Am 13. Juni 1989 beging ein junger, ungarischer Jurist mit einer schwarzen Vokuhila-Frisur seinen ersten Tabubruch.
Möglicherweise war der damals 26-Jährige noch kurz zuvor beim Friseur gewesen. Denn eigentlich trug er zu dieser Zeit seine Haare noch länger, von Weitem hatte er eine gewisse Ähnlichkeit mit Modern-Talking-Sänger Thomas Anders. Überhaupt mochte er es damals, seinen Stil zu verändern: Mal ließ er sich einen Vollbart wachsen, mal stach er sich einen silbernen Ring durch den linken Ohrlappen. Der junge Mann heißt Viktor Orbán.
Bereits im Jahr 1988 hatte er als Vorsitzender der Budapester Universitätsjugend die Umbettung der sterblichen Überreste des 1958 hingerichteten Reformkommunisten Imre Nagy gefordert, dessen Gebeine in einem Massengrab verscharrt wurden. Allein diese Äußerung war ein unerhörter Vorgang, schließlich wurde die Debatte über Nagy und die Revolution von 1956 im kommunistischen Ungarn unterdrückt.
Als dann der Trauerzug für Nagy an jenem Junitag im Jahr 1989 schließlich durch Budapest zog, trat Orbán am Heldenplatz als letzter Redner vor die vier silbernen Mikrofone, die auf dem Podium aufgebaut waren. „Ich identifiziere mich mit den Wünschen der ungarischen Nation nach einem Ende der kommunistischen Tabus“, sagte Orbán. Er identifiziere er sich außerdem mit den Wünschen „nach einem Ende der blinden Gefolgschaft gegenüber dem russischen Imperium und dem Ende der Ein-Parteien-Diktatur“. Damit übertrat Orbán sämtliche roten Linien, die das Regime 33 Jahre lang gezogen hatte.
Der Korrespondent der Zeit beobachtete, wie es Mitdemonstranten an jenem Tag mit der Angst zu tun bekamen: „Keinen Aufruhr, bitte. Nicht schon wieder, bitte. Und so löst sich die Menge rasch und ordnungsgemäß auf, als der Trauerakt zu Ende ist.“
Vier Monate später war die kommunistische Diktatur in Ungarn Geschichte.
Diese Rede im Stadtzentrum von Budapest war der Beginn von Viktor Orbáns politischer Karriere. Er war einer der ersten Ungarn, die in aller Öffentlichkeit das kommunistische System infrage stellten. Knapp 29 Jahre später ist aus dem jungen Revolutionär von einst ein autoritär herrschender Populist geworden, der nicht nur die demokratische Verfassung Ungarns ausgehöhlt hat, sondern selbst eine faktische Ein-Parteien-Herrschaft aufgebaut hat. Vor der Parlamentswahl am 8. April 2018 hat der Fidesz-Chef praktisch keine ernsthaften Gegner mehr.
Mit einem Soros-Stipendium nach Oxford
Die Karriere von Viktor Orbán ist eine Radikalisierungsgeschichte. Wer wissen will, wie sich ganz Ungarn mit ihm radikalisierte, muss seine Äußerungen in den vergangenen 29 Jahren studieren. Es ist aus heutiger Sicht ein Rätsel, warum diese Entwicklung in Westeuropa nicht schon viel früher für Aufmerksamkeit gesorgt hat.
Und noch etwas wird deutlich: Biografische Widersprüche müssen die neuen Populisten nicht fürchten. Denn wenn es danach ginge, wäre Viktor Orbáns Karriere schon längst vorbei.
Aber fangen wir von vorne an. In jenem Juni 1989.
Bald nach seiner Budapester Rede vom 13. Juni ging Orbán nach Großbritannien. Seit 1988 arbeitete er für das Open-Society-Institut der Soros Foundation in Budapest, die sich in Ungarn für die Unterstützung der Zivilgesellschaft einsetzte. Nun gab ihm die Stiftung ein Stipendium für einen Forschungsaufenthalt in Oxford. Dort wollte Orbán über die Idee der Zivilgesellschaft in der europäischen politischen Philosophie forschen.
Im November 2015 warf Orbán dem jüdischstämmigen Investor George Soros vor, er würde mit seiner Stiftung eine „Völkerwanderung“ finanzieren. „Gegen diese Verschwörung, gegen diesen Verrat müssen wir uns an die Demokratie und das Volk wenden“, sagte Orbán in einer Rede im italienischen Kulturinstitut. Sonst werde „der Kontinent nicht mehr das Europa der hier lebenden Bürger sein, sondern die wirren Träume einiger großen Geldmänner, transnationaler Aktivisten und von niemandem gewählter Funktionäre verwirklichen“.
Aufgewachsen in einem Haus ohne fließendes Wasser
In diesem Moment jedoch muss das Oxford-Stipendium für Orbán eine große Chance gewesen sein. Denn der spätere Ministerpräsident ist in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen.
Geboren im Jahr 1963, verbrachte er die ersten Jahre seiner Kindheit mit seinen Eltern, einem kleineren Bruder und dem Großvater, einem früheren Hafenarbeiter, auf engstem Raum in einem kleinen Haus in der Ortschaft Alcsutdoboz.
Später zog die Familie in ein baufälliges Haus im Nachbardorf Felcsut, in dem es noch nicht einmal fließendes Wasser gab. Nach der Schule musste der junge Viktor auf dem Feld und im Stall helfen: Maiskolben aufsammeln, Rüben ziehen oder die Schweine füttern. Erst mit 15 Jahren wusch er sich zum ersten Mal in einem eigenen Badezimmer. „Ein unvergessliches Erlebnis“, sagte Orbán später in einem Interview.
Orbáns Vater erwarb Mitte der 1970er-Jahre per Fernstudium einen Abschluss als Maschinenbauingenieur, die Mutter wurde auf dem zweiten Bildungsweg Logopädin.
Der langsame wirtschaftliche Aufstieg seiner Familie begann, als sich das kommunistische Regime von Janos Kadar wirtschaftlich konsolidierte. Viele Menschen, ob in der Stadt oder auf dem Land, verdienten sich damals neben ihrem Hauptjob noch etwas dazu. Die Regierung ließ sie gewähren – so lange die Tabus unangetastet blieben: keine Kritik am Ein-Parteien-Staat und an der Rolle der Sowjetunion. Im Westen wurde diese Form des Kommunismus mit der Möglichkeit von begrenztem Kleinunternehmertum auch „Gulasch-Kommunismus“ genannt.
Orbán sagt über sich selbst, dass er ein „unglaublich schlimmes Kind“ gewesen sei, wie der Publizist Paul Lendvai in seinem Buch „Orbáns Ungarn“ schreibt. Der Vater habe ihn mit 17 Jahren noch wegen rüpelhaften Benehmens verprügelt. In der Schule jedoch bewies Orbán, dass er durchaus begabt war. Er schaffte das Abitur. Den Mangel an persönlicher Freiheit im anschließenden Militärdienst empfand Orbán als „kaum erträglich“. Weil er einen anderen Rekruten geohrfeigt hatte, saß er einmal für zehn Tage im Militärarrest.
Lendvai glaubt, dass Orbán durch seine Militärzeit zum Gegner des Ein-Parteien-States wurde. Ebenso merkt er auch an, dass in Orbáns Kindheit ein wichtiger Charakterzug angelegt wurde: Nämlich der unbedingte „Wille zur Macht“. Als Mann vom Land umgab er sich künftig vor allem mit Menschen, die aus ähnlichen sozialen Verhältnissen kamen wie er. Bekannt ist auch, dass Orbán ein schwieriges Verhältnis zum liberalen Bürgertum Budapests pflegt.
Orbán als Kämpfer gegen Populismus und Rassismus
Seinen Forschungsaufenthalt in Oxford brach Orbán im Januar 1990 ab, um mit seiner Partei Fidesz bei den Parlamentswahlen anzutreten. Das Bündnis war im Jahr 1988 von 36 Studenten gegründet worden. Und viele der Seilschaften aus den Anfangstagen halten bis heute. Vier der fünf erstplatzierten Fidesz-Listenkandidaten bei der Wahl von 1990 bekleiden heute höchste Staats- und Parteiämter, wie Paul Lendvai schreibt. Obwohl Fidesz anfangs kaum mehr als eine Kleinpartei war, gelang ihr der Einzug ins Parlament. Laut Lendvai stand Fidesz damals „links der Mitte“ im politischen Spektrum Ungarns.
Orbán war als junger Abgeordneter ein Verfechter von liberalen Bildungs- und Wirtschaftsreformen. Und er wandte sich strikt gegen Rassismus und Antisemitismus. Auf dem Fidesz-Parteitag am 7. Februar 1992 sagte er: „Der völkisch-nationale Gedanke, die populistische Politik, sie steht im scharfen Gegensatz zum Liberalismus. Die Liberalen fordern Freiheit für das Volk, sodass es Unternehmen betreiben und wählen kann. Die Populisten dagegen wollen das Volk höher stellen.“
Doch schon bald darauf beginnt der politische Wandel von Viktor Orbán. Der Journalist Stephan Ozsvath schreibt in seinem Buch „Puszta-Populismus“, dass einer der Gründe dafür in der tiefen und historisch gewachsenen Spaltung des Landes in großstädtisch-liberale und völkisch-nationale Kräfte zu suchen ist. Dies habe sich bereits bei der Parlamentswahl 1990 gezeigt: Mit dem „Ungarischen Demokratischen Forum“ (MDF) wurde eine national-konservative Partei zur stärksten Kraft, die sich schon bald in die völkische Traditionslinie des politischen Diskurses in Ungarn stellte.
Der neue Ministerpräsident Jozsef Antall habe schon bald die Rolle der ungarischen Minderheiten in den Nachbarstaaten thematisiert, schreibt Ozsvath. Ein heikles Thema: Nach der Niederlage Österreich-Ungarns im Ersten Weltkrieg erklärten sich zahlreiche Länder für unabhängig. Im Vertrag von Trianon musste Ungarn erhebliche Gebietsverluste zugunsten dieser neuen Staaten hinnehmen. Mindestens 2,4 Millionen Ungarn leben bis heute außerhalb des Staatsgebiets – zum Beispiel in Serbien, der Slowakei oder Rumänien.
Antalls Wirtschaftsreformen erwiesen sich jedoch in Ungarn als unpopulär. Bereits bei der Parlamentswahl 1994 büßte das MDF die Hälfte der Stimmen ein. Auch Fidesz schrammte knapp am Sturz in die Bedeutungslosigkeit vorbei. Für Orbán markierte diese Wahl einen tiefen Einschnitt.
Der Weg ins völkische Lager
In den folgenden Jahren habe Orbán das politische Erbe des MDF angetreten, um endlich mehrheitsfähig werden zu können, glaubt Ozsvath. Ob der aufstrebende Nachwuchspolitiker jedoch auch persönlich den Wechsel ins Lager der Nationalisten vollzog, ist bis heute umstritten. Manche sehen in Orbán schlicht einen „Nihilisten“. Ozsvath zitiert den Politologen Laszlo Seres: „Orbán instrumentalisiert alles.“ Der Publizist Paul Lendvai glaubt, dass sich Orbán und seine Parteikollegen nur „liberale Masken“ aufgesetzt hatten. Nach 1994 habe sich Fidesz als national-konservative Alternative zu einer links-liberalen Regierung zu profilieren versucht.
Im ungarischen Parlament missbrauchte der Politiker nun Worte von Willy Brandt für national-populistische Parolen, wenn er über das Verhältnis Ungarns zu den Minderheiten in den Nachbarstaaten sprach: „Es wächst zusammen, was zusammengehört!“
Nur drei Jahre, nachdem Orbán auf dem Parteitag von Fidesz im Jahr 1992 ein flammendes Plädoyer gegen Populismus und völkisch-nationale Gedanken gehalten hatte, machte er auf dem Parteitag im April 1995 endgültig eine Kehrtwende: „In meinem Denken ist die Möglichkeit einer Zusammenarbeit mit der Linken nicht drin. Meine Antwort ist, dass Fidesz die Zusammenarbeit mit den Kräften rechts der Mitte suchen müsse.“
Immer öfter sprach er nun von der Nation, von der Heimatliebe und von traditionellen Werten.
Auch äußerlich vollzog Orbán nun einen Wandel. Die Zeit, in der er in Jeans und mit Ohrring auftrat, war vorbei. Das Popstar-Outfit passte nicht mehr zu den neuen politischen Botschaften. Orbán trug nun Anzug.
Ungarn war kein „Musterschüler“
Die links-liberale Regierung indes leitete Wirtschaftsreformen ein, die den Lebensstandard in Ungarn drastisch senkten: Allein in den Jahren 1995 und 1996 fielen die Reallöhne um 18 Prozent. Ähnlich wie in anderen postkommunistischen Ländern waren die 1990er-Jahre auch in Ungarn für viele Menschen eine sehr schwierige Zeit. Ein Trauma, aus dem womöglich auch ein Minderwertigkeitskomplex gegenüber dem Westen erwuchs. Daran wusste Orbán anzuknüpfen.
Als die Reformen nach zwei Jahren ihren gewünschten Effekt zeigten und zu mehr Wirtschaftswachstum führten, galt Ungarn plötzlich als der „Musterschüler“ unter den EU-Beitrittsländern Osteuropas. Der Westen blickte auf das Wachstum und die hohen Auslandsinvestitionen in Ungarn und verlor dabei die wachsende Gefahr des Nationalismus in Ungarn aus den Augen. Denn die hätte man seit Mitte der 90er-Jahre sehr wohl erkennen können. Aber man interessierte sich nicht dafür.
Bei der Parlamentswahl im Jahr 1998 siegte Fidesz, der Ärger über die links-liberale Regierung saß bei den Ungarn tief. Orbán wurde zum ersten Mal Ministerpräsident.
In seiner ersten Amtszeit, die bis 2002 dauerte, zeigte Orbán bereits viel von dem Geist, der ihn seit seiner erneuten Wahl im Jahr 2010 zur viel zitierten „Gefahr für die Demokratie“ macht.
Der Spiegel berichtete bereits 2002 davon, dass Orbáns Regierung kritische Journalisten und oppositionelle Kulturschaffende als „Feinde Ungarns“ diffamierte. Eine regierungsnahe Zeitung veröffentlichte Fahndungsaufrufe gegen zehn Auslandskorrespondenten, die kritisch über Orbán berichteten. Die Kontrollgremien für das Medienwesen ließ er mit Verbündeten besetzen, im öffentlich-rechtlichen Rundfunk wurden kritische Journalisten entlassen.
Jenen Ungarn, die außerhalb ihres Heimatslandes lebten, garantierte Orbán per Gesetz die „Unterstützung des Mutterlandes“. Unter anderem sollten sie einen privilegierten Zugang zum Arbeitsmarkt bekommen. Auch der Antisemitismus erlebte eine Renaissance. Im Spiegel wird ein Oberrabbiner aus Budapest zitiert: „Ich bin ein alter Jude, der den Hitlerismus in diesem Land durchgemacht hat; ich dachte, es hätte jetzt endlich die Stunde der Freiheit und der Ruhe geschlagen. Ich habe mich getäuscht.“
Wie gesagt: All das passierte in einer Zeit, als Ungarn von führenden Vertretern westlicher Regierungen als „Musterschüler“ bezeichnet wurde.
Die Wahlniederlage als Trauma
Die Wahl verlor Orbán im Jahr 2002 denkbar knapp. „Wir haben eine wichtige Schlacht verloren. Aber für die gemeinsame Sache steht es gut. Auch in der Opposition werden wir auf der Seite der Bürger stehen”, sagte er. Und ließ trotzdem das Ergebnis anfechten.
Überhaupt schien Orbán mit den Folgen seiner Abwahl mehr zu hadern, als er öffentlich zugeben wollte. Im Sommer 2002 veranstaltete er eine Demonstration, bei der er vor einem „Ende der Medienfreiheit“ warnte. Er, der während seiner Regierungszeit versucht hatte, die staatlichen Medien unter seine Kontrolle zu bringen, schlug nun einen Deal vor: Ein staatlicher Fernsehsender solle die Position der neuen linken Regierung wiedergeben. Der andere solle der „nationalen Sache“ dienen.
In einer Sache blieb der ältere Orbán seinem jüngeren Ich jedoch treu: Und das betraf die Arbeit mit Tabubrüchen. Kaum vier Wochen nach seiner Wahlniederlage forderte Orbán die Wiedereinführung der Todesstrafe in Ungarn. Er glaubte, mit Bezug auf die im Westen verbreitete Ablehnung der Todesstrafe, „jene Zeit heranreifen” zu sehen, „in der sich in Europa – vor allem wegen des Kampfes gegen Terrorismus – diese Einstellung ändern könnte”.
Viktor Orbáns zahlreiche Tabubrüche sind wichtig, denn sie sagen viel über seine Person aus. Im Jahr 1989 brachten sie ihm als jungem Juristen schlagartig eine weit über die Landesgrenzen hinausreichende Bekanntheit. Als Ministerpräsident versuchte er, mit immer neuen Tabubrüchen Politik zu machen. Und als abgewählter Regierungschef waren sie für ihn ein sehr effektives Mittel, um die neue linke Regierung vor sich herzutreiben.
Mittlerweile ist der Tabubruch so etwas wie eine Staatsdoktrin geworden: Er ist Kernelement dessen, was Orbán heute als „illiberale Demokratie“ bezeichnet. Der Budapester Politologe Zoltan Kiszelly, ein Berater von Viktor Orbán, schrieb im Jahr 2017: „Politische Macht wird im illiberalen Modell vorwiegend durch diese manifeste Wählermobilisierung unter Zuhilfenahme symbolischer Themen und Konflikte gefestigt (wie etwa in der Flüchtlingsfrage).“ Anders gesagt: Gezielt geschürte Konflikte dienen Orbán dazu, Mehrheiten zu organisieren.
„Wir haben gelogen – morgens, mittags und abends“
Mit seiner Strategie der Tabubrüche war er als Oppositionsführer sehr erfolgreich. Ungarn spaltete sich zusehends entlang der alten politischen Konfliktlinie zwischen Liberalen und Nationalisten. Die Atmosphäre, die im Zuge dessen entstand, bezeichnet der Journalist und Buchautor Ozsvath als „kalten Bürgerkrieg“.
Spätestens, seit sich die Sozialdemokraten nach ihrer Wiederwahl im Jahr 2006 heillos in einer Reihe von Skandalen verstrickten, war die Wahl von Orbán nur noch eine Frage der Zeit. „Wir haben gelogen – morgens, mittags und abends“, sagte der wiedergewählte Ministerpräsident Ferenc Gyurcsany bei einer internen Versammlung der Sozialdemokraten im Mai 2006. Eigentlich wollte er mit diesen Worten seine Parteigenossen aufrütteln. Doch die „Lügen-Rede“ wurde an die Medien lanciert und sorgte für einen vernichtenden Skandal. Die ungarische Linke war dabei, sich selbst abzuschaffen.
Der Fidesz-Chef wirkte indes immer mehr wie ein Revolutionär – und immer weniger wie ein demokratischer Politiker. „Das Volk hat das Recht, die Regierung zu vertreiben“, sagte er bei einer Kundgebung im Jahr 2007, und zwar dann, wenn die Regierung gegen das Volk regiere.
Bei der Parlamentswahl im Jahr 2010 bekam Fidesz eine Zwei-Drittel-Mehrheit. Seitdem baut Viktor Orbán den Staat zu einer Autokratie um.
Und dennoch ist es erstaunlich, wie erfolgreich Orbán dabei war, den völkisch-nationalen Diskurs zum Sieg zu verhelfen. Im Parlament halten Fidesz und die faschistische Jobbik-Partei drei Viertel der Sitze.
Völkische Töne im Wahlkampf
Immer stärker setzt Orbán auf einen völkisch-rechten Ton. Vielleicht, weil es kaum noch Tabus gibt, die er in Ungarn brechen kann. Ohne die Aufregerthemen aber fällt es ihm schwer, Mehrheiten zu organisieren.
Der neue, rechte Fidesz-Kurs betrifft nicht nur die Kampagne gegen seinen früheren Gönner George Soros, die mit ihren weltverschwörerischen Klängen auch eine klar antisemitische Note hat. Bei einer Wahlkampfrede sprach er jüngst von einem „bösartigen und listigen Feind“, der Ungarn bedrohe. „Er ist nicht national, sondern international; er glaubt nicht an Arbeit, sondern spekuliert; er ist rachsüchtig und attackiert immer das Herz, besonders wenn dieses rot, weiß und grün ist.” Wer will, kann auch hier die antisemitischen Untertöne der Soros-Kampagne heraushören. Wen Orbán genau mit dem „bösartigen und listigen Feind“ meint, bleibt unklar.
Ungarn selbst wurde in den vergangenen Monaten von mehreren Korruptionsskandalen erschüttert. Am bekanntesten ist wohl der Fall der Firma Elios Innovative. Das Unternehmen soll auffällig häufig den Zuschlag für die Sanierung von Straßenbeleuchtungen mit EU-Geldern bekommen haben. Chef von Elios ist Viktor Orbáns Schwiegersohn Istvan Tiborcz. Die europäische Anti-Korruptionsbehörde Olaf hat den Fall untersucht und empfiehlt der EU die Rückforderung von 40 Millionen Euro Fördergeldern.
Doch Skandale wie diese scheinen an Orbán abzutropfen. Seine völkischen Töne bescheren ihm nicht nur eine stabile Anhängerschaft. Auch die Faschisten von „Jobbik“, die ihn vor einigen Jahren gefährlich zu werden schienen, hält er dadurch in Schach.
Passend dazu hat Orbán in den vergangenen Jahren auch wieder einmal sein Outfit gewechselt: Man sieht ihn nun häufiger im Trachtenjanker auftreten – der junge Jurist mit dem Vokuhila-Haarschnitt von einst, er wäre heute wohl sein ärgster Feind.
Redaktion Esther Göbel, Bildredaktion Martin Gommel (Aufmacherbild: Youtube, Schlussredaktion Vera Fröhlich, Audioversion: Christian Melchert