Ab 20. Februar 2018 können 464.000 SPD-Mitglieder per Briefwahl entscheiden, ob die SPD in eine neue Koalition mit der Union geht. Es gibt gute Argumente, die Große Koalition abzulehnen, aber auch gute, sie zu befürworten. In diesem Text beschreiben wir beide. Er ist eine Entscheidungshilfe für alle, die sich jetzt eine Meinung zur neuen Regierung bilden wollen - oder bilden müssen.
Mir ist inzwischen alles egal. Hauptsache, das Gezerre ist endlich vorüber und Deutschland bekommt eine neue Regierung.
Ich glaube, in einer Sache sind sich mittlerweile alle Deutschen einig: Eine Regierung zu haben, ist besser, als keine Regierung zu haben.
Aber sollte es wirklich diese sein? Die dritte Große Koalition in zwölf Jahren? Haben die vielen GroKos nicht erst die AfD ermöglicht? Und überhaupt: Warum sollte die neue GroKo etwas anders machen als die alte? Einerseits.
Andererseits: Viele europäische Länder warten darauf, dass Deutschland eine neue Regierung bekommt und man sich gemeinsam den Problemen der EU widmen kann. Ist das nicht auch wichtig? Und steigert dieses „Gezerre” nicht nur die Politikverdrossenheit? Überhaupt: Stehen in diesem Koalitionsvertrag nicht ein paar Sachen drin, die es wert sind, auch tatsächlich umgesetzt zu werden? Was sollte man denn der Familie sagen, die nicht mehr Kindergeld bekommt, wenn der Vertrag abgelehnt wird?
Die Fragen, die sich 464.000 SPD-Mitglieder gerade stellen müssen, um eine gute Wahl zu treffen, stellen sich noch mehr Menschen da draußen. Sie alle wollen wissen, wie es weiter geht.
Ja, wie geht es denn weiter?
Am 20. Februar verschickt die SPD-Parteizentrale die Abstimmungsunterlagen. Bis zum 2. März müssen die Antworten da sein. Zwei Tage später steht dann das Ergebnis fest. Theoretisch kann der Bundestag direkt danach Angela Merkel zum vierten Mal zur Kanzlerin wählen.
Ich bin SPD-Mitglied: Was passiert, wenn ich gegen diese Koalition stimme?
Wenn sich mehr als 50,01 Prozent der SPD-Mitglieder wie du entscheiden, wäre das das Ende der neuen Großen Koalition. Angela Merkel hätte keine Mehrheit im Bundestag und könnte nicht im ersten Wahlgang zur Kanzlerin gewählt werden. Theoretisch könnte sie nun nochmal versuchen, eine neue Koalition zu schmieden. Aber praktisch sind die Optionen erschöpft. Denn mit der AfD und der Linkspartei will die Union nicht koalieren. Die FDP wiederum will nicht „falsch regieren”, in einer Jamaika-Koalition.
Kann Merkel keine neue Regierung bilden, sieht das Grundgesetz sehr klare Regeln vor. Es gibt insgesamt drei Wahlgänge. Beim ersten wird auf Vorschlag des Bundespräsidenten ein Kandidat mit absoluter Mehrheit gewählt. Den würde Merkel sehr wahrscheinlich verlieren. Beim zweiten kann der Bundestag selbst innerhalb von 14 Tagen nochmal eigene Kandidaten aufstellen und mit absoluter Mehrheit wählen. Merkel würde diesen Wahlgang auch verlieren - weswegen es unwahrscheinlich ist, dass die CDU einen zweiten Versuch starten würde. Wahrscheinlicher ist, dass sie auf den dritten Wahlgang setzt. Hier kann ein Kandidat mit einfacher Mehrheit gewählt werden. Da die Unions-Fraktionen die meisten Abgeordneten stellen, stünden die Chancen für Merkel gut.
Was war nochmal der Unterschied zwischen absoluter und einfacher Mehrheit?
Absolute Mehrheit heißt, dass man mehr als die Hälfte der Stimmen hat. Einfache Mehrheit heißt, dass man einfach die meisten Stimmen von allen hat.
Was würde passieren, wenn Angela Merkel mit einfacher Mehrheit gewählt wird?
Genau das weiß niemand. Denn dann kann allein der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier entscheiden, ob er sie auch tatsächlich zur Kanzlerin ernennt oder Neuwahlen ansetzt.
Was ich nicht verstehe: Wenn Merkel nur mit einfacher Mehrheit gewählt wird, wie will sie dann regieren? Eine Regierung braucht doch die absolute Mehrheit, um Gesetze zu verabschieden?!
Stimmt! Angela Merkel würde dann eine Minderheitsregierung bilden, das heißt sie würde mit wechselnden Mehrheiten ihre Gesetze durchbringen. Vielleicht mal mit der SPD, mal mit der FDP, den Grünen.Hier hat Rico Grimm sehr ausführlich Vor- und Nachteile dieses Modells beschrieben.
Kann ich mir ja bei der kühl kalkulierenden, super vorsichtigen Angela Merkel, die wir in den vergangenen Jahren kennengelernt haben, gar nicht vorstellen!
Tatsächlich müsste sie dann ihren Politikstil verändern, sie müsste viel früher, viel offensiver um Stimmen werben. Will sie das? Sie hat auf jeden Fall in einem Fernsehinterview gesagt, dass sie für die Verfahren nach Artikel 63 „zur Verfügung stünde”. Das schließt eine Minderheitsregierung mit ein.
Aber vielleicht schielt sie ja eher auf Neuwahlen?
Kann sein. Möglich ist aber auch, dass sie diese Neuwahlen dann nicht mehr als Spitzenkandidatin erlebt. Denn wie schon weiter oben deutlich wird: Angela Merkel ist nicht mehr die unangefochtene Königin ihrer Partei. Die Jüngeren wie der parlamentarische Staatssekretär Jens Spahn, der Vorsitzende der CDU-Jugendorganisation Paul Ziemiak oder der Abgeordnete Carsten Linnemann verlangen nach einem Generationswechsel. Die Konservativen wollen ihre entschieden in die Mitte gerückte CDU wieder ein Stück nach rechts zurückholen. Es könnte sein, dass aus dieser Gemengelage heraus die CDU beschließt, in die Zukunft ohne Angela Merkel zu gehen.
Es gibt allerdings noch eine völlig andere Möglichkeit. Sie wäre neu, riskant, mutig.
Sie ist vielleicht deswegen auch völlig unrealistisch. Ulf Buermeyer beschreibt diese „Dritte Option” in seinem Blog: Wenn der dritte Wahlgang, bei dem eine einfache Mehrheit reicht, ansteht, schickt die SPD selbst noch einen Kandidaten bzw. eine Kandidatin ins Rennen: Andrea Nahles, die neue Fraktionschefin und womöglich auch die neue Parteivorsitzende. Durch diesen Zug würde die SPD die Union in ein Dilemma stürzen. Soll sie selbst Merkel in eine Minderheitsregierung wählen oder dabei zuschauen, wie Nahles – mit Stimmen von Grünen und Linken – Bundeskanzlerin wird?
Das passiert, wenn ich dagegen stimme. Aber was geschieht, wenn die Mehrheit der SPD-Mitglieder für den Vertrag stimmt?
Dann bekommt Deutschland eine neue Regierung.
Nee, ich meinte eigentlich, was dann mittelfristig passiert, in fünf, sechs Jahren. Viele lehnen ja eine neue Große Koalition ab, weil sie nur die politischen Extreme stärkt. Stimmt das wirklich?
Im Großen und Ganzen ja. Als von 1966 bis 1969 SPD und Union die Regierung bildeten, gewann nicht nur die NPD an Popularität, es bildete sich auch eine starke linke Opposition außerhalb des Parlaments. Während der ersten Großen Koalition 2005 bis 2009 legten Linkspartei und FDP zu - und der Aufstieg der AfD wurde durch die gefühlte Ununterscheidbarkeit der beiden großen Parteien in der Mitte erleichtert. Wohin reihenweise große Koalitionen führen können, zeigt das Beispiel Österreich. Die Sozialdemokratie ist dort implodiert, die hart rechte FPÖ stellt den Vizekanzler in der neuen Regierung unter Sebastian Kurz.
Bei der letzten Bundestagswahl haben SPD und CDU/CSU zusammen 14 Prozent verloren. Sie halten jetzt nur noch eine recht knappe Mehrheit im Bundestag. Dieses Ergebnis ließe sich schon als Abwahl dieser Koalition interpretieren. Würde die GroKo trotzdem kommen, könnte das die Unzufriedenheit mit diesen beiden Parteien der Mitte noch steigern.
Kevin Kühnert, der für die die Jusos, die sozialdemokratische Jugendorganisation, die Anti-GroKo-Kampagne anführt, argumentiert genau so: „Wie sollen wir uns als Partei absetzen und wieder eigene Positionen finden, wenn wir uns weiter an die Parteien ketten, von denen viele Wählerinnen und Wähler uns nicht mehr genug unterscheiden können?”
Ah, der kleine Kevin. Der ist nicht ernst zu nehmen.
Warum? Weil er jung ist? Weil er nein sagt? Weil er Kapuzenpullis trägt?
Wer herausfinden will, warum so wenige junge Menschen in die Politik gehen, sollte sich vielleicht mal ganz genau anschauen, wie in den vergangenen Wochen über Kevin Kühnert gesprochen wurde. Das Sat.1-Morgenmagazin hat eine Mini-Puppe gebastelt, Focus hat über seinen Rucksack berichtet und in einer politischen Talkshow wurde er behandelt wie ein ungezogener Junge. Ihn und seine Argumente wegen seines Alters abzulehnen, ist ziemlich billig.
Okay. Was spricht gegen die Große Koalition?
Prinzipielles und Inhaltliches.
Gerade die GroKo-Gegner innerhalb der SPD glauben, dass eine neue Koalition mit Merkel der Partei schadet. Sie argumentieren, dass die SPD zwar in der vergangenen Regierung sehr viel durchsetzen konnte, Stichwort Mindestlohn. Am Ende aber die Union davon profitierte. Deswegen wollen sie, dass sich die Partei in der Opposition erneuert. Was das im Einzelnen bedeutet, hängt von den jeweiligen Mitgliedern ab. Viele GroKo-Gegner in der SPD scheinen aber eher links zu sein: die Jusos, der Abgeordnete Marco Bülow oder Hilde Mattheis, ebenfalls Bundestagsabgeordnete. Sie hoffen, dass die SPD in der Opposition die Fehler der Vergangenheit wieder gutmachen kann, ganz konkret die Fehler der Agenda 2010.
Oh Gott, ist das nicht inzwischen 15 Jahre her? Wie lange wollen wir darauf noch herumreiten?
Viele Wähler haben diese Reformen der SPD nie verziehen, weil sie das, wofür die Partei steht, Sozialstaat, Schutz in Notsituationen, Hilfe, wo nötig, weil sie all das in ihren Augen in ihr Gegenteil verkehrt hat. Sie glauben der Führungsriege kaum noch.
Aber wieso? Der Kanzler war doch damals Schröder und der ist nun auch schon lange weg.
Aber sein Kanzleramtsminister war damals Frank-Walter Steinmeier, der selbst Kanzlerkandidat war. Olaf Scholz, Hamburgs Bürgermeister und vielleicht der nächste Finanzminister, hat die Reformen noch im vergangenen Jahr verteidigt, genauso wie Sigmar Gabriel. Gabriel war 1999 schon Ministerpräsident von Niedersachsen. Nahles ist seit 1997 im SPD-Vorstand. Martin Schulz gehörte dem SPD-Bundesvorstand ebenfalls seit 1998 an (bis zum 13. Februar). Selbst Ralf Stegner, SPD-Vize aus Schleswig-Holstein und die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer sind seit 15 bzw. 16 Jahren in führenden Ämtern der Landespolitik aktiv. Es gibt da also gewisse Kontinuitäten.
Aber wieso sollte eine Erneuerung denn in der Opposition besser gelingen als in der Regierung. Die Logik erschließt sich mir nicht.
Die Anti-GroKo-Fraktion argumentiert, dass man sich nur glaubhaft von einer Regierung distanzieren kann, der man nicht angehört.
Schon plausibel.
Ja, allerdings gibt es auch ein sehr gutes Gegenargument: Wie glaubwürdig ist es denn, erst um Stimmen zu werben, für Inhalte einzutreten und dann in dem Moment, in dem man diese Inhalte durchsetzen könnte, es nicht zu tun? „Die Bürger zeigen uns doch den Vogel”, sagte Fraktionschefin Andrea Nahles auf einer viel beachteten Rede beim SPD-Parteitag dazu.
Mmh, aber wie wir schon weiter oben festgestellt haben: So richtig viel SPD steckt ja nicht in dem Koalitionsvertrag, oder?
Diese Wertung würde ich dir überlassen, aber auch nochmal zu bedenken geben, dass die SPD dafür ja drei sehr wichtige Ministerien bekommen hat.
Aber, die haben doch nicht so viel Wert wie gute, konkrete Beschlüsse!
Wirklich?
„Was zum Beispiel hat die SPD gewonnen, wenn sie zwar die Benennung einer harten Obergrenze für Flüchtlinge im Koalitionsvertrag vermeiden konnte, dann aber ausgerechnet Horst ’Obergrenze* Seehofer als Innenminister für die Flüchtlingspolitik zuständig wird? Sehr wenig! Und was hat sie umgekehrt gewonnen, wenn der Kompromiss beim Arbeitsrecht mau erscheint, aber ein Sozialdemokrat dann als Minister für die Umsetzung verantwortlich wird? Sehr viel!” Das schrieb Gereon Asmuth in der Taz und das lassen wir hier jetzt einfach mal so stehen.
Mmh. Was ich auch bedenkenswert finde: Parteiwohl sollte eigentlich nicht über Landeswohl stehen. Und die SPD-internen GroKo-Gegner argumentieren ja häufig mit der Partei.
Nicht nur, sie hätten auch gerne höhere Steuern für Gutverdiener oder eben die Bürgerversicherung im Vertrag gesehen. Was zur Digitalisierung in dem Vertrag steht, halten sie für einen Witz und bei Europa hätten sie sich mehr Konkretes gewünscht. Außerdem würden sie argumentieren, dass Deutschlands Debattenkultur unter Angela Merkel verkümmert ist, weil sie für nichts steht. Kevin Kühnert: „Angela Merkel vertritt eine sehr prinzipienlose Politik und hat im Zweifelsfall jede Position schon mal vertreten.”
Allerdings könnte es tatsächlich sein, dass eine große Chance ungenutzt liegen bleibt, wenn die SPD-Mitglieder die GroKo ablehnen: eine Reform der Europäischen Union. Seit 30 Jahren hatte Frankreich keinen so germanophilen Präsidenten mehr wie jetzt mit Emmanuel Macron. Nur wenige Tage nach der Wahl in Deutschland hielt er an der Sorbonne eine Rede, die der Economist als eine “ausgestreckte Hand” bezeichnete. Wer ergreift diese Hand? Die CSU, die eher EU-kritisch ist? Die CDU, die seit der Finanzkrise 2009 mit harter Hand eine Sparpolitik durchgesetzt hat? Oder die SPD, die sich schon prinzipiell für die Pläne Macrons ausgesprochen hat?
In der jetzigen Konstellation wäre eine GroKo am ehesten in der Lage, über das Angebot Macrons ernsthaft zu diskutieren. Je nach Blickwinkel geht es also auch um Europas Wohl.
Was soll das heißen? Soll sich die SPD opfern zum Wohle Europas?
Woher weißt du, dass die SPD in diesem Fall untergehen, sich also „opfern” würde?
So ein Gefühl.
Die Befürworter haben auch ein Gefühl, das sie immer wieder anbringen: Erleichterung. Sie sind froh über die stabile, vernünftige, arbeitsfähige Regierung, die Deutschland in ihren Augen hat. Im Gegensatz etwa zu den USA.
Auch wieder wahr … Aber was steht denn im Koalitionsvertrag?
Es reicht von dichter, bürokratischer Behördenprosa über schwärmerische Zukunftsausblicke bis hin zu Stellen, die wir nicht anders als Bullshit-Bingo mit neuen Technologien beschreiben können: „Die Schwerpunkte der Mikroprozessortechnik und IT-Sicherheit wollen wir weiter stärken. Dazu kommen weitere Forschungsschwerpunkte, wie künstliche Intelligenz, Data Science, Digital Humanities sowie Blockchain-Technologie, Robotik und Quanten-Computing.” 177 Seiten hat der Koalitionsvertrag, 8.355 Zeilen.
Und, die habt ihr alle gelesen?
Ja, unsere Reporter haben sich ihre jeweiligen Fachgebiete genommen und die Ergebnisse dazu zusammengefasst. Diese Zusammenfassungen kannst du hier nachlesen. Sie sind aber, das liegt in der Natur komplexer politischer Sachverhalte, auch wiederum recht lang und manchmal detailliert. Deswegen konzentrieren wir uns auf drei Themen besonders: Soziales, Klima, Bildung.
Warum ausgerechnet diese drei Felder?
Weil wir während der Recherche unsere Leser und SPD-Mitglieder gefragt haben, welche Themen ihnen besonders wichtig sind, und da kamen diese drei heraus. Hinweis: Die Umfrage war nicht repräsentativ.
Was steht zu Sozialem und Gesundheit drin?
Als Überblick:
- Das sogenannte „Rentenniveau” soll stabil bei 48 Prozent des Einkommens bleiben. Fehlt dafür Geld in der Rentenkasse, kommt der Staat mit Steuern dafür auf.
- Der Solidaritätszuschlag wird für große Teile der Bevölkerung schrittweise abgeschafft (hier gibt Lisa Becke dazu mehr Informationen.
- Der Beitrag zur Arbeitslosenversicherung sinkt um 0,3 Prozent.
- In zwei Schritten wird das Kindergeld erhöht.
- Die Mütterrente wird ausgebaut.
- Der Staat zahlt mehr beim Zahnersatz dazu.
Wem bringen diese Beschlüsse etwas?
Das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) und das Institut zur Zukunft der Arbeit (IZA) haben das für zwei Szenarien berechnet. Bleibt die Wirtschaftslage gut, profitieren alle Altersgruppen einigermaßen gleichmäßig von 422 Euro im Jahr für die 26- bis 39-Jährigen (das sind vor allem Familien) bis hin zu 622 Euro für Menschen über 65. Verschlechtert sich die Wirtschaftslage, verschiebt sich das alles allerdings extrem. Rentner hätten dann einen Vorteil von mehr als 1.400 Euro im Jahr. Es sind also vor allem Familien und Rentner, die profitieren. Junge Menschen unter 25 haben von der neuen Regierung nichts zu erwarten.
Aber dafür wird doch sicher bei der Bildung etwas für sie getan?
In der Tat, in diesem Bereich (Forschung dazu gerechnet) ist Einiges in Bewegung. Das waren die wichtigsten Beschlüsse:
- Die neue Groko möchte einen Nationalen Bildungsrat einführen, der Ziele und Entwicklungen im Bildungswesen erarbeiten und konkrete Vorschläge machen soll.
- Es soll investiert werden: 11 Milliarden Euro für Bildung und Forschung. Dafür soll das Grundgesetz geändert werden: Der Bund soll sich stärker in die Bildungspolitik einmischen dürfen, die bisher vor allem Ländersache war. Seine Ziele: Ganztagsbetreuung und Digitalisierung.
- Ab 2025 haben Grundschulkinder einen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung.
- Glasfaser in jeder Region und jeder Gemeinde, möglichst direkt bis zum Haus. Einen Anspruch auf schnelles Internet soll es ab dem 1. Januar 2025 geben.
- Bis 2025 sollen die Ausgaben für Forschung 3,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausmachen.
Was bedeuten diese Beschlüsse für Bürger?
Zur Zeit kochen alle Bundesländer ihr eigenes Süppchen, wenn es um Bildung geht. Mit einem nationalen Bildungsrat könnten sie sich etwas annähern, das wäre vor allem für Eltern mit schulpflichtigen Kindern oder Studenten, die von einem Bundesland ins andere ziehen, ein Segen. Außerdem dürften endlich mehr Mittel in die deutschen Schulen fließen und gerade Kinder armer Eltern hätten in digital gut ausgestatteten Schulen Zugang zu Internet, Tablets etc. und könnten dort auch dank der Ganztagsbetreuung länger bleiben.
Ein Traum!
Joa … Wie immer gilt, Geld alleine hilft dann doch nicht. Damit sich die Investitionen in die Ganztagsschul- und Betreuungsangebote lohnen, braucht es genügend Lehrer und Sozialpädagogen, sonst können die Kinder nicht sinnvoll beschäftigt werden. Bis 2025, so eine Bertelsmann-Studie, fehlen rund 35.000 Grundschullehrer. Außerdem müssen die Lehrer digital fortgebildet werden. In die Ausbildung von Lehrern darf der Bund aber auch trotz der erneuten Lockerung des Kooperationsverbots nicht investieren. Die Milliarden für die Forschung sind wiederum nicht das erste Planziel, das sich eine von Angela Merkel geführte Regierung im Bereich Bildung auferlegt hat. Im Jahr 2008 rief sie in Dresden die „Bildungsrepublik Deutschland” aus. Zehn Prozent des BIPs sollten in die Bildung gehen. Damals war das ein ziemliches Fiasko.
Zwei Bedenken haben die meisten Experten bei dem flächendeckenden Ausbau des Internets: Reicht das Geld? Und ist der Zeitplan bis 2025 realistisch?
Die Telekom hat im August geschätzt, dass ein flächendeckender Ausbau rund 80 Milliarden Euro kosten würde, dem stimmte auch der zuständige Minister Alexander Dobrindt zu. Ein Großteil der Investitionen muss also aus der Industrie selbst kommen. Damit alle schnelles Internet bekommen, müssen vor allem erst einmal Leitungen verlegt werden. Bisher ging der Ausbau nur schleppend voran. Telekom-Chef Tim Höttges sieht noch ein ganz anderes Problem: Die Kapazitäten für den nötigen Tiefbau seien gar nicht vorhanden.
Das von vielen geforderte Digital-Ministerium soll es auch in der nächsten Legislaturperiode nicht geben.
Auf die Zukunft müssen wir wohl weiterhin warten. Was tut die Große Koalition bei Klima und Umwelt?
Wenig. Und das mit schwindendem Elan.
Schon im vergangenen Herbst war klar, dass Deutschland seine Klimaziele für 2020 verfehlen wird. Es existiere eine „Handlungslücke” bei den einzusparenden CO2-Emissionen. „Handlungslücke” ist Neusprech für EsSollteDringendMalJemandEtwasTunAberWirKönnenGeradeNicht. Die Große Koalition verschleiert so, dass sie diese Lücke selbst zu verantworten hat. Der Vertrag sieht vor, dass eine Kommission eingesetzt wird, die einen Plan ausarbeiten soll, der dann irgendwann mal beschlossen wird. Auf Deutsch: Stillstand.
Besser sieht es aus, wenn man sich das Programm zu Natur und Umwelt ansieht, denn CDU und SPD gehen erste Schritte in Richtung einer naturverträglichen Landwirtschaft und schichten EU-Agrarsubventionen dahingehend um. Auch bekennt man sich zum Glyphosat-Ausstieg. Der Haken auch hier: Der Ausstieg droht, auf die lange Bank geschoben zu werden, denn ein konkreter Termin wird nicht festgelegt.
Aber immerhin, den Insekten könnte es bald etwas besser gehen. Sie zu schützen, hat die GroKo als politisches Ziel definiert. Das ist neu und nach den Berichten über das Insektensterben auch dringend nötig.
Okay. Bei Digitalisierung und Klima findet die Zukunft nicht statt, aber immerhin bei Forschung und Bildung könnte etwas gehen. Du hattest zwar gesagt, dass ihr euch nur auf diese Themen konzentrieren wolltet …, aber was ist mit Europa? Das Thema schwebt ja immer wieder durch den Raum und so richtig fertig reformiert scheint mir das alles noch nicht zu sein.
Es gibt viele blumige Worte. Und das Kapitel steht sogar auch ganz am Anfang des Vertrags. Aber das war es dann auch fast schon. Union und SPD wollen die EU reformieren, sie bekennen sich zur europäischen Idee, bleiben in vielen Punkten aber sehr vage. Am Ende weiß man zwar, dass der neuen Regierung nach eigenem Bekunden sehr viel an Europa liegt - eine echte Vision für die EU haben Angela Merkel und ihre mögliche Regierung jedoch nicht zu bieten. Ganz im Gegensatz übrigens zu Frankreichs Präsident Emmanuel Macron. Auf dessen Vorschläge aber, die seit fast einem halben Jahr auf dem Tisch liegen, gehen Union und SPD nur sehr sporadisch ein.
Aber immerhin haben die Groß-Koalitionäre ein neues Wort erfunden: Investivhaushalt.
Sehr kryptisch (und arg verklausuliert) wird die Schaffung eines Haushaltes für die Euro-Zone in den Raum gestellt (allerdings nicht als solcher benannt). Dieses Projekt wurde von Macron vorgeschlagen, stieß bei der CSU auf Ablehnung und wäre der Start in eine engere Zusammenarbeit der Euro-Staaten. Wörtlich heißt es ab Zeile 230: „Dabei befürworten wir auch spezifische Haushaltsmittel für wirtschaftliche Stabilisierung und soziale Konvergenz und für die Unterstützung von Strukturreformen in der Eurozone, die Ausgangspunkt für einen künftigen Investivhaushalt für die Eurozone sein können.” Bitte den Wortlaut genau beachten: „sein können” heißt nicht, dass der Investivhaushalt auch „sein wird”.
Genaue Formulierungen spielen ja bei so einem Vertrag immer eine sehr wichtige Rolle.
Absolut. Für den Koalitionsvertrag am Wichtigsten ist die Unterscheidung zwischen „wollen wir” und „werden wir”. Beim zweiten steckt deutlich mehr Nachdruck dahinter.
Aber zurück zu Europa: Vielleicht ist gerade der Fakt, dass da nicht viel Konkretes drin steht, für viele in Europa eine gute Nachricht. Denn während der Jamaika-Sondierungsgespräche hatten viele von ihnen befürchtet, dass auf Druck von FDP und CSU Dinge im Koalitionsvertrag landen, die eine grundlegende Reform der EU im Grunde schon beenden, bevor sie begonnen hat.
Eine Sache möchten wir noch erwähnen. Sie wird vielleicht nicht den Lauf der Weltgeschichte beeinflussen, könnte aber für circa 2,4 Millionen Menschen in Deutschland ganz konkret etwas verändern. So viele Fahrer von VW-Dieselmotoren gibt es nämlich. Sie können sich darauf freuen, dass die Musterfeststellungsklage kommt.
Musterfeststellungsklage? Ich erinnere mich da an so eine Szene aus dem Kanzlerduell zwischen Schulz und Merkel.
Ja, genau! Darum geht es. Sie kommt jetzt tatsächlich, jedenfalls für festgelegte qualifizierte Einrichtungen. Damit sind sehr wahrscheinlich Verbraucherschutzzentralen gemeint. Bisher musste jeder betroffene VW-Kunde allein vor Gericht ziehen, wenn er Schadensersatz wollte. Nach Einführung einer Musterfeststellungsklage könnte es reichen, den Prozess einmal zu führen.
Und das bedeutet, dass bald die betroffenen Millionen VW-Kunden eine Entschädigung bekommen?
Wissen wir nicht. Aber in der Zukunft wird es Unternehmen dank dieser kleinen Reform deutlich schwerer fallen, sich mit vergleichsweise kleinen Strafen aus der Verantwortung zu stehlen.
Bevor die SPD Verhandlungen mit der Union aufgenommen hat, hatte sie ja einen Heidenlärm um die Bürgerversicherung gemacht. Taucht die im Koalitionsvertrag auf?
Nein.
Was?
Wir haben eine Vermutung, warum das so sein könnte. Dazu später mehr.
Wer zahlt das alles?
Du natürlich, der Steuerzahler. Manche Regierungen finanzieren ihre Ausgaben auch, indem sie neue Schulden aufnehmen. Das fordert die SPD-Linke seit Jahren - dagegen aber hat sich der mögliche neue Finanzminister Olaf Scholz schon ausgesprochen.
Die neue Regierung möchte allerdings auf Druck der Union die Steuerlast nicht erhöhen. Sollte sich die Wirtschaftslage verschlechtern, müsste Deutschland also neue Schulden aufnehmen. Alle Wünsche und Beschlüsse im Vertrag würden voraussichtlich um die 46 Milliarden Euro kosten.
Und würdet ihr sagen, dass hinter diesem Vertrag eine neue große Vision steckt?
Mit diesem Vertrag würde die neue Regierung auf jeden Fall keine „geistig-moralische Wende” einleiten wollen, wie es Helmut Kohl machen wollte, als er 1982 Kanzler wurde. Er wäre auch kein Aufbruch, wie ihn Rot-Grün 1998 verkörperte. Darin sind sich übrigens alle einig. Kein Lobbyverband, kein Politiker oder Politikjournalist scheint in diesem Vertrag einen großen Wurf zu sehen.
Aber, muss ja auch nicht.
Das stimmt. Es kommt ein bisschen darauf an, was man sich von der neuen deutschen Regierung wünscht.
Was steht da eigentlich nicht so drin?
Gute Frage!
Die große Koalition führt wieder kein Lobbyregister ein, das dafür sorgen könnte, dass die politischen Prozesse in Berlin transparenter werden.
Der Mindestlohn wird nicht erhöht, obwohl er aktuell unter der Armutsgrenze liegt.
Das Chancenkonto, eine prominente Idee der SPD taucht nirgendwo auf - und auch das Grundeinkommen ist zwar ein Thema, das in der Bevölkerung leidenschaftlich diskutiert wird, aber in diesem Vertrag fehlt.
Ist der Koalitionsvertrag rechtlich bindend?
Nein. Er ist – wenn überhaupt – nur politisch bindend. Aber noch nicht einmal das. Denn natürlich kann kein Abgeordneter des Parlaments mit Verweis auf den Koalitionsvertrag gezwungen werden, bestimmte Entscheidungen zu treffen. Er ist, jedenfalls dem Grundgesetz nach, sein eigener Herr.
In der Praxis allerdings gibt es einen Fraktionszwang, mit dem die Fraktionsvorsitzenden die Abgeordneten der eigenen Partei auf Linie bringen. Und so ähnlich muss man sich auch den Koalitionsvertrag vorstellen. Mit ihm verringern beide Parteien das Risiko und die Unsicherheit, indem sie sich auf bestimmte Vorhaben einigen. Ob diese dann auch umgesetzt werden (können), ist eine andere Frage. Mit dem Koalitionsvertrag schaffen die Parteien aber schon vor den ersten Regierungstagen in den oft intensiven Verhandlungstagen die viel zitierte „Vertrauensbasis” für die Zusammenarbeit.
Und halten sich die Parteien auch an den Koalitionsvertrag?
Wir haben keine Studie gefunden, die das systematisch untersucht hat. (Falls du eine kennst, sag Bescheid!) Aber Politiker setzen ihre Wahlversprechen erstaunlich oft um.
Ach komm.
Studie nach Studie kommt zu diesem Ergebnis. Parteien setzen nicht jedes Versprechen um, aber meistens deutlich mehr als 60, 70 Prozent. In Deutschland ist die Rate etwas niedriger, weil es hier eigentlich fast immer Koalitionsregierungen gibt und deswegen eine Partei so gut wie nie „durchregieren” kann. Buzzfeed Deutschland hat sich auch mal angeschaut, welche Versprechen aus dem Kanzlerduell denn im Vertrag gelandet sind und da gab es eine Sache, da waren sich Schulz und Merkel und große Teile der Bevölkerung einig, kurioserweise steht zu ihr kein Wort in dem Vertrag.
Bei welcher?
Dass die Türkei nicht der EU beitritt. Merkel ließ außerdem offen, ob die Rente mit 70 kommt, obwohl sie das im Kanzlerduell ausgeschlossen hatte. Schulz und die SPD wiederum haben das Wahlrecht für 16-Jährige nicht untergebracht.
Wie schneidet denn eigentlich der jetzige Vertrag im Vergleich zu Jamaika ab?
Ein direkter Vergleich ist schwierig, da Union, FDP und Grüne ja nie über Sondierungsverhandlungen hinausgekommen sind.
Moment mal, den Unterschied habe ich schon in den ganzen letzten Monaten nicht verstanden. Was ist der Unterschied zwischen Sondierungs- und Koalitionsgespräch?
Reinhard Bütikofer von den Grünen hat den Unterschied von Sondierungs- zu Koalitionsgesprächen schön auf den Punkt gebracht: „Da geht es dann auch um Atmosphärisches. Kriegt man den Eindruck, da ist jeweils auch der Wille vorhanden, die möglichen künftigen Partner als Partner in ihren Stärken auch ernst zu nehmen oder wird da signalisiert: Ihr seid eigentlich ein Klotz am Bein. Also seid froh, dass ihr überhaupt was kriegt.” Die Parteien prüfen ganz grundsätzlich, ob das was werden kann. Es ist das erste Date, das allerdings auch schon einmal vier Wochen dauern kann.
Gut zu wissen.
Die Ergebnisse der Sondierungsgespräche findest du hier. Wir konzentrieren uns auf fünf zentrale Unterschiede. Mit Jamaika …
- … hätte es eine Obergrenze für die Aufnahme von Geflüchteten gegeben. In einem Jahr sollten nicht mehr als 200.000 ins Land reisen.
- … hätte Deutschland mit dem Kohleausstieg begonnen. Über Details stritten sich die Verhandler aber bis zuletzt.
- … wäre die Versorgung der Menschen mit medizinischem Cannabis vereinfacht worden.
- … es hätte keine Abschaffung der sachgrundlosen Befristung gegeben, keine Lockerung des Kooperationsverbotes.
Ich habe gelesen, dass die SPD insgesamt sechs Ministerien bekommen wird. Weshalb bekommt eine Partei, die so wenige Wählerstimmen hat, so viele Ministerien? Und dann auch noch so wichtige wie das Außen-, Finanz- und Arbeitsministerium?
Weil die SPD Angela Merkel die Pistole auf die Brust gesetzt hat. Darauf deuten die Aussagen etwa des CSU-Verhandlungsführers Horst Seehofer hin. In der letzten Verhandlungsnacht hat die SPD diese drei Ministerien, zur letzten, aber dafür nicht verhandelbaren Bedingung für eine Koalition gemacht, angeblich immer mit Verweis auf den SPD-Mitgliederentscheid. Ohne diese Ministerien könne man die Basis nicht überzeugen. Schließlich haben es ja schon wichtige sozialdemokratische Projekte wie die Bürgerversicherung nicht in den Vertrag geschafft.
War an dem Argument etwas dran?
Es könnte sein. Denn als die ersten Sondierungsergebnisse bekannt wurden, haben sich sehr viele SPD-Mitglieder über sie beschwert. Zu wenig, zu profillos. Merkel habe die Sozialdemokraten über den Tisch gezogen. Genau zu diesem Zeitpunkt gewann übrigens auch die Anti-GroKo-Kampagne des SPD-Jugendverbandes richtig an Fahrt. Die drei sehr wichtigen Ministerien wiederum beruhigten die Gemüter etwas. Dass das Verhandlungsergebnis so schlecht nicht sein konnte für die Sozialdemokraten, zeigte die Reaktion einiger CDU-Politiker, die nun wiederum Merkel vorwarfen, schlecht verhandelt zu haben.
https://twitter.com/olavgutting/status/961175770952445952
Was nun? Ich bin SPD-Mitglied. Wie soll ich abstimmen?
Das ist deine Entscheidung.
Wo Du gerade da bist…
… möchten wir Dich um einen kleinen Gefallen bitten. Krautreporter hilft seinen Mitgliedern dabei, die Welt ein besser zu verstehen. Dazu schreiben wir aufwendige, rechercheintensive Artikel wie diese, die viel Zeit und Geld kosten. Da wir keine Werbung schalten, sind wir nur von Menschen wie Dir abhängig. Wenn du Hintergrundberichte wichtig findest, solltest du Mitglied von KR werden, ab fünf Euro im Monat, monatlich kündbar. Mehr Informationen bekommst du hier.
Mitarbeit: Sam, Gerrit, Franz, Benedikt, Peter, Cono, Hat, Svenja, Markus, Carsten, Julia, Onno, Kalle, Martin, Andreas, Chris, Gitte, Phillipp, Efthymis Angeloudis, Sebastian Christ, Bent Freiwald, Christian Gesellmann, Rico Grimm, Corinna Mayer, Susan Mücke, Dominik Wurnig. Redaktion: Sebastian Christ. Produktion: Susan Mücke. Fotoredaktion: Martin Gommel. Aufmacherfoto: Bundeskanzlerin Angela Merkel auf der Wahlparty der CDU zur Bundestagswahl 2017 im Konrad-Adenauer-Haus/Sandro Halank, Wikimedia Commons, CC-BY-SA 3.0.