Und plötzlich ist die Altstadt voll mit jungen Leuten. Es ist der 25. April im bayerischen Regensburg, und Menschen mit Plakaten und Sprechchören ziehen zwischen wunderschönen Weltkulturerbe-Häusern durch die Straßen, um gegen ihre Landesregierung zu demonstrieren. Sie wollen ein neues Gesetz verhindern, mit dem die Rechte der bayerischen Polizei ausgeweitet werden sollen. Unter den Demonstranten sind überdurchschnittlich viele junge Menschen, und irgendwo im Zug ist auch Sven Seeberg. Er hatte ein paar Wochen vorher eine Demo gegen das neue bayerische Polizeigesetz angemeldet, einigen Freunden Bescheid gesagt und es kamen 500 Menschen. Das galt als Erfolg. Heute zählen er und die Veranstalter 5.000.
Aber nicht nur Regensburg wehrt sich. In Würzburg gehen 3.000 auf die Straße, in Nürnberg 1.200, in Erlangen, Passau, Augsburg demonstrieren Tausende und in München finden sich 40.000 zusammen, um das neue „Polizeiaufgabengesetz“ zu verhindern – des es der Polizei zusammen mit einem anderen Gesetz erlaubt, eine Vielzahl von Mitteln einzusetzen auch wenn die Gefahr nur droht. Die Polizei dürfte viel häufiger vorbeugend tätig werden. Im bayerischen Landtag stößt das Vorhaben auf die größte Opposition, die im Freistaat denkbar ist: Alle Parteien außer den Christsozialen haben sich gegen die Gesetzesinitiative des neuen Ministerpräsidenten Markus Söder gestellt. Seine Partei, die CSU, regiert mit absoluter Mehrheit.
Zeit Online schreibt über das Gesetz: „In Bayern droht bald überall Gefahr“. Die Berliner Morgenpost berichtet: „In Bayern könnte die Polizei bald Handgranaten einsetzen.“ Und Netzpolitik.org titelt: „Ab Sommer in Bayern: das härteste Polizeigesetz seit 1945.“ Das kann zwar nur behaupten, wer die Befugnisse der DDR-Geheimpolizei Stasi völlig ignoriert. Trotzdem zeigt das Zitat sehr gut, wie hitzig die Debatte über das Polizeiaufgabengesetz geführt wird.
Alle Bundesländer erneuern ihre Polizeigesetze
Jetzt könnte man denken: Dieses Problem betrifft ausschließlich Bayern. Aber das könnte ein folgenschwerer Fehler sein. Denn wenn Deutschlands zweitgrößtes Bundesland, gemessen an der Einwohnerzahl, ein neues Polizeirecht einführt, hat das oft Vorbildcharakter für andere Landesregierungen. Gerade dort, wo Politiker ebenfalls versuchen, mit dem Kampf für die „innere Sicherheit“ bei den Wählern zu punkten.
Wir haben bei allen deutschen Bundesländern angefragt, ob sie planen, ihre Polizeigesetze reformieren. Das Ergebnis: Jede einzelne Landesregierung arbeitet an entsprechenden Plänen. Einige Vorlagen sind vergleichsweise harmlos, sie setzen lediglich die neue EU-Datenschutzverordnung um. Aber einige Länder wollen tatsächlich ähnlich weit gehen wie Bayern.
Der sächsische Entwurf gleicht dem bayerischen in Teilen, Niedersachsen wird aller Voraussicht nach die Rechte der Polizei ausweiten, Hessen verschärft die bereits bestehenden Gesetze, und die schwarz-grüne Landesregierung in Baden-Württemberg hat schon im vergangenen Herbst ihr Gesetz erneuert. Vieles von dem, was jetzt in Bayern Schlagzeilen macht und für Empörung sorgt, ist in Deutschlands Südwesten bereits geltendes Recht.
Und selbst diejenigen Bundesländer, die sich jetzt noch zurückhalten, müssen nicht zwangsläufig bei ihrer Haltung bleiben. Denn die Innenminister haben schon im Juni 2017 beschlossen, ein bundesweit einheitliches Polizeimustergesetz zu entwickeln, das als Vorbild für alle Landesgesetze dienen soll. Bundesinnenminister Horst Seehofer, bis Anfang dieses Jahres bayerischer Ministerpräsident, will, dass sich dieses Gesetz am bayerischen Vorbild orientiert.
Auf den bayerischen Straßen wird gerade das Grundgesetz für ganz Deutschland verteidigt – so sehen das die Demonstranten. Aus Sicht des bayerischen Innenministers Joachim Herrmann ist das Schmarrn. Im Landtag sagte er: „Es ist unsäglich, was in der Öffentlichkeit behauptet wird, was da rumgeistert in Facebook, in Social Media.“ Mit einem Dringlichkeitsantrag wollte er den Landtag sogar dazu bewegen, sein „Befremden“ über das Bündnis auszudrücken, welches das Polizeigesetz verhindern will. Ein außergewöhnlicher Vorgang.
Wer gewinnt – die Seite der Freiheit oder die Seite der Sicherheit?
Sicherheit ist ein menschliches Grundbedürfnis. Zu viel Sicherheit jedoch gefährdet die Freiheiten, die im Grundgesetz festgeschrieben sind. Seit Jahrzehnten bricht dieser Konflikt in Deutschland immer wieder auf: Beim Streit um die Notstandsgesetze 1968, in der Auseinandersetzung über die Rasterfahndung, beim „großen Lauschangriff“ oder in der Debatte um den NSA-Skandal. Nun geht der Streit zwischen den Befürwortern von mehr Sicherheit und mehr Freiheit in die nächste Runde. Wer in dieser Auseinandersetzung wirklich recht hat, können wir auch nach dieser Recherche nicht sagen. Das werden am Ende die höchsten Gerichte des Landes klären müssen. Aber klar ist: So wie es aussieht, wird die Seite der Freiheit den Kampf dieses Mal verlieren. Wieder einmal. Aber es gibt auch ein wenig Hoffnung.
Reden wir zuerst über die neuen bayerischen Polizeigesetze.
Tatsächlich ist hier der Plural korrekt, es geht nämlich im Kern um zwei Gesetze: zum einen das sogenannte Gefährdergesetz, zum anderen um das Polizeiaufgabengesetz. Das erste ist schon seit 2017 in Kraft, über das zweite verhandelt der bayerische Landtag gerade. Aber tatsächlich muss man beide Gesetze im Zusammenspiel betrachten.
Das Polizeiaufgabengesetz, an dem sich die jüngsten Proteste entfachten, umfasst 101 Seiten, die in feinstem Juristen-Deutsch verfasst sind. Über die Machart des Textes beschweren sich selbst Experten. Ein Rechtsprofessor aus Bayreuth sagte: „Die Fülle und Komplexität der vorliegenden Vorschläge führt mich an Grenzen.“
Wir konzentrieren uns in diesem Artikel jeweils auf jene Passagen aus beiden Gesetzen, die im Zentrum der Kritik stehen.
Zentral im bayerischen Gefährdergesetz ist der Begriff der „drohenden Gefahr“. Was sie im Detail ausmacht, steht nicht im Gesetz. Die Gefahr wird nur vergleichsweise abstrakt umschrieben. Glaubt die Polizei aber, so eine Gefahr erkannt zu haben, kann sie vorbeugend aktiv werden. Dazu hat sie neue Mittel an die Hand bekommen:
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Unendlichkeitshaft: Diese Bezeichnung gibt es offiziell nicht. Der ehemalige Staatsanwalt und heutige SZ-Journalist Heribert Prantl hat sie geprägt für eine ganz besondere bayerische Variante des Polizeigewahrsams: Ein Richter kann sie ohne Anklage für bis zu drei Monaten anordnen und dann immer wieder verlängern. Noch nicht einmal ein Straftatbestand muss dafür vorliegen. Deswegen spricht Prantl von einer Unendlichkeitshaft. Einen formalen nach rechtsstaatlichen Prinzipien geführten Prozess gibt es nicht.
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Aufenthaltsgebot: Die Polizei kann Gefährder zwingen, bestimmte Orte zu meiden, oder sie dazu verpflichten, Orte nicht zu verlassen.
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Elektronische Fußfessel: Dazu kann sie eine elektronische Fessel einsetzen, mit der die Polizei jederzeit sehen kann, wo sich der Gefährder aufhält.
All das ist, wie schon gesagt, seit 2017 geltendes Recht in Bayern.
Mit dem neuen geänderten Polizeiaufgabengesetz kommen weitere Befugnisse hinzu. Weil das „Gefährdergesetz“ bereits gilt, könnten all diese Maßnahmen auf jene Bürger angewandt werden, die von der Polizei – auf Basis einer im Gesetz sehr unzureichend formulierten Definition – als „Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung“ identifiziert wurden.
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DNA-Untersuchung: Die Polizei soll künftig DNA-Proben auch auf darin enthaltene Hinweise untersuchen dürfen, die auf äußerliche Merkmale schließen lassen (Haar-, Haut-, Augenfarbe). Bisher durfte sie so nur das Geschlecht bestimmen. Hinzu kommt ein zweiter Punkt: Der Polizei soll es erlaubt sein, eine „biogeografische Herkunftsbestimmung“ durchzuführen. Klingt abstrakt, bedeutet konkret, dass die Polizei wissen will, aus welchem Erdteil die Vorfahren eines möglichen Täters stammen. Sie will die Ethnie herausfinden. Diese Methode verwenden die Niederlande seit 2003, sie gilt als sehr fehleranfällig und moralisch fragwürdig.
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Zugriff auf Cloudspeicher: Wenn die Polizei bisher einen Computer in der Wohnung eines Verdächtigen gefunden hatte, konnte sie ihn durchsuchen. Wenn sie dabei aber feststellte, dass die entscheidenden Dateien in der Cloud liegen, hatte sie keine rechtliche Möglichkeit auf Zugriff. Das soll sich nun ändern.
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Unbeteiligter Zeuge: Wenn die Polizei eine Wohnung durchsucht hat, musste wenn möglich bisher mindestens ein Nachbar, ein Verwandter oder anderer Vertreter des Beschuldigten anwesend sein. Nun reicht es aus, dass irgendjemand dabei ist, zum Beispiel ein Gemeindebeamter.
Über diese Punkte wird seit Wochen diskutiert. Was weniger bekannt ist: Wie viel Einfluss die bayerischen Gesetzespläne auch in anderen Bundesländern haben.
In Sachsen etwa soll in einem neuen Polizeigesetz der Begriff der „wahrscheinlichen bzw. überschaubaren Gefahr“ verwendet werden. Auf Basis dieser sehr schwammigen Formulierung sollen künftig Menschen dazu gezwungen werden, eine Fußfessel zu tragen. An den Staatsgrenzen zu Polen und Tschechien will Sachsen zukünftig automatisiert Kfz-Kennzeichen scannen, außerdem werden die Einsatzkommandos mit Handgranaten und Maschinengewehren ausgerüstet.
In Nordrhein-Westfalen soll die Polizei künftig Chats in Messengern mitlesen können. Außerdem wäre es Gefährdern in Zukunft verboten, Kontakt zu bestimmten Personen aufzunehmen. Hessen führt im Windschatten dieser ganzen Reformen den sogenannten Hessen-Trojaner für den Verfassungsschutz ein, mit dem die Beamten auf Verdacht heimlich beobachten könnten, was auf Computern und Handys geschieht. Ihre baden-württembergischen Kollegen haben bereits seit vergangenem Herbst die rechtlichen Möglichkeiten dazu.
Hartmut Wächtler, einer der Juristen, der im Winter vom bayerischen Landtag eingeladen wurde, den Entwurf zu begutachten, findet deutliche Worte: „So weit in das Privatleben von Bürgern hat die Polizei noch niemals eindringen dürfen … Wer hier an Orwell denkt, liegt nicht falsch.“ Es sei die größte und umfassendste Kontrollkompetenz geschaffen worden seit 1945. Markus Löffelmann, Richter am Landgericht München, sagte dem Bayerischen Rundfunk: „Sie müssen sich vergegenwärtigen, dass nach dem Gesetzentwurf jeder bayerische Polizeibeamte zum Zwecke der Gefahrenabwehr über weitaus weitreichendere Befugnisse verfügt als das Bundeskriminalamt zur Terrorabwehr.“
Die Gesetze zielen auf Terroristen – können aber jeden Deutschen treffen
Terrorabwehr ist das richtige Stichwort. Denn die Sicherheitspolitiker begründen die Verschärfung ihrer Polizeigesetze mit der gestiegenen Terrorgefahr. Mal darf ein Bundesland „kein Rückzugsort für Terroristen werden“ (Roland Wöller, CDU, Sachsen), mal braucht es „längst überfällige Befugnisse“, um Terroristen mit „klugen, zeitgemäßen Mitteln“ entgegentreten zu können (Herbert Reul, CDU, Nordrhein-Westfalen). Dabei gilt allerdings auch, was der SPD-Abgeordnete Hartmut Ganzke in der Debatte im Düsseldorfer Landtag sagte: „Wir müssen uns vor Augen halten, dass das neue Gesetz kein Gesetz für etwa 100 Gefährder, auch keines für einige tausend Salafisten ist. Es ist auch kein Gesetz für 40.000 Polizistinnen und Polizisten. Sondern es ist ein Gesetz für knapp 18 Millionen Einwohner Nordrhein-Westfalens.“
Im Mai 2018 gab das Bundeskriminalamt bekannt, dass die Kriminalitätsrate in Deutschland historisch niedrige Werte erreicht hat. Zehn Prozent weniger Straftaten als im Vorjahr, deutlich weniger Einbrüche und Fälle von Taschendiebstahl, weniger Gewaltdelikte. Auch deswegen verstehen die Gegner der neuen Gesetze nicht, wozu man diese massive Ausweitung der Polizei-Befugnisse braucht. Sven Seeberg sagt: „Ich denke nicht, dass mehr Rechte für die Polizei die Kriminalität zurückdrängen.“
Aber für den Aktivisten Seeberg geht es mit seinen Demonstrationen gegen die Polizeigesetze auch um das Grundsätzliche, um die Frage, wie weit der Staat gehen darf, um bestehendes Recht immer und überall und möglichst vorbeugend durchzusetzen: „Ich bin der Meinung, dass es immer ein Ungleichgewicht geben muss bei der Strafverfolgung.“ Ein Ungleichgewicht zwischen Gesellschaft und Strafverfolgungsbehörden meint er. Er begründet das so: „Stellen wir uns vor, dass der Staat vor 40 Jahren die Möglichkeit gehabt hätte, alle Homosexuellen zu verfolgen – es gäbe die gesellschaftliche Öffnung nicht.“
Jeder neue Eingriff in die Grundrechte muss kritischer betrachtet werden als der vorherige
Als das Bundesverfassungsgericht 2005 eines seiner vielen Urteile zur Überwachung sprach, führte es einen neuen, abstrakten Begriff in die Diskussion ein, der aber hilfreich ist, um die Position der Gegner besser zu verstehen. Es sprach von „additiven Grundrechtseingriffe“. Dahinter verbirgt sich ein einfacher Gedanke: Wenn jedes Jahr die Rechte des Bürgers mal hier und mal dort nur ein klein wenig eingeschränkt werden, kippt die Balance zwischen Sicherheit und Freiheit auf Dauer. Neue Befugnisse für Polizisten und Verfassungsschützer sollten also nicht einzeln betrachtet werden – sondern immer zusammen mit den Gesetzen, die schon früher erlassen wurden. Jeder neue Eingriff ist also kritischer zu betrachten als der vorherige, eben weil die Sicherheitsbehörden immer mehr dürfen.
Die Bilanz ist eindeutig: Spätestens mit den Terroranschlägen von 11. September 2001 in New York erweiterte jede neue deutsche Regierung die Befugnisse der Behörden. Sei es die Möglichkeit, Satellitenpositionssysteme zur Überwachung einzusetzen. Oder abzufragen, welche Handys sich in einem bestimmten Bereich befinden. Die NGO Digitalcourage hat nachgezählt: Allein seit 2010 sind 40 Gesetze erlassen wurden, die mehr Überwachung zulassen.
In Bayern laufen gegen das bereits seit 2017 gültige Gefährdergesetz schon mehrere Klagen. Die Beschwerde beim Verfassungsgerichtshof des Landes begründet die Grünen-Politikerin Katharina Schulz vor allem mit der „Unverhältnismäßigkeit“. Sie befürchtet, dass die Maßnahmen „weit über das Ziel hinausschießen“. In Sachsen sagten uns Linke und Grüne, dass sie auf jeden Fall eine gemeinsame Normenkontrollklage anstrengen werden, sollte der jetzige Entwurf so verabschiedet werden.
Wie es nach derzeitigem Stand aussieht, werden die Klagen der letzte Weg sein. Das gibt auch Demo-Initiator Sven Seeberg zu. Für ihn aber setzen die Demonstrationen ein Zeichen, auch an die Gerichte: „Wir machen mit den Demos deutlich, dass die Überwachung uns zu weit geht, und hoffen, das Gericht damit zu beeindrucken.“
Einer bleibt trotz aller Kritik völlig unbeeindruckt: der bayerische Innenminister Joachim Herrmann. Zwar hat seine CSU das Gesetz an einigen wenigen Punkten entschärft, aber im Kern rückt er nicht von seinen Plänen ab. In Bayern wird im Herbst gewählt, und die CSU fürchtet, von der AfD beim Thema „Innere Sicherheit“ rechts überholt zu werden. Das wäre für die Christsozialen verheerend, ist das Thema doch eines der wichtigsten für die angestammte Wählerschaft.
Und dennoch sind die ganzen Demonstrationen und Debatten nicht umsonst. Das zeigt das Beispiel Bremen. Dort sollte das neue Polizeigesetz noch vor der Sommerpause verabschiedet werden. Aber vor ein paar Wochen haben die Grünen als Koalitionspartner ihre Zustimmung verweigert. Amnesty International kommentierte danach trocken: „Bremen ist nunmehr das erste Bundesland, in dem nach zivilgesellschaftlichem Widerstand das Gesetzesvorhaben vorerst gestoppt wurde.“
Dieser Text ist in Kooperation mit „Deutschland 3000“ entstanden. Das Format von Eva Schulz „ist da, wenn es kompliziert wird. Eva boxt sich mit dir durch die deutsche Politik.“ Das hier ist ihr Beitrag dazu:
https://www.facebook.com/Deutschland3000/videos/1860265590937505/
Redaktion Sebastian Christ, Schlussredaktion Vera Fröhlich, Bildredaktion: Martin Gommel (Aufmacher: iStock / Raphli)