Zeichnet sich das Ende des Syrien-Krieges ab? Geht es nach Politikern der Union, ist die Antwort klar. Denn sie wollen ab Sommer 2018 syrische Geflüchtete wieder in ihr Heimatland abschieben. Und das geht nur, wenn zumindest einige Teile des Landes als sicher bezeichnet werden können.
Aber auch manche Medien vermelden schon, dass der Krieg entschieden sei. Präsident Baschar al-Assad und seine Verbündeten in Moskau und Teheran hätten den Krieg gewonnen, heißt es – jetzt gehe es vor allem um den Wiederaufbau. Schätzungen über die Kosten für diesen Wiederaufbau belaufen sich auf 100 Milliarden bis 1 Billion US-Dollar. Syriens Wiederaufbau ist ein vielversprechendes Geschäft.
Die deutsche Wirtschaft scheint das ähnlich zu sehen. Als das Assad-Regime im August 2017 nach sieben Jahren Pause wieder eine internationale Handelsmesse in der syrischen Hauptstadt Damaskus eröffnete, wehte auch die deutsche Fahne auf dem Messegelände.
Gleichzeitig sind seit Eröffnung der Handelsmesse mehrere tausend Menschen in Syrien getötet worden. Durch Luftangriffe, Artilleriefeuer und Maschinengewehrsalven. Hunderttausende befinden sich noch immer unter Belagerung und werden buchstäblich ausgehungert.
Das klingt noch verdächtig nach Krieg, oder?
Schon. Andererseits vollzieht sich der Wechsel von Krieg hin zu Frieden wohl kaum von heute auf morgen. Frieden braucht seine Zeit.
Vermutlich sollten wir zuerst kurz klären, was mit „Frieden“ überhaupt gemeint sein kann. Häufig wird der Begriff „Frieden“ als Gegenspieler zum „Krieg“ verwendet: Wenn kein Krieg tobt, ist Frieden. Das nennt man einen „negativen Friedensbegriff“. Demgegenüber hat sich der positive Friedensbegriff herausgebildet. Darunter versteht man, dass auch die strukturell bedingte Benachteiligung von Menschengruppen einer Form von Gewalt entspricht und somit wahrem Frieden im Weg steht. Diese „strukturelle Gewalt“ umfasst gesellschaftlich etablierte Benachteiligungen, wie die ungleiche Verteilung von Einkommen oder Bildungschancen.
Zum Begriff des Krieges gibt es übrigens auch keine einheitliche Definition. Das Völkerrecht spricht von unterschiedlichen „bewaffneten Konflikten“. Im Fall Syriens könnte man von einem internationalisierten innerstaatlichen Konflikt sprechen.
Bevor die Proteste in Syrien im Jahr 2011 eskalierten, gab es keinen „internationalisierten innerstaatlichen Konflikt“ im Land.
Das stimmt. Von Frieden war Syrien unter den Assads dennoch weit entfernt. Wenn man einem positiven Friedensbegriff folgt, war Frieden unter der Diktatur der Assads und ihrer Baath-Partei schlicht nicht möglich. Denn die Benachteiligung einzelner – und damit einhergehend die Bevorzugung anderer – Bevölkerungsgruppen war strukturell tief verankert: Einflussreiche Positionen wurden überwiegend von Alawiten besetzt, einer religiösen Minderheit, der auch Präsident Assad angehört. Hunderttausenden in Syrien lebenden Kurden wurde die Staatsbürgerschaft verwehrt, und vielen Mitgliedern der turkmenischen Minderheit wurden höhere Bildungsabschlüsse verweigert. Dazu gesellte sich die durch zahlreiche Geheimdienste institutionalisierte Gewalt, welche die öffentliche Debatte über gesellschaftliche Konflikte im Keim erstickte.
Naja, auch in Deutschland werden Bevölkerungsgruppen systematisch benachteiligt. Denke doch nur einmal an den Zusammenhang zwischen Wohlstand und Bildungschancen. Heißt das, dass in Deutschland auch keiner echter Frieden herrscht?
So gesehen ist auch die Bundesrepublik von einem positiven Frieden noch weit entfernt. Daran wird schon deutlich: Die Kategorien „Krieg“ und „Frieden“ sind weder eindeutig noch total. Vielmehr bewegen sich Gesellschaften irgendwo zwischen diesen beiden Polen. Aber auch wenn der sogenannte Islamische Staat (IS) in Syrien territorial geschlagen ist und Bashar al-Assad vorerst nicht um seine Präsidentschaft bangen muss, heißt das nicht, dass ein Frieden wahrscheinlicher wird.
Moment. Ich habe schon länger nicht mehr das Geschehen in Syrien verfolgt – der IS ist geschlagen? Und Assad muss nicht mehr um seine Präsidentschaft bangen? Was ist passiert?
Der IS ist im Felde geschlagen. Das heißt, er hat die Kontrolle über den Großteil seiner ehemaligen Städte, Dörfer, Verkehrswege und Ölfelder verloren. Am Ende ist die Terrororganisation deshalb aber noch nicht. In ihrer fast dreijährigen Herrschaft über weite Teile Syriens und des Iraks konnte der IS ein beachtliches Vermögen anhäufen und ein weitläufiges Netzwerk von Unterstützern aufbauen. Viele diese Unterstützer waren Opportunisten, andere sind überzeugte Anhänger des IS geworden. Der IS-Terror ist nicht vorüber. Verheerende Anschläge und Angriffe der letzten Wochen in Syrien und dem Irak lassen daran wenig Zweifel.
Aber der Konflikt in Syrien ist weit mehr als der Krieg gegen den IS. Ein großer Teil von Syriens Norden und Nordosten wird von den Demokratischen Kräften Syriens (SDF) kontrolliert. Die SDF sind ein Bündnis unter Führung der kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG). Die USA haben die YPG und ihren politischen Arm, die Partei der Demokratischen Union (PYD), seit 2014 bewaffnet und finanziert. Mittels dieser Hilfe konnte die PYD ihre Vormachtstellung innerhalb der kurdischen Gruppen ausbauen.
Die USA haben Soldaten in das Gebiet entsandt und unterhalten zahlreiche Militärstützpunkte und sogar einen Flughafen im Osten Syriens. Angesichts der unberechenbaren Außenpolitik der Trump-Regierung weiß niemand, ob die USA die PYD und die von ihr geführten Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) dauerhaft unterstützen werden. Vorerst werden sie Syrien allerdings nicht verlassen: Die USA haben bereits verlauten lassen, dass sie die SDF weiter beschützen werden und ohnehin so lange in Syrien präsent bleiben wollen, bis der IS endgültig geschlagen ist.
Der Türkei ist die US-Unterstützung für die PYD ein Dorn im Auge. Denn die PYD ist eng mit der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) verbunden, die seit mehr als 30 Jahren gegen den türkischen Staat kämpft. Aus diesem Grund, und um sich Einfluss im Machtpoker um Syrien zu sichern, hat die Türkei im August 2016 in Zusammenarbeit mit verbündeten syrischen Rebellen ein Gebiet im Nordwesten Syriens besetzt. In diesem Gebiet bildet die Türkei seither Sicherheitskräfte und Rebellen aus, organisiert die Verwaltung und unterstützt eine alternative Regierung zu der des Assad-Regimes. Das Assad-Regime, Russland und der Iran tolerieren das türkische Einflussgebiet bisher. Dessen Zukunft aber steht, ähnlich wie die der Kurdengebiete, in den Sternen: Das Assad-Regime will die Kontrolle über ganz Syrien wieder herstellen, und es ist fraglich, ob sich die Türkei auf einen offenen Konflikt einlassen würde.
Alles hängt davon ab, ob und wie die Groß- und Regionalmächte sich einigen werden. Einer möglichen Einigung geht allerdings immer noch voraus, dass Fakten geschaffen werden.
Militärische Offensiven bestimmen in Syrien seit Beginn des Krieges deutlich mehr die Realität als Verhandlungen. Im Mittelpunkt des Interesses steht dabei aktuell Idlib, die letzte von der bewaffneten Opposition kontrollierte Provinz im Nordwesten Syriens. Die ländliche Provinz beherbergt Millionen von Binnenflüchtlingen. Kontrolliert wird sie vornehmlich von islamistischen und dschihadistischen Gruppen, insbesondere dem ehemaligen Al-Qaida-Ableger Hayat Tahrir al-Sham (HTS). Das Assad-Regime und seine Verbündeten haben seit Dezember 2017 die Luftangriffe auf Idlib intensiviert und eine Bodenoffensive begonnen.
Darüber hinaus harren bewaffnete Oppositionsgruppen in verschiedenen Enklaven und Landstrichen nahe der Hauptstadt Damaskus und im Süden des Landes aus.
Die letzte von der bewaffneten Opposition kontrollierte Provinz Idlib wird also von Dschihadisten und Islamisten beherrscht? Heißt das, die syrische Revolution ist gescheitert und übriggeblieben ist ein Terrorproblem?
Ja und nein.
Ja, die syrische Revolution ist insofern gescheitert, als dass die Forderungen nach Mitbestimmung, Menschenrechten und Würde kein Gehör gefunden haben. Stattdessen hat der Krieg, der dem Assad-Regime gelegen kam, die Diktatur in Syrien bloß noch repressiver werden lassen. Große Teile der Bevölkerung sind kriegsmüde und desillusioniert, aber die Opposition gegen das Assad-Regime ist deshalb nicht gebrochen. Die Zukunft ist ungewiss, doch die für Stabilität notwendige Versöhnung ist angesichts der hunderttausenden Toten und des Fortbestehens der Diktatur kaum zu erreichen.
Aber auch: Nein. Nicht alle Rebellen sind Dschihadisten. Allein in Idlib und den umliegenden Gebieten gibt es nach meiner Zählung 45.000 bewaffnete Oppositionelle. Der Widerstand vieler dieser Rebellen gegen den IS und den ehemaligen al-Qaida-Ableger Hayat Tahrir al-Sham (HTS) zeigt, dass es sich dabei nicht ausschließlich um „Gotteskrieger“ oder radikale „Islamisten“ handelt. Religion spielt für diese Gruppen – wie fast überall in der Region – eine wichtige Rolle, doch die Mehrheit von ihnen hat an Anschlägen gegen den Westen ebenso wenig Interesse wie an einer radikalen Auslegung islamischer Gesetzgebung.
Obwohl sie eine Minderheit darstellen, sind die Dschihadisten jedoch einflussreich und profitieren von der aussichtslos scheinenden Lage der bewaffneten Opposition.
Das klingt nach einem großen Durcheinander. Was steht einer Entwicklung hin zu Frieden konkret im Weg?
Das sind vor allem drei Aspekte.
- Das Assad-Regime kann und will keine Zugeständnisse machen.
Als der syrische Präsident am 30. März 2011, also mehr als vier Wochen nach Beginn der Proteste, seine Rede zur Lage der Nation hielt, erwarteten viele Beobachter, dass er Reformen ankündigen würde. Doch das Gegenteil war der Fall. Bashar al-Assad erklärte, dass Proteste gegen sein Regime eine Verschwörung seien und kündigte an, sie zu zerschlagen. Diesen Kurs hat er bis heute fortgeführt. Sein Regime fußt auf streng hierarchischen Netzwerken von Militärs, Geheimdiensten und wirtschaftlichen Eliten. Deren Loyalität speist sich aus dem Ausschluss anderer. Platz für Partizipation der Bevölkerung kann es in diesem System nicht geben.
Dem Assad-Regime fehlen außerdem die finanziellen Mittel, die syrische Bevölkerung zeitweise mit Zuwendungen ruhigzustellen, wie einige Golfmonarchien es dank ihres Öl- und Gasreichtums tun können.
- Es gibt keine geschlossene Opposition.
Die Millionen von Demonstrierenden sind daran gescheitert, ihre Stimme in einer geschlossenen Opposition zu organisieren. Bereits in den ersten Monaten nach Beginn der Proteste töteten Sicherheitskräfte und Militärs des Assad-Regimes mehrere tausend Demonstranten und radikalisierten die Situation. Viele der Demonstranten scheuten die Gewalt und zogen sich zurück. Andere gingen weiter friedlich auf die Straßen. Wieder andere griffen zu den Waffen. In diesem Chaos organisierten sich hunderte lokale Milizen und Komitees, die ihre Viertel und Dörfer verteidigten. Eine gemeinsame politische Vertretung bildete sich dabei nie heraus. Stattdessen gaben mehr und mehr radikale Gruppen den Ton an, die um Einfluss und Popularität rangen. Denn eines war allen klar: Ohne Unterstützung aus dem Ausland ließ sich kein Krieg gewinnen. So galt es, Geber aus dem Ausland für die jeweils eigene Gruppe zu gewinnen.
- Im Syrienkrieg geht es längst nicht mehr bloß um Syrien.
Syriens Krieg internationalisierte sich rasch. Bereits 2012 übernahm der Iran die Organisation von regimetreuen Milizen. Aus einigen Golfstaaten, der Türkei und den USA erreichten Geld und Waffen wiederum unterschiedliche bewaffnete Oppositionsgruppen. Später schickte der Iran eigene Soldaten und zehntausende Milizionäre nach Syrien, die gemeinsam mit der russischen Luftwaffe und der libanesischen Hisbollah dem Assad-Regime den Rücken stärken.
All diese Akteure haben das Schlachtfeld in Syrien nicht aus vermeintlich gutem Willen heraus betreten. Tatsächlich geht es um politische Macht und wirtschaftliche Interessen. Iran und Russland wollen den Zugriff auf Rohstoffe – und am Wiederaufbau mitverdienen. So verwurzeln sich mit Russland und dem Iran zwei Länder noch tiefer in Syrien, die bei Millionen von Syrerinnen und Syrern als Kriegsparteien verhasst sind.
Für die Türkei geht es in Syrien in erster Linie darum, ein Grenzregime aufzubauen, das die südliche Grenze vor Gruppen schützt, welche die Türkei „Terrororganisationen“ nennt. Darunter fielen und fallen neben dem IS vor allem die PKK und ihre syrischen Ableger.
Durch ihre militärische Präsenz sichert sich die türkische Regierung ein Mitspracherecht bei allen zukünftigen Entwicklungen, auch im Hinblick auf die Zukunft der kurdischen Autonomiegebiete. Um Mitspracherecht geht es auch den USA, deren Regierung sich nur zu gut darüber bewusst ist, dass Einflusssphären in erster Linie als Folge militärischer Tatsachen ausgehandelt werden.
Das klingt nicht gerade nach einer friedlichen Perspektive. Gibt es zumindest kurz- und mittelfristig Hoffnung, dass die Gewalt zurückgehen wird? In den Nachrichten wird von Deeskalationszonen und Verhandlungen in Genf, Astana und Sotschi berichtet.
Kurzfristig haben die sogenannten Deeskalationszonen tatsächlich zu einem Rückgang der Gewalt geführt. Russland, die Türkei, der Iran und auch die USA haben im Laufe des Jahres 2017 mehrere solcher Zonen in Syrien ausgerufen. Zwar ging dort die Gewalt zurück, letztlich erweisen sich diese Zonen jedoch als vorläufige Vereinbarungen, die militärische Kapazitäten für andere Gebiete freimachen. Seit das Assad-Regime nach der Offensive gegen den IS Soldaten aus dem Osten Syriens abziehen konnte, greift es nun genau diese Deeskalationszonen mit voller Härte an.
Auch die von den UN organisierten Gespräche in Genf und die Treffen von Russland, dem Iran und der Türkei in der kasachischen Hauptstadt Astana sind entweder ergebnislos oder dienen der Verhandlung über aktuelle Fronten. Ein politischer Prozess ist nicht erkennbar.
In diesem Sinn gibt es wenig Hoffnung auf einen Rückgang der Gewalt. Der Krieg in Syrien wandelt sich stetig — doch ein Ende ist nach wie vor nicht in Sicht.
Wie war das denn bei anderen Bürgerkriegen? Wann und wie endeten die?
Kein Bürgerkrieg ist wie der andere. Dennoch haben Konfliktforscher festgestellt, dass Bürgerkriege nachhaltig vor allem dann beendet werden konnten, wenn a) die Regierung von den Rebellen besiegt wurde und/oder b) die Bereitschaft der Regierung zur Machtteilung Verhandlungen ermöglichten.
Was können wir daraus für Syrien lernen?
Die Varianten a) und b) sind im Fall Syriens äußerst unwahrscheinlich bis undenkbar. Lernen können wir daraus dennoch etwas. Denn die Studien untermauern die Einschätzung, dass der Krieg in Syrien noch lange nicht am Ende ist: Ein Sieg der Rebellengruppen ist derzeit genauso unwahrscheinlich wie die mögliche Bereitschaft der Assad-Regierung, politische Macht teilweise an eben jene Gruppen abzugeben.
Was glaubst du denn: Wie endet dieser Krieg?
Zu Beginn dieses Textes habe ich erwähnt, dass die Kategorien „Krieg“ und „Frieden“ nicht eindeutig sind und Gesellschaften sich zwischen diesen beiden Polen bewegen. Die syrische Gesellschaft wird sich vermutlich noch sehr lange sehr nah am Pol „Krieg“ befinden. Um es kurz zu machen: In Syrien kursieren unzählige Waffen, die Korruption hat ein immenses Ausmaß und effektive Verhandlungen gibt es auch nach bald sieben Jahren Krieg nicht. Die Risse in der Gesellschaft sind enorm, eine angesichts der vielen Toten unaufhaltsame Rache-Spirale ist bereits in Gang.
Im Jahr 2018 wird das Assad-Regime vermutlich weitere Landesteile zurückerobern. Die bewaffneten Oppositionsgruppen und Dschihadisten werden sich auf diese Situation einstellen und einen Guerilla-Krieg führen, dessen Ende nicht abzusehen ist. Gleichzeitig bahnen sich neue Kriege im Krieg an, zum Beispiel im Süden Syriens, wo Israel zunehmend Luftangriffe auf vom Iran kontrollierte Gruppen und Einrichtungen fliegt.
Nicht zu vergessen ist das in Syrien immer vorhandene Überraschungsmoment: In einem Konflikt mit derartig vielen Akteuren kann bereits ein einzelner Schachzug das Kalkül aller Beteiligten ändern.
Rico Grimm hat bei der Erarbeitung des Textes geholfen; Theresa Bäuerlein hat gegengelesen; Martin Gommel hat das Aufmacherbild ausgesucht (Wikimedia / Kreml).