Auch ihr habt genug von populistischen Provokationen – worüber Deutschland sonst noch reden könnte

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Auch ihr habt genug von populistischen Provokationen – worüber Deutschland sonst noch reden könnte

In der vergangenen Woche haben wir KR-Redakteure Vorschläge für eine Politik gemacht, die sich nicht von populistischen Zuspitzungen treiben lässt. Viele von euch hatten auch Ideen. Hier veröffentlichen wir eine kleine Auswahl.

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Reporter

Elf Themen haben wir als Krautreporter-Redaktion für euch aufgeschrieben – es hätten deutlich mehr sein können. Unsere ursprüngliche Themenliste umfasste mehr als doppelt so viel Probleme und Lösungsansätze.

Ihr, die Community, seid unseren Aufruf zur Diskussion gefolgt. Über die Facebook und Twitter, in der Kommentarspalte neben dem Artikel und über die KR-Umfrage habt ihr uns fast 40 weitere Themen genannt, über die wir dringend reden sollten. Hier sind sechs davon:

1. Zeigen wir Deutschland sein Alkoholproblem

Alkoholwerbung ist überall in der Öffentlichkeit zu sehen, auch im Fernsehen flimmern häufig Bierwerbungen über den Bildschirm. Das deutsche Alkoholproblem sitzt tief, denn die Lobbyarbeit der Branche ist stark.

Das zeigt sich in Deutschland vor allem an der unheiligen Allianz zwischen Alkoholindustrie und dem Sport – bei nahezu jedem Sportevent werben Biersorten für ihre neuesten Produkte, nach Meisterschaften oder Pokalsiegen sehen auch Kinder ihre Idole oft Bierduschen verteilen. So wird Alkohol gesellschaftlich immer salonfähiger gemacht. Horst

2. Mehr Degrowth wagen

Wir haben Geld und Zeug wie Heu, unser materieller Wohlstand ist so groß wie noch nie; die Regale in den Läden quillen über, die Sachen kommen uns aus den Ohren raus und machen uns kirre. Wir haben die Wahl zwischen 37 Joghurtsorten und 999 Fernsehsendern. Alle zwei Jahre bescheren uns unsere Verträge neue Smartphones. In Deutschland landet etwa ein Drittel aller Lebensmittel im Müll. Ach ja, und der neueste Skandal für alle, die dachten, geplante Obsoleszenz sei schon der Gipfel: 30 Prozent der Retouren an Amazon und Co. werden einfach weggeschmissen, weil das billiger ist, als sie zu lagern. Mehr Infos sowie eine Petition, wenn ihr euch gegen diese Verschwendung einsetzen wollt, findet ihr hier.

Weltweit besitzen acht Menschen so viel wie die Hälfte der Bevölkerung, in Deutschland sind es 45 Männer und Frauen. 82 Prozent des weltweiten Vermögenszuwachses gehen an das reichste ein Prozent der Bevölkerung. In Deutschland liegt das Topgehalt 6.000 Mal höher als der Mindestlohn, in den USA beträgt der Faktor 360.000.

Die Finanzwirtschaft ist um ein Vielfaches größer als die Realwirtschaft. Große, unglaublich mächtige Unternehmen wie Amazon, Starbucks und Apple zahlen kaum Steuern. Das zinsbasierte Geldsystem lässt das Geld dorthin fließen, wo es schon ist. Wir leben im völligen Überfluss, er ist nur völlig ungleich verteilt (global gesehen sowieso, aber zunehmend auch innerhalb der reichen Länder). Wir brauchen also massive Umverteilung, das Bedingungslose Grundeinkommen wäre dafür ein guter Anfang. Außerdem braucht es Anreize für ökologisch nachhaltiges Verhalten bei Verbrauchern und in Unternehmen, da wir unseren Energieverbrauch drastisch senken müssen angesichts von Klimawandel und Ressourcenknappheit. Deshalb Degrowth – raus aus dem Wachstumswahn, rein ins gute Leben für alle!

Seit 2009 fordert übrigens eine Gruppe von deutschen Millionären die Wiedereinführung der Vermögensteuer. Auf diese Weise könnten viele Milliarden in die Staatskasse, also zur Allgemeinheit, fließen. Dorothea

3. Erarbeiten wir ein Konzept für die Demokratie von unten

Wir sind doch erwachsen, oder? Warum lassen wir uns als politische Menschen wie Kinder behandeln? Es bringt doch alles nichts, wenn wir bei politischen Entscheidungen außen vorgelassen werden und nicht etwa unsere Einbindung fordern, sondern uns faul aus der Debatte herauszuhalten und in unserer eigenen Bequemlichkeit dumpf werden. Wir müssen endlich verstehen, dass nur mit den eigenen Debattenbeiträgen und der eingebrachten Arbeit Lösungen entstehen können, die gemeinsam umgesetzt werden können.

Wie könnte also eine Demokratie von unten aussehen?

  1. Für jedes Vorhaben aller Parlamente, egal ob auf Kommunal-, Landes- oder Bundesebene, ein Mitwirkungsforum aufsetzen
  2. Pro und Contra debattieren und eventuell alternative Vorschläge entwickeln
  3. Abstimmen (online, bei strittigen oder manipulationskritischen Fragen auch in selbstorganisierten Ad-hoc-Papierabstimmungen)
  4. Die Ergebnisse in zusammengefassten Wortbeiträgen und in Abstimmungszahlen an die jeweiligen Abgeordneten leiten und zahlreich darum bitten, dass das Votum der Menschen berücksichtigt wird
  5. Von den Abgeordneten, die das Votum nicht berücksichtigen, öffentliche begründete Erklärungen verlangen
  6. Die Abgeordneten, die zu oft gegen die Debattenergebnisse gestimmt haben, beim nächsten Mal nicht mehr wählen
  7. Wiederholen. Magnus

4. Schaffen wir autofreie (Innen-)Städte

Wir brauchen endlich Innenstädte ohne Autos, vor allem ohne SUVs. Um das zu schaffen, könnten die Kommunen Fahrspuren reduzieren, Sperrzonen einrichten, Parkplätze bei gleichzeitigem Ausbau von Fahrradwegen zurückbauen. Die freiwerdenden Flächen könnten für Urban Gardening oder zum Bau von Gemeinschaftsorten genutzt werden.

Das Problem Klimawandel kann anscheinend in Angriff genommen werden, ohne viel zu verändern. Die Autolobby ist glücklich, die Verbraucher können so weitermachen wie bisher und die Politik kann es allen recht machen. Leider löst der Umstieg vom Verbrenner zum Elektromotor nichts. Das eigentliche Problem, der motorisierte Individualverkehr und die damit einhergehende unglaubliche Ressourcenverschwendung kann nur durch die drastische Reduzierung von Pkw (Suffizienz!) angegangen werden.

Außerdem macht es den Eindruck, als würden „die Autofahrer“ immer rücksichtsloser. Eigentlich befinden wir uns in einer Spirale der Rücksichtslosigkeit, nur dass die Fußgänger und Radfahrer den Kürzeren ziehen. Auch dieses Problem könnte durch eine Reduzierung des motorisierten Individualverkehrs gelöst werden. Christopher und Benjamin

5. Führen wir das Bedingungslose Grundeinkommen oder eine Alternative dazu ein

Die Diskussion über die Wertigkeit von Arbeit, das Grundeinkommen und die Profitmaximierung in Bereichen wie Alter und Gesundheit kommt viel zu kurz. Wir könnten ein steuerfinanziertes Grundsicherungspaket, bestehend aus dem bedingungslosem Grundeinkommen (1.100 Euro monatlich für Erwachsene und 500 Euro für Kinder und Jugendliche bis 18 Jahre) und einer Kranken- und Pflegeversicherung einführen. Außerdem sollte der Staat mehr Verantwortung für Arbeitsmarkt und Beschäftigung übernehmen.

Das sorgt für eine Verbesserung der Lebensbedingungen und Lebensperspektiven durch Abwehr von Alters- und Kinderarmut und schafft die Möglichkeit zur verlässlichen Lebens- und erleichterter Familienplanung. Außerdem werden unbezahlte Haus- und ehrenamtliche Sozial- und Kulturarbeit aufgewertet, eine stabile Finanzierungsgrundlage für Ausbildung, Studium und Weiterbildung geschaffen sowie die Selbstbestimmung über den Einsatz der Arbeitskraft gestärkt. Ein letzter Punkt hierzu: Der Trend zur Zwei-Klassen-Gesundheitsversorgung, die ein materielles Fundament für das immaterielle Grundrecht der Menschenwürde darstellt, wird umgekehrt. Silke und Robert

6. Stärken wir den europäischen Zusammenhalt

Europa stärken! Die oft gehörte Floskel mit Leben füllen und die Themen gemäß Subsidiarität in die europäische Verantwortung übergeben. Beispiele sind Verteidigung, Besteuerung globaler Konzerne, Klimaschutz und Migration. Gleichzeitig sollte Europa demokratisch besser erfahrbar werden.

So können aktuelle nationale Trends, die für diese Themen keine oder unzureichende Antworten liefern, umfassender gelöst werden können. Ich glaube, dass Europa nur eine Zukunft hat, wenn man sich und die aktuellen großen Probleme repräsentiert fühlt. Dort ist ein großes Loch, europäische Politik wird als Hemmschuh wahrgenommen. Dabei weiß die Mehrheit, wie wichtig Europa für den Frieden und für die Beantwortung globaler Fragen ist. Axel


Redaktion: Rico Grimm. Schlussredaktion: Vera Fröhlich. Bildredaktion: Martin Gommel (Aufmacherbild: unsplash / Daan Stevens).