität. Sie zeigen, wie machtlos das alte System geworden ist, und stoßen so eine Wandlung an, die die nächsten Jahrzehnte prägen wird.
Kein Politiker traut sich, zu thematisieren, was alle sehen: die Machtlosigkeit der Mächtigen
Das alte System war immer einfach, immer übersichtlich mit seinen großen Volksparteien, Lagern und kleinen, klar definierten Flügeltruppen. Es passte zu einer Welt, die mit dem Industriezeitalter den Riesenorganisationen alle Macht gegeben hatte: den Großkonzernen, den Millionen-Parteien und den Nationalstaaten. Diese alten Autoritäten haben längst die Macht verloren, die ihnen ihre Größe mal verliehen hatte. Sie waren stark, gerade, weil sie den Anspruch hatten, den Willen möglichst vieler Menschen zu bündeln. Heute ist das ihr Nachteil. Denn die alten Autoritäten sind unglaubwürdig geworden und haben im Zeitalter der „authentischen“, persönlichen Kommunikation keine Wege, das Vertrauen zurückzugewinnen. Und selbst, wenn sie das könnten: Den Machtverlust könnten sie damit immer noch nicht ausgleichen. Weg ist weg.
Weil viele diesen Machtverlust spüren, und gleichzeitig die Probleme, die es anzugehen gilt, so komplex sind, tönt der emotionale Appell umso lauter. Das zeigt, wie schwierig die Situation ist – aber schwierig ist nicht gleichzusetzen mit „schlecht“.
Horst Seehofer hilft mit seinen Eskapaden dabei – er würde das wahrscheinlich weit von sich weisen – Deutschlands Parteiensystem an diese neue Wirklichkeit der Machtlosigkeit anzupassen. Für einen klitzekleinen symbolischen Sieg setzt er seine Regierung und den Wahlerfolg seiner Partei aufs Spiel. Weil sonst nichts mehr bleibt. Das ist Ohnmacht.
Bis heute gibt es keinen Politiker, der sich traut, seine eigene Machtlosigkeit ganz offen zu thematisieren. Horst Seehofer hat aber unfreiwillig und auf seine Art genau das getan. Das ist gut, denn in allen Lebensbereichen melden sich Menschen zu Wort, die in ganz besonderen Situationen stecken, und fordern Aufmerksamkeit ein, für die Diskriminierungen, die ihnen durch diese und jene Strukturen widerfahren. Sie wollen das System ändern. Nur jene, die ihre Gesellschaften anführen sollen, scheuen das ehrliche Wort gegenüber den Bürgern.
Wer in einem Kanzleramt oder einer Staatskanzlei sitzt, müsste eigentlich vor die Bürger treten und ihnen sagen, was sie sowieso schon spüren, sich aber nicht trauen auszusprechen: „Der Kampf gegen den Klimawandel ist verloren. Der Kampf gegen die Ungleichheit ist es, der Kampf gegen die Steuerhinterziehung durch Reiche und reiche Konzerne auch.” Denn seit 20 Jahren arbeiten Politiker daran, erlassen Gesetze und Regelungen, und sie wissen und wir Bürger wissen, dass sich nichts ändern wird, in einer Welt, die von Menschen mit globalem Blick gefüllt, aber von regionalen Strukturen regiert wird. Und trotzdem fordert kein sogenannter Mächtiger Reformen am System, um wieder Handlungsspielraum zu schaffen, um Klimakrise, Ungleichheit und Steuerhinterziehung wirklich zu bekämpfen. Das Gefühl kommt in die Politik zurück, weil die Macht verschwunden ist.
Lösungen haben wir genug, aber niemanden, der sie durchsetzen kann
Es gibt nur wenige Probleme in den westlichen Gesellschaften, für die wir nicht Lösungen parat hätten. In den Think Tanks, Ministerien, NGOs und Bürgergruppen sitzen viele kluge Menschen mit Plänen in den Schubläden, die man nur angehen müsste. Wenn man dann fragt, warum einfach nichts passiert, wieso davon nichts umgesetzt wird, fällt immer wieder das undurchsichtige Wort vom „politischen Willen“, der fehle. Da schaut man dann in die Parlamente und Regierungen, und dort tüfteln sie und tun, aber kommen auch nicht voran.
Die einen Bürger sehen das und können es nicht glauben, dass dieser Staat, der eine Armee und Polizisten, Millionen Bedienstete und die Gewalthoheit hat, so hilflos sein soll. Sie halten das Ganze für eine Finte und wittern eine Verschwörung, die genau dort ihren Sitz haben soll, wo die Macht nicht mehr ist. Die anderen sehen die hilflose Macht und wenden sich ab, ziehen sich zurück, kämpfen vielleicht kleine Kämpfe im Alltag, die wichtig sind für das eigene Seelenheil, aber am Ende auch wirkungslos.
Vielleicht aber fehlt nicht der politische Wille, sondern der Ort, an dem er sich entfalten kann. Diesen Ort kann man nicht für alle Länder ganz genau mit wenigen Worten bestimmen, aber in Deutschland nach Hitler lag er immer in den Parteien und Parlamenten, die gemeinsam das Kanzleramt mit Schlagkraft fütterten. Aber ist der Bundestag heute noch ein Kraftzentrum? Vielleicht ja, aber nicht mit diesen Parteien.
Im Sommer 2018 befindet sich die deutsche Politik in einer historisch einzigartigen Situation: Jede große Partei sucht gerade sich selbst. Wirklich jede.
Die Grünen wollen „strukturierende Kraft im progressiven Lager“ werden, so der Parteivorsitzende Robert Habeck, und sind dafür bereit, alte Überzeugungen beiseite zu schieben; weniger Milieu, weniger Verbissenheit. Sogar Gentechnik nicht rundheraus abzulehnen, scheint jetzt möglich zu sein. Aber klappt das?
Die SPD ist eine Arbeiterpartei, die die Arbeiter verliert und es nicht schafft, auf die einfache Frage, wozu es sie heute dann noch braucht, eine einfache Antwort zu geben.
Die FDP schwankt zwischen globalem Neoliberalismus und nationaler Klamotte; ein Widerspruch, über den sie nur dank ihres charismatischen Chefs Christian Lindner gerade so hinwegtäuschen kann.
Die Linkspartei unter Sarah Wagenknecht will eine national orientierte linke Sammlungsbewegung starten, während die Linkspartei unter Katja Kipping sich als fortschrittliche Weltbürger gibt und von dieser Idee gar nichts hält.
Die CDU ist eine Christenpartei, die die Christen verliert; das fiel bisher aber noch nicht so auf, da es ihr unter Angela Merkel gelungen ist, völlig neue Milieus für sich zu gewinnen, die aber wieder abspringen, wenn Politiker wie Jens Spahn den Ton angeben.
Die CSU hat sich in diesem Sommer als bayerische Partei in einem rechtskonservativen Thema verrannt, das von Bayern aus nicht geregelt werden kann. Sollte sie sich auf das ganze Bundesgebiet als rechtskonservative Partei ausdehnen (müssen), wird sie aber keine bayerische Partei bleiben.
Und selbst die AfD, die jüngste Partei, irrlichtert. Als Anti-Parteien-Partei gegen den „Mainstream“ gegründet, hat sie auf dem letzten Parteitag beschlossen, sich ebenso wie alle anderen aus Staatsgeldern für ihre Stiftung zu bedienen. Unterdessen hat ihr Parteichef in bester neoliberaler Manier gefordert, die Rente, so wie wir sie kennen, komplett abzuschaffen. Während der rechtsradikale Flügel um Björn Höcke das Rentenniveau anheben will.
Die Inhalte der Parteien ändern sich und ihre Idee von Macht
Es ist Bewegung drin; linke Konzepte finden sich rechts und rechte links und in den Parteien treten Widersprüche immer deutlicher zutage; es wird zunehmend komplizierter, da zu folgen. Genauso, wie es schwieriger wird, den Überblick in dieser wilden Welt zu behalten.
Die Parteien rucken und rütteln so lange, bis sie einen Platz gefunden haben. Einige von ihnen werden verschwinden. Vielleicht werden neben der AfD neue politische Gruppen auftreten, deren Konturen heute nur schemenhaft erkennbar sind. Das wird solange gehen, bis sich in den Parlamenten all jene kleinen Teile der Gesellschaft wiederfinden, die sich an wirklich jedem anderen öffentlichen Ort schon längst ihren Platz erkämpft haben. Dann kann der Bundestag wieder die Bühne des Volkes sein.
Aber das ist nur ein Aspekt des großen Umbruchs, den der tragikomische Narr Horst Seehofer mit seiner Gemütspolitik jedem, der es sehen will, vor Augen führt. Denn jede Partei sucht auch nach anderen Wegen, Politik zu machen. Mehr Volksabstimmungen, mehr Direktwahl von Kandidaten, mehr Einfluss der Mitglieder auf inhaltliche Entscheidungen, Liquid Democracy, „Bewegung“ werden, Bewegung sein, Programm-Tourneen, offenere Schnittstellen zu parteinahen Bewegungen, pan-europäische Listen, neuer deutscher Verfassungskonvent, neuer europäischer Verfassungskonvent, offene Wahllisten, Online-Foren, mehr Macht auf EU-Ebene, mehr Macht zurück in die Nationalstaaten. Die Liste ist lang und unübersichtlich, und das ist gut so. So werden die deutschen Parteien nicht nur inhaltlich dieser Welt ähnlicher, sondern auch äußerlich.
Unter all den Versuchen verbirgt sich, da müssen wir auf die Wahrscheinlichkeit vertrauen, ein Volltreffer, der uns vergessen lässt, dass wir jemals den „politischen Willen“ suchen mussten. Wir werden es vergessen, weil dessen Ort jeder kennen wird und wir keinen Narr mehr brauchen, der die Selbstverständlichkeit ausspricht.
Und dann wird auch die Zeit der Vernünftigen wieder gekommen sein. Die die Macht lenken und kneten können, in mal mehr, mal weniger einleuchtende Politik, die nicht laut tönen brauchen, weil sie die Fakten auf ihrer Seite haben. Dann aber wird dieses neue komplexe System so lange existiert haben, dass es uns schon wieder einfach erscheint.
Im Krautreporter Podcast „Verstehe die Zusammenhänge“ spricht Martin Gommel mit Rico Grimm über ihren Artikel:
Der Erfolg des Horst Seehofer? Wie kam es zu dieser Artikelüberschrift? Das erfährt Martin Gommel im Gespräch mit Chefredakteur Rico Grimm. Die beiden sprechen über politischen Wandel, die Machtloskeit der Mächtigen und warum es so wichtig ist, über das Parteien-System hinaus zu denken.
Redaktion: Esther Göbel. Schlussredaktion: Vera Fröhlich. Fotoredaktion: Martin Gommel (Aufmacher-Foto: Michael Lucan, Wikipedia, Lizenz: CC-BY-SA 3.0 de).