Eigentlich haben Interviews mit dem EU-Abgeordneten Martin Sonneborn einen meist satirischen Tonfall. Mit viel Ironie nimmt er das politische Establishment und die rechten Populisten auf die Schippe, und am Ende weiß man selten, ob da der von den Bundesbürgern ins EU-Parlament gewählte Politiker spricht oder der frühere Chefredakteur des Satiremagazins Titanic.
Als ich ihn heute anrufe, ist sein Tonfall aber ungewöhnlich ernst. Es geht um eine geplante Reform des europäischen Wahlrechts. Auch bei den Wahlen zum EU-Parlament soll es künftig wieder eine Hürde geben, die kleinen Parteien den Zugang zum Parlament versperrt. Und hier ist für Sonneborn offenbar der Spaß vorbei.
„Der Vorgang, dass Deutschland auf 27 Staaten Druck ausübt, ist demokratieschädlich“, sagt er, als ich mit ihm am Telefon über das Vorhaben spreche. „CDU und SPD haben Angst davor, wegen der zu erwartenden Stimmgewinne der AfD Sitze zu verlieren. Anstatt bessere Politik zu machen, bedienen sie sich nun eines Verwaltungstricks, um die kleineren Parteien herauszudrängen.“
Zweimal kippte das Bundesverfassungsgericht die Sperrklausel
Was Sonneborn Sorgen macht, heißt im Juristendeutsch „Sperrklausel“. Die kennt man in Deutschland von Bundestagswahlen: Parteien, die weniger als fünf Prozent der Zweitstimmen erhalten, dürfen nicht ins Parlament einziehen.
Auch bei Europawahlen gab es lange Zeit eine Sperrklausel. Die lag bis zur Wahl im Jahr 2009 ebenfalls bei fünf Prozent für alle Parteien, die sich in Deutschland zur Wahl stellten. Derzeit gibt es keine Hürde für die kleinen Parteien. Das hat eine rechtliche Vorgeschichte, die für viele Schlagzeilen sorgte. Im Jahr 2011 erklärte das Bundesverfassungsgericht die Fünf-Prozent-Hürde bei Europawahlen für verfassungswidrig.
Im Juni 2013, weniger als ein Jahr vor der nächsten Europawahl, beschloss der Bundestag mit den Stimmen von Union, SPD, FDP und Grünen die Einführung einer Drei-Prozent-Hürde. Dagegen zogen mehrere kleine Parteien erneut vor das Bundesverfassungsgericht. Am 26. Februar 2014 kippten die Richter auch die Drei-Prozent-Hürde.
Bei der Europawahl im Mai 2014 gab es dann tatsächlich keine Sperrklausel mehr. Die Folge war, dass insgesamt 14 Parteien Abgeordnete ins EU-Parlament entsenden konnten. Zum Beispiel die ÖDP, die Tierschutzpartei, die NPD, die Freien Wähler, die Familien-Partei, die Piraten. Und auch „Die Partei“ von Martin Sonneborn.
Nun soll eine neue Hürde für kleine Parteien kommen
Wenn es nach dem Willen der Bundesregierung geht, soll sich das bei der kommenden Europawahl im Mai 2019 nicht wiederholen. Normalerweise wird das EU-Wahlrecht auf nationaler Ebene geregelt. Für jedes einzelne Land separat. Union und SPD haben nun auf europäischer Ebene eine Neuregelung des EU-Wahlrechts vorangetrieben, es soll künftig wieder eine Sperrklausel geben. Die könnte zwischen zwei und fünf Prozent liegen. Bis zum 26. Mai müssen die Regierungen der EU-Mitgliedsländer einen gemeinsamen Beschluss fällen. Und derzeit sieht es so aus, als ob die neue Regelung verabschiedet werden würde.
Für die kleineren Länder ist die Klausel ohnehin nicht relevant. Insgesamt 15 von 28 EU-Mitgliedsländern entsenden aufgrund ihrer relativ geringen Einwohnerzahl 20 Abgeordnete oder weniger ins EU-Parlament. Hier gilt schon aus rechnerischen Gründen die Fünf-Prozent-Hürde: Die müssen Parteien nämlich überschreiten, um überhaupt einen Sitz zu bekommen. Weitere sieben Länder entsenden zwischen 20 und 33 Abgeordnete. Hier gilt aus rechnerischen Gründen mindestens die Drei-Prozent-Hürde. In den übrigen Staaten gilt zum Teil bereits eine Sperrklausel, zum Beispiel in Frankreich.
Relevant ist die neue Regelung, wegen der Bevölkerungsgröße, ausschließlich für Deutschland und Spanien. Und die Spanier haben sich lange Zeit dagegen gewehrt.
Europaabgeordnete von kleinen Parteien sagten mir unabhängig voneinander, dass die Bundesregierung massiven diplomatischen Druck ausgeübt habe. Das deckt sich in Teilen mit einem Bericht der „Stuttgarter Nachrichten“, in dem es hieß, dass es in Spanien bis zuletzt Bedenken gegen die Neufassung des Wahlrechts gegeben habe.
Die Große Koalition glaubt, auf diese Weise für mehr Chancengleichheit zu sorgen
Es spricht also einiges dafür, dass die Sperrklausel ausschließlich deswegen kommen soll, weil die Bundesregierung das so will. Aber warum eigentlich?
„Zwei Gründe sprechen klar für eine neue Sperrklausel: Erstens gilt es, eine weitere Zersplitterung des Parlaments zu verhindern. Das steigert die Arbeitsfähigkeit des Parlaments“, schrieb mir der Europaabgeordnete Daniel Caspary, Vorsitzender der CDU/CSU-Gruppe im EU-Parlament. „Zweitens müssen die Verzerrungen bei der Umrechnung von Stimmen in Mandate verringert werden. Bürger, die 2014 großen Parteien ihre Stimmen gegeben haben, waren im Vergleich zu allen, die Kleinstparteien gewählt haben, rechnerisch benachteiligt.“
Casparys Argument von der Benachteiligung großer Parteien ist einerseits zutreffend: „Die Partei“ und die ÖDP bekamen mit etwa 185.000 Stimmen jeweils einen Sitz im EU-Parlament. Die Union erhielt mit 8,8 Millionen Stimmen 30 Sitze – pro Sitz sind das also fast 300.000 Stimmen, die nötig waren.
Sperrklausel hilft den großen Parteien
Andererseits würde die Wiedereinführung der Sperrklausel die Verhältnisse ins Gegenteil drehen. Nun bekämen die großen Parteien Stimmanteile im Parlament, die ihnen aufgrund des Wahlergebnisses nicht zustehen würden. Wieso das?
Normalerweise ist es so, dass ein gewisser Teil der bei Wahlen abgegebenen Stimmen für die Sitzverteilung im Parlament nicht mehr relevant ist. Nämlich die Stimmen für jene Parteien, die an der Sperrklausel scheitern. Das bringt denjenigen Parteien Vorteile, die den Sprung über die Sperrklausel schaffen.
Nehmen wir das Beispiel der Bundestagswahl 2013. Hier blieben FDP und AfD knapp unter fünf Prozent. Insgesamt gaben gut 16 Prozent der Wähler ihre Zweitstimme für Parteien ab, die später nicht im Bundestag vertreten waren. Das führte zu der kuriosen Situation, dass die Union mit einem Wahlergebnis von 41,5 Prozent nur wenige Sitze an der absoluten Mehrheit vorbeigeschrammt ist. Ihr Anteil an den Abgeordnetensitzen betrug 49,3 Prozent.
Aber auch die anderen Parteien profitierten davon. Obwohl die Grünen eine Million Wähler verloren, und statt 10,7 Prozent nur noch 8,4 Prozent der Stimmen erhielten, blieb die Zahl ihrer Bundestagssitze kaum verändert: 63 statt 68.
Mehr Abgeordnete für Union und SPD
Eine ähnliche Rechnung lässt sich auch für die Europawahl 2014 aufmachen. Hätte es die Fünf-Prozent-Hürde gegeben, wären die Stimmen von mehr als zwölf Prozent der deutschen Wähler nicht für die Verteilung von Abgeordnetenmandaten relevant gewesen. Die Union hätte wohl vier Abgeordnete mehr ins Parlament entsenden können, die SPD drei, und auch für die Grünen wäre wohl ein weiterer Sitz rausgesprungen.
„Alle Parteien, die sicher über die Sperrklausel kommen, haben ein Interesse daran, dass das neue Wahlrecht kommt. Sie wollen die Vorreiterrolle ihrer jeweiligen Parteien in den europäischen Fraktionen sichern, und dafür brauchen sie so viele Mandate wie möglich“, sagte mir Julia Reda, die für die Piratenpartei im EU-Parlament sitzt.
Man könnte natürlich auch argumentieren, dass Parteien wie die Piraten nur durch die Abschaffung der Sperrklausel überhaupt noch eine Möglichkeit haben, auf überregionaler Ebene Sitze zu ergattern.
Reda hält dagegen. „Europaweit haben 2014 fast eine Million Menschen die Piraten gewählt. Es wäre ein Problem, wenn eine Partei, die zwar auf relativ große Resonanz stößt, aber dennoch über keine Hochburgen verfügt, plötzlich ohne Sitze dastehen würde.“ Was Reda meint: Eine Partei, die zwar in einigen Ländern verhältnismäßig viele Stimmen bekommt, kann trotzdem bei der Verteilung der Abgeordneten leer ausgehen – wenn sie jeweils an der nötigen Schwelle scheitert, die für die Verteilung der Sitze gilt.
Ist „Zersplitterung“ in Europa wirklich ein Problem?
Bliebe das Argument, die Sperrklausel könnte einer „Zersplitterung“ des EU-Parlaments entgegenwirken. Auch Jo Leinen, der für die SPD im EU-Parlament sitzt, denkt so. „Das Europäische Parlament leidet wie alle Parlamente, wenn eine Zersplitterung stattfindet“, schrieb er mir. „Ich sehe deshalb die Gefahr, dass es immer schwerer wird, verlässliche Mehrheiten zu organisieren.“
Tatsächlich war die Kleinteiligkeit des Bundestages nach der Wahl im Jahr 1949 einer der wichtigsten Gründe dafür, die Fünf-Prozent-Hürde einzuführen. Damals entsandten elf Parteien Abgeordnete in den Bundestag, darunter die Kommunistische Partei Deutschlands, die populistische „Wirtschaftliche Aufbau-Vereinigung“ und der Südschleswigsche Wählerverband.
Auf europäischer Ebene jedoch liegen die Dinge etwas anders. Hier gibt es länderübergreifende Fraktionen, so genannte Parteienfamilien. In ihnen schließen sich Abgeordnete aus ganz unterschiedlichen politischen Gruppierungen zusammen, wenn sie bestimmte politische Ziele teilen.
In Europa gibt es Parteienfamilien
Julia Reda von den Piraten etwa ist stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Grünen/Europäische Freie Allianz. Auch Klaus Buchner von der ÖDP gehört dieser Fraktion an. Arne Gericke, der für die Familien-Partei gewählt wurde und jetzt den Freien Wählern angehört, hat sich der „Fraktion Europäische Konservative und Reformisten“ angeschlossen. Stefan Eck (mittlerweile parteilos), der für die Tierschutzpartei ins EU-Parlament einzog, ist Mitglied bei der Vereinigten Europäischen Linken, Ulrike Müller von den Freien Wählern arbeitet mit der Allianz der Liberalen und Demokraten in Europa (ALDE) zusammen. Udo Voigt von der NPD und Martin Sonneborn von Die Partei sind fraktionslos.
Insgesamt besteht das aktuelle EU-Parlament aus acht Fraktionen. In der vergangenen Legislaturperiode waren es sieben. Die Zahl der fraktionslosen Abgeordneten war direkt nach der Wahl im Jahr 2014 ungewöhnlich hoch – sie lag bei 52. Insgesamt 32 von ihnen haben sich mittlerweile aber Fraktionen angeschlossen.
Sonneborn glaubt deshalb nicht, dass der Wegfall der Hürde zu Zersplitterung führt, denn das Parlament müsse sich seine Mehrheiten von Abstimmung zu Abstimmung neu suchen, und dennoch gebe es selten knappe Entscheidungen: „Es ist ein sehr gesunder Prozess, bei dem Interessen gebündelt werden. Es geht meist um eine Auseinandersetzung in der Sache“, sagt er.
Sonneborn will vor das Bundesverfassungsgericht ziehen
Jo Leinen von der SPD dagegen glaubt, dass dadurch die Fraktionen intern heterogener würden und es künftig schwieriger werde, gemeinsame Beschlüsse zu fassen. Das Bundesverfassungsgericht hielt jedoch noch 2014 fest, dass dies nicht belegt sei. Die flexible Mehrheitsbildung sei aus damaliger Sicht durch neue Abgeordnete kleiner Parteien nicht nennenswert erschwert worden.
Sollte die Sperrklausel wieder eingeführt werden, dürfte es wohl zu einer weiteren Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts kommen. „Wir werden genauso auch dieses Mal klagen“, sagte mir Sonneborn. Und auch in anderen kleinen Parteien gibt es solche Überlegungen.
Das Thema dürfte uns also noch weiter beschäftigen.
Redaktion Susan Mücke, Schlussredaktion Vera Fröhlich, Bildredaktion Martin Gommel (Aufmacherfoto: Wikimedia / Olaf Kosinsky.