Wie sich Weltpolitik mit Bergen, Flüssen und Stürmen erklären lässt

© Pixabay

Nachrichten, erklärt

Wie sich Weltpolitik mit Bergen, Flüssen und Stürmen erklären lässt

Alle Regierungen, alle Staatschefs unterliegen den Zwängen der Geographie. Um Geschichte und Politik zu verstehen, muss man die Landschaft mit einbeziehen. Deswegen veröffentlichen wir das entscheidende Kapitel aus dem Buch „Die Macht der Geographie“, das KR-Mitglied Lotta gefunden und uns empfohlen hat.

Profilbild von Tim Marshall

In der Offline-Welt da draußen, aber auch im Netz selbst gibt es zahlreiche journalistische und wissenschaftliche Perlen, die wir gerne entdecken möchten. Im KR-Buchklub empfehlen Leser und Redakteure ihre Lieblingsbücher, Vorträge, Essays oder Reportagen. Wir veröffentlichen einen Auszug daraus und laden euch ein, in den Kommentaren darüber zu diskutieren.

Für Lotta, 18 Jahre alt, hat Marshalls Buch viele Vorzüge: „Sehr sehr spannend, man versteht viele Zusammenhänge, aber dazu noch gut, easy-going geschrieben.“


Wladimir Putin bezeichnet sich als religiösen Menschen, als engagiertes Mitglied der Russisch-Orthodoxen Kirche. Es könnte also gut sein, dass er, wenn er abends zu Bett geht, seine Gebete spricht und Gott fragt: „Warum hast du nicht ein paar Berge in die Ukraine gestellt?“

Hätte Gott in der Ukraine Berge geschaffen, dann würde das ausgedehnte Flachland der nordeuropäischen Tiefebene nicht zu Angriffen auf Russland einladen, wie es mehrfach der Fall war. So wie es ist, bleibt Putin keine Wahl: Er muss zumindest versuchen, die Ebene im Westen zu kontrollieren. So ergeht es allen Staaten der Welt, seien sie klein oder groß. Die Landschaft nimmt die Regierungschefs gefangen, lässt ihnen weniger Optionen und Raum für Manöver als man denkt. Dies galt für das Athener Imperium, für die Perser wie die Babylonier und frühere Reiche. Es traf auf alle Führer zu, die auf hoch gelegenes Gelände aus waren, um ihren Stamm zu schützen.

Seit jeher hat uns das Land, auf dem wir leben, geformt. Es hat die Kriege, die Macht, die Politik und die gesellschaftliche Entwicklung der Völker geformt, die mittlerweile nahezu jeden Teil der Erde bewohnen. Technologien überwinden scheinbar die mentalen wie räumlichen Entfernungen zwischen uns, sodass leicht vergessen wird, dass das Land, in dem wir leben, arbeiten und unsere Kinder aufziehen, höchst bedeutsam ist und dass die Entscheidungen derer, die die sieben Milliarden Bewohner dieses Planeten führen, in gewissem Maße schon immer durch die Flüsse, Berge, Wüsten, Seen und Meere, die uns alle eingrenzen, geformt werden.

Klima und Landschaft sind politische Faktoren

Es gibt keinen einzelnen geographischen Faktor, der wichtiger ist als irgendein anderer. Berge sind nicht wichtiger als Wüsten, Flüsse nicht wichtiger als Dschungel. In den unterschiedlichen Gebieten der Erde sind es unterschiedliche geographische Merkmale, die zu den dominanten Faktoren gehören, die bestimmen, was Menschen tun können und was nicht.

Allgemein gesagt: Geopolitik zeigt auf, wie internationale Angelegenheiten vor dem Hintergrund geographischer Faktoren zu verstehen sind. Dabei geht es nicht nur um die tatsächliche Landschaft – die natürlichen Barrieren durch Berge oder die Verbindungen durch Flusssysteme beispielsweise –, sondern auch um Klima, Demographie, Kulturregionen und den Zugang zu natürlichen Ressourcen. Solche Faktoren können erhebliche Auswirkungen auf viele Bereiche unserer Zivilisation haben, von politischen und militärischen Strategien bis hin zur Entwicklung der menschlichen Gesellschaft samt Sprache, Handel und Religion.

Die physischen Realitäten, die der nationalen und internationalen Politik zugrunde liegen, werden zu oft außer Acht gelassen – sowohl bei der Geschichtsschreibung als auch bei der aktuellen Berichterstattung aus aller Welt. Geographie ist eindeutig ein grundlegender Teil des „Warum“ und auch des „Was“. Sie ist vielleicht nicht der bestimmende Faktor, aber ganz sicher jener, der am häufigsten übersehen wird.

Nehmen wir zum Beispiel China und Indien: zwei gewaltige Länder mit einer riesigen Bevölkerung, die eine sehr lange gemeinsame Grenze haben, aber weder politisch noch kulturell auf einer Linie sind. Es würde also nicht überraschen, wenn sich diese beiden Giganten mehrere Kriege geliefert hätten – doch das haben sie, abgesehen von einer einen Monat dauernden Auseinandersetzung 1962, nicht getan. Warum? Weil zwischen ihnen die höchste Gebirgskette der Welt liegt und es praktisch unmöglich ist, mit großen Militärkolonnen durch oder über den Himalaja vorzustoßen. Mit immer ausgefeilteren Technologien werden natürlich auch Möglichkeiten eröffnet, dieses Hindernis zu überwinden, aber die physische Barriere bleibt eine Abschreckung. Deshalb konzentrieren sich beide Länder bei ihrer Außenpolitik auf andere Regionen, während sie einander argwöhnisch im Auge behalten.

Hindukusch, Himalaya oder der Fluss Ibar setzen der Kriegsführung natürliche Grenzen

Einzelne Führungspersönlichkeiten, Vorstellungen, Technologien und andere Faktoren spielen alle eine Rolle bei der Ausformung von Ereignissen, aber sie sind vergänglich. Jede neue Generation steht wiederum vor der physischen Blockade, die Hindukusch und Himalaja darstellen. Das Gleiche gilt für die Herausforderungen durch die Regenzeit und die Nachteile aufgrund des beschränkten Zugangs zu Bodenschätzen oder Nahrungsquellen. Mein Interesse an diesem Thema wurde geweckt, als ich in den 1990ern über die Kriege auf dem Balkan berichtete. Ich konnte aus nächster Nähe beobachten, wie die Führer verschiedener Völker, seien es Serben, Kroaten oder Bosnier, ihre „Stämme“ in dieser von Vielfalt gekennzeichneten Region mit voller Absicht an alte Spaltungen und ein uraltes Misstrauen erinnerten. Sobald es ihnen gelungen war, die Völker auseinanderzubringen, war es ein Leichtes, sie gegeneinander aufzubringen.

Der Fluss Ibar im Kosovo ist ein sehr gutes Beispiel. Die osmanische Herrschaft über Serbien wurde mit der Schlacht auf dem Amselfeld 1389 gefestigt. In der Nähe liegt die Stadt Mitrovica, durch die der Ibar fließt. Im Laufe der folgenden Jahrhunderte begann sich die serbische Bevölkerung auf die andere Seite des Ibar zurückzuziehen, als muslimische Albaner aus der Bergregion Malësia e Madhe nach und nach in das Kosovo einwanderten, wo sie bis Mitte des 18. Jahrhunderts zur Mehrheit wurden.

Nun ein Zeitsprung ins 20. Jahrhundert: Nach wie vor bestand eine klare ethnische und religiöse Spaltung, die in etwa durch den Fluss markiert wurde. 1999 zog sich das jugoslawische (serbische) Militär, bombardiert von der NATO aus der Luft und der UÇK am Boden, hinter den Ibar zurück, rasch gefolgt vom Großteil der noch vorhandenen serbischen Bevölkerung. Der Fluss wurde de facto zur Grenze dessen, was einige Länder heute als unabhängige Republik Kosovo anerkannt haben.

Mitrovica war auch der Ort, wo der Vormarsch der NATO-Bodentruppen stoppte. Während des dreimonatigen Kriegs hatte es versteckte Drohungen gegeben, die NATO plane, ganz Serbien zu besetzen. In Wahrheit bedeuteten die Einschränkungen sowohl durch die Geographie als auch durch die Politik, dass diese Möglichkeit der NATO-Führung nicht unbedingt offenstand. Ungarn hatte deutlich gemacht, dass es eine Invasion von seinem Gebiet aus nicht erlauben würde, weil man Repressalien gegen die 350.000 ethnischen Ungarn in Nordserbien fürchtete. Die Alternative wäre eine Invasion von Süden her gewesen, was die NATO doppelt so schnell an den Ibar gebracht hätte, aber dieser standen die Berge oberhalb der Stadt entgegen.

Ich arbeitete damals mit einem serbischen Team in Belgrad und fragte, was passieren würde, wenn die NATO käme. „Wir legen unsere Kameras weg und nehmen uns Gewehre, Tim“, lautete die Antwort. Es handelte sich um liberale Serben, gute Freunde von mir, die in Opposition zu ihrer Regierung standen, aber sie holten trotzdem Karten hervor und zeigten mir, wo die Serben ihr Territorium in den Bergen verteidigen würden und wo die NATO sich festfahren würde. Es war einigermaßen beruhigend, anhand dieser Geographielektion zu erfahren, dass die Möglichkeiten der NATO begrenzter waren, als die Brüsseler PR-Maschine zugab.

Sandstürme und Regenfluten bestimmten den Afghanistan-Krieg mit

In den folgenden Jahren kam mir das auf dem Balkan erworbene Verständnis, wie entscheidend die Beschaffenheit der Landschaft war, bei der Berichterstattung zugute. Beispielsweise merkte ich 2001, ein paar Wochen nach dem 11. September, wie sehr, selbst bei heutiger moderner Technologie, das Klima immer noch die militärischen Möglichkeiten sogar der mächtigsten Armee der Welt beherrscht. Ich war mit einem Schlauchboot über den Grenzfluss von Tadschikistan nach Nordafghanistan gekommen, um zu den Truppen der Nordallianz (NA) aufzuschließen, die gegen die Taliban kämpften.

Die amerikanischen Kampfflugzeuge und Bomber waren bereits in der Luft und beschossen Taliban- und al-Qaida-Stellungen in den kalten, staubigen Ebenen und Hügeln östlich von Masar-e Scharif, um den Weg für den Vormarsch auf Kabul zu ebnen. Nach ein paar Wochen machte sich die NA offensichtlich bereit, nach Süden vorzustoßen. Doch dann veränderte die Welt plötzlich ihre Farbe.

Es kam der heftigste Sandsturm auf, den ich je erlebt habe, und überzog alles mit senfgelber Farbe. Selbst die Luft um uns herum schien diese Farbe zu haben, so voll war sie mit Sandpartikeln. 36 Stunden lang bewegte sich nichts mehr außer dem Sand. Als der Sturm seinen Höhepunkt erreicht hatte, konnte man nur ein paar Meter weit sehen, und klar war einzig, dass der Vormarsch das Wetter abwarten musste.

Die amerikanische Satellitentechnologie, eine Speerspitze der Wissenschaft, war nutzlos, das Klima in diesem wilden Land hatte sie blind gemacht. Alle, von Präsident Bush und den Joint Chiefs of Staff bis hin zu den NA-Truppen am Boden, konnten nur warten. Dann regnete es, und der Sand, der auf allem und jedem lag, verwandelte sich in Matsch. Der Regen war so stark, dass die Lehmziegelhütten, in denen wir hausten, zu zerfließen drohten. Erneut war klar, dass ein Vorstoß nach Süden unmöglich war. Die Gesetze der Geographie, die bereits Hannibal, Sunzi und Alexander der Große kannten, gelten für die heutigen Führer noch genauso.

Grenzziehung am Schreibtisch bringt nur Probleme mit sich

Die Geopolitik betrifft alle Länder, sei es im Krieg, wie in diesen Beispielen, oder im Frieden. In jeder einzelnen Region lassen sich Beispiele dafür finden. In Russland sehen wir den Einfluss der Arktis und wie das eisige Klima dort Russlands Möglichkeiten einschränkt, zu einer echten Weltmacht zu werden. In China erkennen wir, dass die Macht ohne eine global agierende Marine Beschränkungen unterliegt – und mittlerweile ist deutlich zu erkennen, mit welcher Geschwindigkeit China dies ändern will. Die USA haben bewiesen, wie kluge Entscheidungen zur Erweiterung des Territoriums in Schlüsselregionen es den Vereinigten Staaten möglich machten, ihre heutige Position als Supermacht an zwei Weltmeeren zu erlangen. Europa zeigt uns den Vorteil von Tiefebenen und schiffbaren Flüssen beim Aufbau von Verbindungen zwischen den Regionen und der Entwicklung einer Kultur, die den Anschub der modernen Welt ermöglichte, während Afrika ein Paradebeispiel für die Auswirkungen der Isolation ist.

Der Nahe Osten demonstriert, warum das Ziehen von Linien auf Landkarten ohne die Berücksichtigung der Topographie und, ebenso wichtig, der geographischen Kulturen eines Gebiets nur Probleme mit sich bringen kann. Probleme, die uns in diesem Jahrhundert weiterhin begleiten werden. In Afrika und Indien/Pakistan ist das ähnlich. Die Kolonialmächte zogen auf dem Papier künstliche Grenzen und kümmerten sich überhaupt nicht um die physischen Gegebenheiten der Region. Heute werden blutige Versuche unternommen, sie zu korrigieren; das wird noch einige Jahre andauern, und danach wird die Karte der Nationalstaaten nicht mehr so aussehen wie heute.

Ganz anders als die Beispiele Kosovo oder Syrien sind Japan und Korea, da sie ethnisch überwiegend homogen sind. Allerdings haben sie andere Probleme: Japan ist ein Inselstaat ohne natürliche Ressourcen, während die Teilung von Korea ein Problem ist, das noch auf eine Lösung wartet. Lateinamerika hingegen ist eine Anomalie. Sein äußerster Süden ist so abgeschnitten von der übrigen Welt, dass ein globaler Handel schwierig ist, und die Geographie im Inneren des Kontinents steht der Schaffung eines erfolgreichen Handelsblocks nach EU-Vorbild entgegen.

Und die Arktis? Die längste Zeit haben die Menschen die Arktis ignoriert, aber im 20. Jahrhundert haben wir dort Energiequellen entdeckt, und die Diplomatie des 21. Jahrhunderts wird festlegen, wer Eigentümer dieser Ressourcen ist – und sie verkaufen kann.

Die Geographie als maßgeblichen Faktor für den Verlauf der menschlichen Geschichte anzuerkennen, kann auch als pessimistische Weltsicht interpretiert werden, weshalb dies in manchen intellektuellen Kreisen wenig beliebt ist. Denn es legt nahe, dass die Natur stärker als der Mensch ist und wir nur ein Stück weit Herren unseres Schicksals sind. Sicherlich haben eindeutig auch andere Faktoren Einfluss auf den Gang der Ereignisse.

Jeder vernünftige Mensch kann sehen, dass die moderne Technologie dabei ist, die ehernen Regeln der Geographie zu brechen. Sie hat Wege über, unter oder durch einige der Barrieren gefunden. Die Amerikaner können jetzt bei einer Bombermission die gesamte Strecke von Missouri nach Mossul fliegen, ohne unterwegs eine Betonpiste zum Auftanken zu benötigen. Dadurch und durch ihre zum Teil autarken großen Flugzeugträgerkampfverbände brauchen sie nicht mehr unbedingt einen Verbündeten oder eine Kolonie, um ihre Reichweite weltweit auszudehnen. Natürlich gibt es noch mehr Optionen für sie, wenn sie einen Flugzeugstützpunkt auf der Insel Diego Garcia haben oder ihnen der Hafen in Bahrain immer offen steht, aber dies ist keine Voraussetzung mehr.

Die Luftfahrt hat also die Regeln verändert, und ebenso – auf andere Weise – das Internet. Aber die Geographie und die Geschichte, wie Staaten sich in dieser Geographie etabliert haben, bleiben wesentlich für unser Verständnis der heutigen Welt und unserer Zukunft.

Die Konflikte im Irak und in Syrien wurzeln darin, dass Kolonialmächte die Regeln der Geographie missachtet haben, während die chinesische Besetzung von Tibet dem Gegenteil zuzuschreiben ist. Die amerikanische Außenpolitik weltweit wird von ihnen bestimmt, und selbst das technische Genie und der Machteinsatz der letzten existierenden Supermacht können die Regeln, die die Natur – oder Gott – uns gegeben hat, höchstens abschwächen.


In „Die Macht der Geographie“ erläutert Tim Marshall (übersetzt von Birgit Brandau), welche geographischen Gegebenheiten Russland, China, die USA, Europa, Afrika, Lateinamerika, den Nahen Osten, Indien und Pakistan, Japan und Korea, die Arktis und Grönland bestimmen.

dtv

Redaktion: Susan Mücke. Schlussredaktion: Vera Fröhlich. Bildredaktion: Martin Gommel (Aufmacherfoto: Pixabay).

Wie sich Weltpolitik mit Bergen, Flüssen und Stürmen erklären lässt

0:00 0:00

Einfach unterwegs hören mit der KR-Audio-App