Wie der Westen Ungarn an Putin verlor – erzählt von Insidern

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Wie der Westen Ungarn an Putin verlor – erzählt von Insidern

Warum sucht der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán engeren Kontakt zu Russland? Die Kollegen unseres ungarischen Partnerprojekts haben einen Polit-Krimi aufgedeckt, in dem es um ein renovierungsbedürftiges Atomkraftwerk geht, um viel zu teures Gas und um eine Selbsteinladung von Wladimir Putin.

Profilbild von von András Pethő und András Szabó

Es war kurz vor der ungarischen Parlamentswahl im April 2010, als zwei einflussreiche ungarische Geschäftsleute ein Flugzeug nach Moskau bestiegen. Ihr Ziel war einer der berüchtigten Orte in der russischen Hauptstadt, ein großes, gelbliches Gebäude am Lubjanka-Platz. Früher war dies das Hauptquartier des sowjetischen Geheimdienstes KGB – jetzt residierte hier sein Nachfolger, der Inlandsgeheimdienst FSB.

Beide Männer gehörten zum engsten Kreis von Viktor Orbán, dem Vorsitzenden der Fidesz-Partei, dem damals ein souveräner Wahlsieg prognostiziert wurde: Es waren sein langjähriger Freund und politischer Verbündeter Lajos Simicska sowie dessen Mitarbeiter Zsolt Nyerges, ein alter Freund der Familie Orbán. In Moskau trafen sie sich nun mit einem hochrangigen FSB-Mitarbeiter.

Dem Besuch war einige Monate zuvor ein wichtiges Treffen vorausgegangen: Im November 2009 hatten sich Orbán und der russische Ministerpräsidenten Wladimir Putin erstmals in Sankt Petersburg persönlich kennengelernt. Das Ziel der Reise von Simicska und Nyerges war es nun, neue Geschäftsbeziehungen zwischen den Führungskräften beider Länder zu knüpfen – und der russische Geheimdienst ist häufig in staatsbezogene Geschäfte eingebunden.

Ein Treffen, über das bislang nie in der Presse berichtet worden war, aber in Kreisen der Fidesz-Partei und auch bei einigen Vertretern der vorherigen Regierung bekannt war. Direkt36 hat aus drei voneinander unabhängigen Quellen von dem Besuch erfahren.

Demnach soll es zu diesem Zeitpunkt nicht um konkrete Geschäfte gegangen sein. Eine Quelle sprach von einem „Antrittsbesuch”. Eine andere sagte, der FSB-Mitarbeiter habe Simicska und Nyerges versichert, sie könnten sich „auf Russland verlassen”, wenn sie Hilfe im Geschäftsleben brauchen.

Das Treffen im Jahr 2010 zeigt, wie sich Orbán und sein engstes Umfeld um eine enge Bindung an Putins Russland bemühten – und zwar noch bevor sie die Wahl durch einen erdrutschartigen Sieg gewannen. Seitdem hat diese Verbindung weltweites Aufsehen erregt: Putin ist ein häufiger Gast in Budapest geworden, Ungarn und Russland haben mehrere bedeutende Geschäftsabschlüsse gemacht. Vor allem hat die Regierung Orbán beschlossen, das russische staatliche Atomunternehmen Rosatom mit dem Ausbau des ungarischen Kernkraftwerks Paks zu beauftragen – eine Entscheidung, die ohne öffentliche Ausschreibung fiel.

Dabei war Orbán die meiste Zeit seiner Karriere ein unerschütterlicher Kritiker Russlands gewesen. Was genau ihn also dazu veranlasste, die Nähe zu Putin zu suchen, war in den vergangenen Jahren Gegenstand weitverbreiteter Spekulationen. Direkt36 verbrachte Monate damit, mehr als 30 Quellen zu befragen, die über die Schachzüge von Orbán Bescheid wussten. Wegen der heiklen Thematik baten sie alle um Anonymität.

Diesen Informanten zufolge hat Orbán seinen eigenen Leuten erzählt, dass er eine engere Beziehung zu Russland aufbaut, um das internationale Ansehen Ungarns zu stärken. Er meint, die ungarische Wirtschaft könne von dieser Verbindung profitieren – und er glaubt, dass sie dem Land auch eine bessere Verhandlungsposition gegenüber den westlichen Mächten verschafft. Orbán, so sagen diejenigen, die ihn kennen, genießt es, sich unter mächtigen Führern zu bewegen. „Er dachte, dass eine gute Beziehung zu Russland die Antwort auf eine Reihe von wirtschaftlichen und politischen Problemen sein kann, die er hatte“, sagte jemand aus dem Umfeld des ungarischen Ministerpräsidenten. Es ist schwierig vorherzusagen, wohin Orbáns Schritte das Land führen werden. Wie es aber zu seiner Annäherung an Russland kam, das beschreibt diese Geschichte.

Der Dreh- und Angelpunkt

Im Juni 2007 hatte April Foley endlich mal positive Nachrichten für Washington. Die Botschafterin der Vereinigten Staaten in Budapest hatte sich mit dem damaligen Oppositionsführer Viktor Orbán getroffen und war beeindruckt. Sie fand ihn schwungvoll, energisch – und sie mochte besonders, was er ihr erzählte: Orbán betonte sein Engagement für die transatlantischen Beziehungen und sagte, dass die wirkliche Bedrohung nun das „Überleben und die Rückkehr Russlands und der extremen Linken“ sei. Das beruhigte Foley, denn sie sorgte sich wegen der Versuche des damaligen Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány, eine engere Beziehung zu Moskau aufzubauen. In ihrem Telegramm, das von Wikileaks veröffentlicht wurde, kam sie zu dem Schluss, dass „Orbán zwar kein Engel ist, aber er ist in diesen Fragen auf der Seite der Engel“.

Diese Einstellung der Amerikaner sollte sich innerhalb nur weniger Jahre vollständig ändern. Orbáns Beziehungen zu Washington verschlechterten sich, als er enge Kontakte zu Russland aufbaute und kurz nach seiner Machtübernahme im Jahr 2010 damit begann, Ungarns demokratische Institutionen zu schwächen. Doch Orbáns Abkehr vom Westen begann viel früher.

Schon während seiner ersten Amtszeit als ungarischer Ministerpräsident zwischen 1998 und 2002 hatte Orbán ein schwieriges Verhältnis zu den Vereinigten Staaten. Dies war zum Teil das Ergebnis einer Meinungsverschiedenheit über den Antisemitismus in Ungarn, in dem die Amerikaner ein ernstes Problem sahen. Das Verhältnis wurde weiter geschädigt, als Ungarn schwedische Gripen-Kampfflugzeuge statt amerikanischer F-16 kaufte. „Das hat zu Spannungen mit den Amerikanern geführt“, sagte ein ehemaliger Spitzendiplomat der Regierung Orbán. Trotzdem habe der ungarische Ministerpräsident immer noch gehofft, dass er während seines Besuchs in den USA im Jahr 2002 eine Einladung ins Weiße Haus erhalten würde. Aber „die kam nicht zustande.“

Orbán wurde in der Folge immer skeptischer gegenüber dem Westen und begann nach Angaben von ihm nahestehenden Personen, die meisten westlichen Führer als schwach und weich anzusehen. Dennoch hielt er jahrelang an seiner Kritik an Russland fest. Während des russisch-georgischen Krieges im Jahr 2008 (Kaukasuskrieg) war Orbán einer der lautstärksten Kritiker Russlands in Europa. „Was passiert ist, ist etwas, das wir seit dem Ende des Kalten Krieges nicht mehr gesehen haben. In den vergangenen 20 Jahren war diese Politik roher Gewalt, die Russland jetzt gezeigt hat, unbekannt“, sagte er damals in einem Interview.

Laut Informationen aus Kreisen der Fidesz-Partei hat sich Orbáns Ansicht bald darauf geändert. Er war der Meinung, dass Härte gegenüber den Russen keinen Sinn mache, wenn die westlichen Länder trotzdem weiter Geschäfte mit ihnen machten. Er dachte auch, dass die Finanzkrise des Jahres 2008, die ihren Ursprung in den USA hatte, zu einer umfassenden geopolitischen Umstrukturierung führen würde, die den osteuropäischen Ländern zugute käme. Maßgeblichen Einfluss auf Orbáns Denken hatte dabei György Matolcsy, sein langjähriger Wirtschaftsberater, der heute als Direktor der ungarischen Zentralbank fungiert. „Bis zum Jahr 2009 gelang es Matolcsy, Orbán davon zu überzeugen, dass der aufstrebende Osten den Platz des Westens in der Weltpolitik einnehmen wird”, sagte ein früherer hoher wirtschaftspolitischer Berater. Orbán habe sich von Putins Gesellschaftssystem beeindruckt gezeigt, bei dem die Wirtschaftselite vom russischen Machthaber abhängig ist und nur wenige unabhängige Akteure übrigbleiben.

Als die Umfragen einen deutlichen Sieg der Fidesz-Partei bei den Wahlen 2010 signalisierten, begann Orbán, seine Außenpolitik nach diesem neuen Konzept auszurichten. Das zeigt sich deutlich bei zwei Reisen, die er Ende 2009 machte. Zuerst besuchte er im November Putin, dann reiste er im Dezember nach China, wo er Xi Jinping traf, damals ein Mitglied der Führung der regierenden Kommunistischen Partei, jetzt Präsident auf Lebenszeit des Landes.

„Dies schaffte ein Gesamtpaket, das darauf hinweist, dass Orbán Möglichkeiten jenseits der traditionellen (westlichen) Allianzen hatte“, sagte eine dem Ministerpräsidenten nahestehende Quelle. Es sei bemerkenswert, dass sowohl die Chinesen als auch die Russen Orbán auf höchster Ebene empfingen, obwohl er damals formal nur Oppositionsführer war.

Das Treffen mit Putin löste eine Menge Spekulationen aus, auch weil Details bis heute unbekannt sind. Nach seiner Reise sagte Orbán in einem Fernsehinterview: „Man hatte das Gefühl, dass die ungarisch-russischen Beziehungen unter der Kontrolle einiger suspekter sozialistischer Persönlichkeiten stehen.“ Er gelobte, das zu ändern. Deshalb verkündete Orbán, er habe Putin gesagt, dass er „die ungarisch-russischen Beziehungen auf eine neue Grundlage stellen“ wolle.

Aus Orbán nahestehenden Quellen heißt es, das Treffen mit Putin habe dazu gedient, dass sich die beiden Verantwortlichen persönlich kennenlernen sollten. „Politik basiert oft auf persönlichen Beziehungen“, sagte ein Informant. „Beide Männer beendeten das Gespräch mit dem Gefühl, dass sie miteinander Geschäfte machen können.“ Das Treffen schickte auch eine „wichtige Botschaft an die Führungselite von Fidesz“ und signalisierte, dass die Russen „eine Zukunft in einem von Orbán geführten Ungarn sehen“.

Doch bevor die russisch-ungarischen Beziehungen wiederhergestellt werden konnten, mussten einige Knackpunkte gelöst werden.

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Allgemeine Probleme

Das nächste Treffen zwischen Orbán und Putin fand fast genau ein Jahr nach ihrem ersten Gespräch in Sankt Petersburg statt. Orbán, damals der amtierende Ministerpräsident, reiste im November 2010 nach Moskau. Der Besuch stand unter keinem guten Stern.

Das Treffen fand am 30. November 2010 im Gästehaus der russischen Regierung statt. Es begann nach dem üblichen diplomatischen Protokoll: Die beiden Ministerpräsidenten trafen sich im Vorzimmer, die Journalisten durften einige Minuten lang fotografieren und wurden dann weggeschickt. Orbán und Putin eröffneten das Treffen, Geschäftsessen inklusive.

Dabei warteten einige Überraschungen auf den ungarischen Ministerpräsidenten und seine Delegation, berichtet ein mit den Einzelheiten des Besuchs vertraute Quelle. Den wenigen Ungarn standen mehr als ein Dutzend Russen gegenüber. Die russische Delegation bestand im Wesentlichen aus allen Mitgliedern der russischen Regierung, die sich mit ungarischen Angelegenheiten befassten, sowie aus den Leitern staatlicher Unternehmen. Der Quelle zufolge war es für die Ungarn offensichtlich, dass die Anwesenheit einer so großen russischen Delegation kein Ausdruck des Respekts war, sondern ein Versuch, Druck auszuüben.

Nach der Verhandlungsrunde gaben die Sprecher der beiden Ministerpräsidenten eine kurze Erklärung ab; eine gemeinsame Pressekonferenz fand nicht statt. In Ungarn versuchte die Opposition, das Treffen als gescheitert zu verkaufen, weil es kein konkretes Ergebnis gab. Doch dass es keine wichtigen Vereinbarungen gab, lag vor allem daran, dass sich beide Seite weiterhin auf die Lösung ihrer bestehenden Konflikte konzentrierten.

Diese Streitfälle, die auf die bisherige sozialistische Regierung zurückgingen, waren größtenteils finanzieller Natur. Obwohl der ehemalige Ministerpräsident Ferenc Gyurcsány ein freundschaftliches und persönliches Verhältnis zu Putin pflegte, waren die Geschäftsbeziehungen zwischen den beiden Ländern während seiner Amtszeit immer komplizierter geworden. Die drei bedeutendsten Fälle betrafen große ungarische Unternehmen mit Verbindungen nach Russland: Dunaferr, Malév und Mol.

Zum einen war die russische staatliche Entwicklungsbank Wneschekonombank Gläubiger des Industriekonzerns Dunaferr und der Fluggesellschaft Malév, die beide finanziell unter Druck standen. Die Russen hatten Angst, dass sie ihr Geld verlieren würden. Sie wollten, dass der ungarische Staat ihnen ihre Verluste erstattet.

Der Fall der ungarischen Ölgesellschaft Mol lag anders. Ende März 2009, also in der chaotischen Zeit nach dem Rücktritt des ungarischen Ministerpräsidenten Gyurcsány, kaufte der russische Energieriese Surgutneftegaz 21,2 Prozent der Mol-Aktien von der österreichischen OMV. Mol befürchtete eine feindliche Übernahme und konnte mit der Unterstützung der ungarischen Regierung das russische Unternehmen daran hindern, seine Eigentumsrechte auszuüben. Das beleidigte die Russen, und sie bedrohten sogar den CEO von Mol, Zsolt Hernádi, wie eine von Wikileaks herausgegebene US-Diplomatendepesche enthüllte. Hernádi teilte darin den Amerikanern mit, der stellvertretende russische Ministerpräsident Igor Sechin habe ihm gesagt: „Mol kämpft nicht nur mit Surgutneftegaz, sondern auch mit dem russischen Staat, der über Werkzeuge verfügt, über die Unternehmen nicht verfügen.“

Nach dem Rücktritt von Gyurcsány nahm die ungarische Regierung unter der Führung von Gordon Bajnai (ebenfalls unterstützt von Gyurcsánys Partei) Verhandlungen mit den Russen über Malév und Mol auf. Geleitet wurden die Verhandlungen von Finanzminister Péter Oszkó, der gegenüber seinen russischen Amtskollegen eine entschiedene Haltung einnahm. „Aus diesem Grund gab es eine ein halbes Jahr andauernde Spannung“, sagte ein ehemaliger hochrangiger ungarischer Regierungsbeamter.

Die Ungarn versuchten, den Anteil von Surgutneftegaz an Mol zu kaufen. Laut Quellen, die hochrangige Positionen in der Bajnai-Regierung hatten, wurde bis zum Frühjahr 2010 eine vorläufige Einigung erzielt. Allerdings hatte die Regierung nicht genügend Budget für die Transaktion, so dass Bajnai den Deal nur mit parlamentarischer Zustimmung hätte durchsetzen können. Er dachte angesichts der bevorstehenden Parlamentswahlen, er könne eine so wichtige Entscheidung nur im vollen Konsens treffen, weshalb er auch Fidesz einbezog.

Doch Orbán weigerte sich zu kooperieren. Ein Fidesz-Ökonom, der Minister für Volkswirtschaft werden sollte, beriet sich mehrmals mit Oszkó über das Abkommen und schrieb schließlich in einer SMS, dass Fidesz die Mol-Transaktion nicht unterstütze (die Nachricht, die Oszkó einige Jahre später veröffentlichte, lautete: „Malév ja, Mol nein. Bye: V.”)

Die Regierung von Orbán nahm dann die Verhandlungen mit den Russen über eine Reihe kontroverser Fragen wieder auf, darunter auch das vorgelegte Mol-Abkommen. Schließlich, fast ein Jahr nach der Machtübernahme von Fidesz, kaufte die ungarische Regierung den Anteil von Surgutneftegaz. Damit schlug Orbán, der auch an der Stärkung seiner Position im Inland arbeitete, zwei Fliegen mit einer Klappe.

Das Ende der Allianz

Viktor Orbán war gerade einmal seit etwa einem Jahr an der Macht, als er zu begreifen begann, dass er seine eigene Regierung nicht vollständig unter Kontrolle hatte. Einige Regierungs- und Staatspositionen waren von Leuten besetzt, die nicht zu ihm, sondern zu seinem alten Freund und politischen Verbündeten Lajos Simicska loyal waren. Orbán und Simicska kannten sich schon seit dem Gymnasium, und lange Zeit waren sie unzertrennlich. Im Jahr 2010 hatten sie ihr Ziel erreicht, Fidesz zur stärksten politischen Kraft zu machen. Doch bald darauf geriet ihre Partnerschaft unter Druck.

Mit Orbán als Ministerpräsidenten konnte der Geschäftsmann nicht nur sein Wirtschaftsimperium führen, das dank staatlich finanzierter Bauaufträge weiter wuchs, sondern auch den politischen Prozess in Ungarn beeinflussen. Durch Mittelsmänner hatte Simicska direkten Einfluss auf Bereiche wie die Energiepolitik des Landes. Deshalb schien es damals so, als gäbe es in Ungarn zwei Regierungschefs, sagte ein Informant aus Regierungskreisen: „Es sah so aus, als ob Orbán der politische Ministerpräsident wäre, und es gab auch einen operationellen Ministerpräsidenten, Simicska.“ Orbán habe bereits im Jahr 2011 entschieden, diese Situation zu beenden.

Er wusste aber auch, dass er warten musste – denn ein innerparteilicher Kampf in seiner ersten Amtszeit könnte seine Wiederwahl gefährden. Nichtsdestotrotz bereitete er sich darauf vor, Simicska an den Rand zu drängen. Der Ausbau engerer russisch-ungarischer Beziehungen spielte dabei eine wichtige Rolle.

Der erste Schritt in diesem Prozess war der Kauf der Mol-Anteile von Surgutneftegaz. Simicska lehnte das Geschäft entschieden ab und versuchte mehrmals, Orbán davon abzuhalten. „Viktor sagte, dass er den Einfluss bei Mol haben muss“, erklärte eine Quelle. Simicska hielt dagegen, dass es sich nicht lohne, so viel Geld auszugeben. Dies war jedoch nicht der einzige Grund, warum er sich gegen den Kauf aussprach: Er wusste, dass seine eigene Position gegenüber Orbán schwächer würde, wenn sich die ungarische Regierung an Mol beteiligen würde. Denn bis dahin war es Simicska, der die Geschäfte im Dunstkreis von Fidesz leitete, aber mit diesem Schritt würde Orbán direkten Zugang zu einer wichtigen wirtschaftlichen Position erhalten.

Der Kauf der Mol-Anteile half Orbán nicht nur dabei, Simicska in den Hintergrund zu drängen. Der Deal diente auch dazu, ein Gegengewicht zu einem der reichsten und damit einflussreichsten Menschen Ungarns zu schaffen: Sándor Csányi ist der Chef der größten Bank des Landes und hat einen starken Einfluss auf Mol – unter anderem als Verwaltungsrat und Vizepräsident.

Durch den Erwerb der Anteile wurde der ungarische Staat zu einem der größten Aktionäre von Mol. Dies hing „wie ein Damoklesschwert“ über Csányi, sagte eine Quelle aus der Nähe von Orbán. Zwar wurde das Management der Ölgesellschaft praktisch durch ein Gesetz aus dem Jahr 2007 gestärkt, das einen Austausch der Geschäftsführung von Mol und anderen ähnlichen ungarischen Unternehmen nur mit einer sehr großen Mehrheit der Stimmen erlaubt. Für Fidesz mit der Zweidrittel-Mehrheit im Parlament wäre eine Gesetzesänderung jedoch kein Problem gewesen. Laut einer Regierungsquelle haben sie dafür sogar Entwürfe vorbereitet.

Neben dem Kauf von Mol-Anteilen gab es noch einen weiteren entscheidenden Deal, bei dem ein Gasunternehmen namens MET die Hauptrolle spielte. Dieses war ursprünglich 2007 von Mol gegründet worden und hat sich später zu einer internationalen Gruppe entwickelt. Neue Aktionäre erschienen in der Firma, darunter Russen und Personen, die mit der ungarischen wirtschaftlichen und politischen Elite verbunden sind. Mit einer Reihe von Entscheidungen haben die ungarischen Staatsorgane dem Unternehmen ab 2011 ein lukratives Geschäft ermöglicht.

Um es ganz einfach auszudrücken: Der ungarische Staat erhöhte die Menge an Gas, die aus dem Westen importiert werden konnte – was damals auf dem Weltmarkt billiger war – und gab MET die Erlaubnis, es mit einem beträchtlichen Gewinn weiterzuverkaufen. Die Eigentümer des Unternehmens haben nach einer Studie des Corruption Research Center Budapest in wenigen Jahren mehrere zehn Milliarden Forint verdient. Damals war Mol mit 40 Prozent der größte Anteilseigner der MET-Gruppe.

Der MET-Deal war ein wichtiger Meilenstein in den russisch-ungarischen Beziehungen. Obwohl der russische Staat nicht offiziell darin auftauchte, beharren ehemalige Regierungsbeamte und Experten der Energiewirtschaft darauf, dass Moskau darin involviert war. Im März 2009 beteiligte sich eine Offshore-Gesellschaft mit Verbindungen nach Russland an MET, später wurde auch ein russischer Staatsangehöriger Aktionär. Keine der beiden russischen Partner hat nachweislich Verbindungen zum russischen Staat, aber mit dem Öl- und Gasmarkt vertraute Informanten sagten, dass es praktisch unmöglich sei, dass sie ohne die Zustimmung des Kremls Geschäfte machten.

Laut einer der Quellen war das auffälligste Zeichen, dass die Russen nicht auf das Geschäft reagierten, obwohl es russische Interessen verletzte. Ungarn und Russland hatten einen langfristigen Erdgasliefervertrag unterzeichnet, der Ungarn verpflichtet, jährlich eine bestimmte Menge Gas von Russland zu beziehen. „Gazprom hätte sagen können, dass dies nicht in Ordnung ist, dass der langfristige Vertrag eingehalten werden muss“, sagte eine mit dem Energiemarkt vertraute Quelle. Dass kein Einspruch gegen diese Entscheidung erhoben worden sei, sei eine „zu große, zu wichtige Entscheidung“, die auf höchster Ebene in Russland getroffen worden sein müsse.

Eine ungarische Regierungsquelle, die mit der Geschichte vertraut ist, sagte, es sei offensichtlich, dass der Kreml eine Rolle beim MET-Deal gespielt habe. Die Transaktion war ein Zeichen dafür, dass die Russen bereit waren, nicht nur mit Kreisen der Ungarischen Sozialistischen Partei Geschäfte zu machen, sondern auch mit denen, die mit Fidesz verbunden waren. „Dies war die Zeit, in der die Russen die Kanäle öffneten, die zuvor blockiert oder in andere Richtungen geleitet worden waren“, erklärte er.

Der Atom-Deal

Anfang 2010 rückte Ungarn ins Blickfeld der führenden Atomenergieunternehmen, nachdem die ungarische Regierung den Ausbau des einzigen Kernkraftwerks des Landes in der Nähe der Stadt Paks in Zentralungarn angekündigt hatte. Vertreter von Amerikas Westinghouse, Frankreichs Areva und Firmen aus Japan und Südkorea besuchten nun oft Budapest, um mit Regierungsvertretern zu verhandeln. Doch im Herbst 2013 wurden die für die Gespräche zuständigen Beamten von ihren Vorgesetzten darüber informiert, dass weitere Verhandlungen keinen Sinn machen.

Was sie damals nicht wussten: Orbán und der Leiter der russischen Rosatom hatten bereits im August 2013 in einem Geheimtreffen beschlossen, dass das Erweiterungsprojekt Paks ohne öffentliche Ausschreibung an die Russen vergeben würde. Die Einzelheiten wurden in den folgenden Monaten im Geheimen ausgehandelt – unter Ausschluss vieler hochrangiger ungarischer Beamter, die eigentlich dafür zuständig gewesen wären.

Die Ankündigung des Deals, den Orbán und Putin im Januar 2014 in Moskau bekanntgaben, überraschte so auch viele in der ungarischen Regierung. Laut einer Quelle beeilte sich das ungarische Außenministerium, wenigsten nachträglich zu verstehen, welcher Beschluss da gefasst worden war. Die ungarischen Beamten, die dafür verantwortlich sind, dass die Europäische Union grünes Licht für das Projekt gibt, erfuhren erst aus den Nachrichten von der Entscheidung.

Dass Ungarn Russland für das Paks-Erweiterungsprojekt wählen würde, sei jedoch von Anfang an ein wahrscheinliches Szenario gewesen, erklärte ein ehemaliger hoher Regierungsbeamter. Das bestehende Kraftwerk in Paks war mit russischer Technologie gebaut worden, mit der die ungarischen Ingenieure vertraut waren. Darüber hinaus beinhaltete das russische Angebot auch ein vom russischen Staat gesichertes Darlehen, das seinerzeit attraktiver aussah als ein Darlehen von Geschäftsbanken.

Auch die Weltpolitik spielte bei der Entscheidung eine Schlüsselrolle. Selbst wenn sich Orbán und Putin nach November 2010 mehr als zwei Jahre lang nicht persönlich getroffen haben, so konnten in diesem Zeitraum die bilateralen Beziehungen gefestigt werden. Neben dem Start des MET-Energiegeschäfts wurden zu diesem Zeitpunkt auch die Verhandlungen über ein weiteres wichtiges Thema abgeschlossen. Ende 2012 kündigte Orban an, dass die Regierung die ungarische Gassparte von E.ON erwerben werde. Dazu gehörte auch der Vertrag zwischen Ungarn und Russland, der die langfristigen Gaslieferungen regelt. Danach konnte die ungarische Regierung direkt mit den Russen über die Gaslieferungen verhandeln. Dieser Schritt war auch für die Russen aufgrund der Konflikte zwischen E.ON und Gazprom wichtig. Nach Angaben eines für Energiefragen zuständigen hohen Ex-Regierungsbeamten waren die Russen froh, dass sie „einen Feind aus dem Markt drängen konnten.“

Darüber hinaus wurden auch Fortschritte bei den 2010 begonnenen Verhandlungen über andere problematische Fragen zwischen den beiden Staaten erzielt. Bei diesen Verhandlungen machten die Russen deutlich, dass sie vor allem an zwei Projekten interessiert sind: den anstehenden Investitionen in das Budapester U-Bahn-System und eben den Ausbau des Kernkraftwerks Paks.

Schließlich waren die Verbindungen zwischen den beiden Regierungen so eng geworden, dass die Vergabe des Paks-Erweiterungsprojekts an die Russen im Grunde genommen beschlossene Sache war. „Dies war eine politische Geste gegenüber den Russen“, sagte ein Informant aus der Nähe von Orbán. Dessen Konflikte mit westlichen Regierungen hätten auch seine Beziehungen zu den Russen intensiviert. Der ungarische Ministerpräsident wurde im Westen wegen seiner Maßnahmen gegen demokratische Institutionen, Medien und die Wirtschaft heftig kritisiert. Laut der Quelle „zog uns das mit großer Kraft nach Osten.“

Auch persönliche Affronts spielten eine Rolle bei der Verschlechterung der Beziehungen zum Westen. Hochrangige ungarische Regierungsbeamte und auch Orbán selbst fühlten sich von ihren westlichen Amtskollegen oft herablassend behandelt. Laut einem dieser Beamten haben sie, abgesehen von der offiziellen Anerkennung der ungarischen Souveränität, „uns nicht als gleichberechtigte Partner behandelt“. Dagegen seien die Russen „uns gegenüber immer respektvoll gewesen“.

Gleichzeitig war vielen ungarischen Regierungsvertretern auch klar, dass die Russen zwar an den Verhandlungstischen respektvoll waren, aber auch Informationen über innenpolitische Themen sammelten, von Zeit zu Zeit sogar mit zweifelhaften Methoden.

Etwa zum Zeitpunkt seines Rücktritts erzählte Ferenc Gyurcsány seinen Kollegen eine Geschichte, die seiner Meinung nach zeigte, wie gut die Russen über ungarische Regierungsvertreter informiert waren. Dies schloss er aus einem Gespräch zwischen ihm und Putin im März 2009, nur elf Tage vor seinem Rücktritt. Am Ende eines gemeinsamen Regierungstreffens in Moskau hatte Putin zu Gyurcsány gesagt, dass Russland seine Freunde immer ehre, und wenn sein Weg ihn jemals in eine andere Richtung führe, könnte er immer noch auf russische Freundschaft zählen. Der ungarische Ministerpräsident fand das seltsam. Nicht nur wegen des versteckten Jobangebots, sondern auch, weil er dachte, dass Putin offensichtlich von seiner Absicht wusste zurückzutreten. Doch das hatte er damals nur seiner Frau und einigen seiner engsten Helfer mitgeteilt.

Andere Regierungsbeamte behaupteten, die Russen hätten versucht, sie in zwielichtige Geschäfte zu verwickeln. „Die Russen waren auf der Suche nach einem Haken an jedem und prüften die Chancen von Erpressungen durch gemeinsame Geschäfte“, sagte die Quelle.

Solche Manöver hörten unter der Regierung Orbán nicht auf. Über eine stärkere russische Aktivität berichtete auch der ehemalige ungarische Geheimdienstagent Ferenc Katrein im Interview der ungarischen Nachrichtenseite Index.hu im vergangenen Jahr. Index enthüllte auch, dass einer der russischen Geheimdienste Kontakte zu einer ungarischen rechtsextremen Organisation unterhielt. Laut Quellen mit Kontakten zu US-Regierungsbeamten wurden die Aktivitäten der russischen Geheimdienste in Ungarn auch von den Vereinigten Staaten bemerkt. Ein Informant sagte, dass die USA auch über die engen Beziehungen Ungarns zu den Russen besorgt seien.

Orbán hingegen genießt laut Quellen, die ihm nahe stehen, eindeutig dieses Spiel mit den Großmächten.

Der Meister und die Diener

Im vergangenen Sommer wurden die europäischen Botschaften in Budapest von der Nachricht über eine hochkarätige Veranstaltung in der ungarischen Hauptstadt überrascht.

Die ungarische Tageszeitung Magyar Nemzet berichtete im Juni, dass Wladimir Putin im August nach Budapest reisen wolle, was aus mehreren Gründen ungewöhnlich war. Er war erst ein halbes Jahr zuvor zu einem offiziellen Besuch in der ungarischen Hauptstadt gewesen, und sein erneuter Besuch war merkwürdig, obwohl er mit seiner Teilnahme an der Judo-Weltmeisterschaft in Budapest offiziell begründet wurde – Putin ist Ehrenpräsident der Internationalen Judo-Föderation. Was seinen Besuch noch bemerkenswerter machte, war die Tatsache, dass er nach offiziellen Angaben von Orbán eingeladen wurde. Aber ungarische Beamte erzählten privat mehreren Diplomaten und anderen Kontakten, die Idee des Besuchs sei tatsächlich von Putin gekommen. „Dies war eine Botschaft an Orbán, dass Putin jederzeit in sein Land kommen könnte“, sagte ein anderer Diplomat.

Doch Orbán hat seinem engsten Kreis immer wieder gesagt, dass er eine ausgeklügelte Strategie verfolgt, die darauf abzielt, das Land aufzuwerten. Er machte auch deutlich, dass er sich viel mehr für internationale Angelegenheiten interessiert als für die ungarische Innenpolitik, die er langweilig findet. Orbán ist überzeugt, dass er über die notwendigen Fähigkeiten und Kenntnisse verfügt, um in diesem internationalen Umfeld erfolgreich zu sein. „Er glaubt, wenn er außerhalb Ungarns geboren worden wäre, hätte er ein Weltführer werden können“, sagte eine Quelle, die in den letzten Jahren mehrfach mit Orbán gesprochen hat.

Mehrere Personen aus dem Umfeld des Ministerpräsidenten sagen, dass das Selbstbewusstsein von Orbán in letzter Zeit sichtlich zugenommen hat. In der Vergangenheit habe er darauf geachtet, sich und seine Familie von jeglichen Korruptionsvorwürfen fernzuhalten. Das hat sich geändert. Kürzlich hat das Amt für Betrugsbekämpfung der EU schwerwiegende Unregelmäßigkeiten bei Projekten im Zusammenhang mit seinem Schwiegersohn festgestellt. Außerdem waren Unternehmen, die sich im Besitz seines Vaters und seiner Brüder befanden, heimliche Nutznießer mehrerer staatlich finanzierter Investitionen. „Ich frage mich, was mit seinem Gefühl für Gefahr passiert ist“, sagte eine Quelle, die Orbán seit Jahren kennt.

Andere fanden es ungewöhnlich, dass Orbán sich mit seinem Einfluss auf die Geschäftsinteressen von Personen, die der Regierung nahe stehen, brüstete. „Er hat früher nicht so geredet. Jetzt ist es, als wolle er beweisen, wie viel Macht er hat“, sagte eine Person, die dem Ministerpräsidenten nahesteht.

„Orbán hat ein sehr starkes Charisma, dem man sich nur schwer entziehen kann“, sagte eine Person, die mit ihm zusammengearbeitet hatte. Dieser Qualität sei er sich bewusst und setze sie meisterhaft ein. Er weiß, wann er loben und wann er schimpfen muss. Sogar hochrangige Regierungsbeamte „sehnen sich nach seiner Liebkosung wie Kinder“ – und die Minister sehen sogar eine Belohnung darin, nur mit ihm zu reden, so die Quelle. In dem streng hierarchischen System, das Orbán aufgebaut hat, stellen nur wenige Menschen seine Entscheidungen infrage. Nach Informationen, die aus seinem inneren Kreis durchgesickert sind, ist er ein sehr misstrauischer Mensch (eine Quelle benutzte das Wort „paranoid“), der wenigen Menschen anvertraut, was er tut und warum. „Nicht einmal Orbáns engstes Umfeld weiß, was er will. Sie hoffen nur, dass er weiß, was er tut“, sagte eine Quelle.

Viele bei Fidesz sind jedoch davon überzeugt, dass Orbán ein ausgeklügeltes politisches Spiel spielt. Laut einer regierungsnahen Quelle ist es Orbáns Strategie, jeden großen internationalen Akteur in Ungarn investieren zu lassen – denn „wenn sie Investitionen haben, haben sie auch etwas zu verlieren“. Deshalb versuche Orbán, neben den Russen auch engere Beziehungen zu den Chinesen und Türken aufzubauen. Sein oberstes Ziel sei es, die wirtschaftliche Abhängigkeit Ungarns von Deutschland zu lockern, erklärte die Quelle.

Andere glauben, dass Orbán seine russischen Kontakte nutzt, um größeren Einfluss im Westen zu erlangen. „Viktor erkannte, dass dies eine gute Verhandlungsposition gegen die EU war“, sagte eine Person, die Orbán nahesteht. Laut einer anderen Quelle schätzt der Ministerpräsident die wachsende Bedeutung Ungarns und die Tatsache, dass „Entscheidungen in europäischen Angelegenheiten ohne ihn nicht möglich sind.“

Die ungarische Regierung argumentiert, das einzige Ziel ihrer Annäherung an Russland sei, wirtschaftliche Vorteile für Ungarn zu erzielen. „Wenn wir mit ungarischen Regierungsbeamten sprechen, sagen sie immer, dass es nur um Geschäfte geht“, sagte ein Diplomat eines osteuropäischen Landes: Wenn die Ungarn es ernst meinten, dann verstünden sie die Situation völlig falsch, denn die Russen operieren nach der Logik des Imperiums. „Es geht nie nur um Geschäfte für die Russen“, sagte der Diplomat. „Es steckt immer die Politik dahinter.“


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Vera Fröhlich hat den Text aus dem Englischen übersetzt. Alexander von Streit hat ihn redigiert und gekürzt. Bildredaktion Martin Gommel (Fotos stammen von Direkt 36).