Das hat die Krautreporter-Leser in diesem Jahr bewegt
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Das hat die Krautreporter-Leser in diesem Jahr bewegt

Wir haben euch nach den Momenten gefragt, die 2017 euer Leben verändert haben. Nach dem Außergewöhnlichen. Für viele waren das Geburten oder Todesfälle – aber auch despotische Chefs und Taktstöcke.

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Managing Editor

Die gute Nachricht zuerst: Auch in Zeiten von Trump und Erdogan gibt es Menschen, die sich für Politik begeistern. Für Steffi (32) war das Bewegende 2017 die „Bundestagswahl und mein Eintritt in die SPD“. Britta (48) beeindruckt Pulse of Europe als Versuch, diejenigen Menschen zu einigen, die für Europa sind – was nicht immer einfach ist. Sie hat entdeckt, „wie schwierig es ist, so ein Feuer zu erhalten und in Bahnen zu lenken. Wie unendlich mühsam der Kompromiss, die Demokratie (sind). Aber es gibt nichts Besseres.“

Für Sophia (29) war die Welt 2017 „irgendwie sehr sehr komplex“. Sie hat sich in den vergangenen Wochen viel mit Rassismus beschäftigt und mit Privilegien auseinandergesetzt. „Leider bin ich mir immer noch nicht sicher, ob es im Allgemeinen möglich ist, als weiße Person Rassismus zu überwinden? Ist das Beste, was ich tun kann, Rassismus wahrzunehmen und mir dessen bewusst zu sein? Habt ihr Gedanken dazu?“ (Für Antworten an Sophia könnt ihr gerne unsere Kommentarspalte nutzen.)

Zwischenbemerkung: Wie kaum ein anderer hat der Schriftsteller und Kabarettist Joachim Ringelnatz (1883 bis 1934) die besonderen Momente im Leben in Worte gefasst. Und mit ihm leite ich dann auch zum Thema Tod über:

„Überall ist Ewigkeit.“
Joachim Ringelnatz

Dass der Tod nicht nur tiefe Wunden in unser Leben reißt, sondern auch Tröstendes mit sich bringt, hat Monika (55) gespürt. Ihr Vater ist in diesem Jahr überraschend gestorben. „Ich habe erfahren, wie großartig es ist, wenn eine Familie in Notzeiten zusammenhält.“ Dagegen hat Mariana (32) sich sehr hilflos gefühlt, als ein guter Freund mit Selbstmord drohte – und dann auch beging: „Ich habe damals bei Polizei, Selbsthilfeeinrichtungen und Notfallstellen Rat und Hilfe gesucht. Überall wurde ich mit den Worten abgelehnt: ‚Da muss er schon selbst kommen.‘“ Keine dieser Stellen habe ihr geholfen oder zumindest gesagt, wer die Betroffenen und Hinterbliebenen unterstützen könne.

Gerhard (49) ist „ein Schlagzeug spielender Teilzeitpapa und -unternehmer“. Er schreibt, dass das Haus seines Lieblingsdrummers in Kalifornien ein Opfer der Flammen wurde. Ein hochwertiges Musikstudio und mehrere Schlagzeuge verbrannten, Frau und Hund konnten sich retten. „Dies macht mir einmal mehr deutlich, wie rasch (m)ein sehr positiv gelebtes Leben in eine Notlage geraten kann, und worauf es jenseits von Eigentum wirklich ankommt – auf meine liebsten Menschen um mich herum. Dies lässt mich demütig werden … und das Leben bewusster leben und genießen.“

„Lieben macht das Leben wichtig“
Joachim Ringelnatz

Naturgemäß bringt eine Geburt viel Freude mit sich. Friedrich (72), der sich selbst einen „unruhigen Geist“ nennt, darf sich über eine weitere Enkelin freuen. Er fragt sich aber auch: „Wurde sie in eine besonders unsichere, ja, in eine gefährliche Zeit geboren?“ Gerda (40) fand es unglaublich schön, die Geburt mit ihrer Frau zu erleben und der Beziehung zu ihr eine andere Dimension zu geben. „Die Liebe für unser Kind hat unsere Beziehung allerdings auch um einiges politischer gemacht, da jeder Tag auch eine Auseinandersetzung mit heteronormativem Denken ist.“

Maria (55) hatte seit 30 Jahren ein nicht immer einfaches Verhältnis zu ihrer Tochter. Die machte sie 2017 zur Großmutter. In diesem Moment hat die Tochter „zum ersten Mal verstanden, dass ich sie bedingungslos liebe. Genauso, wie sie ihr Kind liebt. Das hat alles zwischen uns verändert.“

Mort (38) nennt die Geburt seiner Tochter „stellvertretend für den Augenblick, an dem sich mein Leben dieses Jahr maßgeblich am stärksten und deutlichsten verändert hat“. Für Johannes (33) war der bewegendste Augenblick des Jahres, als seine Frau ihm vorschlug, Elternzeit zu nehmen und die Zeit in Neuseeland zu verbringen. „Dies hat die Familie zusammengeschweißt und mich wieder ein wenig lockerer gemacht.“

„Sicher ist, dass nichts sicher ist, selbst das nicht.“
Joachim Ringelnatz

Krankheiten verändern das Leben und oft auch die Lebensqualität. Ralph (64) beantwortet die Frage nach seinem bewegendsten Moment 2017 knapp mit den Worten: „Die Diagnose schwerer Krankheit bei mir selbst.“ Musikpädagogin Heidi (49) ist seit anderthalb Jahren krank und beeindruckt, dass ihre Freunde nicht aufgehört haben, ihr zur Seite zu stehen. „Ich habe erfahren, dass Freunde tatsächlich unsere Wahlfamilie ausmachen und wir auf sie angewiesen sind, genauso, wie sie auf uns.“ Der Mann von Barbara (71) hat eine schwere Herzoperation überstanden. „Wir bekommen als Ehepaar noch eine ‚Verlängerung‘ und sind uns dadurch noch viel nähergekommen.“

Gaby (56) lebt auf dem Dorf und muss immer in die nächste Stadt fahren, um etwas zu erledigen. Ihre Leidensgeschichte: Kniescheibe gebrochen, Bandscheibenvorfall, ein Jahr am Rollator. „Heuer im August lernte ich wieder, ohne Rollator zu laufen. Aber die Zeit ‚mit‘ hat mir bewusstwerden lassen, wie abhängig man von Hilfe ist – auch im ÖPNV, von passenden Gehwegen, Bordsteinkannten usw.“

Im Jahr 2017 hat der jüngste Bruder von Marina (55) ihr erzählt, dass er Lungenkrebs mit Metastasen hat und nicht mehr lange leben wird. „All unsere Auseinandersetzungen über die vielen Jahre, unsere Unterschiedlichkeiten und Nickeligkeit wurden unwichtig. Letztlich zählen nur Vertrautheit und Liebe.“

„Die Zeit entstellt – alle Lebewesen.“
Joachim Ringelnatz

Einschneidendes kann auch in Jobs und Beruf passieren. „2017 war mein Jahr“, schreibt Anna (32). „Nach fünf Jahren mit einem narzisstisch-despotischen Borderline-Chef habe ich endlich den Mut gefunden zu kündigen. Ich bin unfassbar erleichtert und stolz auf mich, habe endlich wieder Energie und denke überaus positiv an meine Zukunft, auch wenn ich einen neuen (hoffentlich besseren) Job noch nicht gefunden habe.“

Romy (32) war krank und fragte sich, ob sie den richtigen Job hat. Sie traute sich aber nicht zu gehen. „Im März 2017 nahm mir mein Chef die Entscheidung ab und kündigte mir. Nach dem ersten Schock war ich irgendwie dankbar. Seither öffneten sich viele (andere) Türen für mich, und ich weiß, ich hätte keine Angst vor dem Ungewissen haben müssen.“

„… gerade auf das Zugeben kommt’s an im Leben.“
Joachim Ringelnatz

Steffen (58) hat in diesem Jahr begonnen, als Hospizbegleiter zu arbeiten. Er begleitete einen ihm zunächst fremden Menschen bis zum Tod. „Es hatte nichts Spektakuläres an sich. Nach dem Tod hatte ich den Eindruck, dass mir vieles für einen Moment nicht ganz so wichtig erschien und mir leichtgefallen ist, ich neben einer Trauer auch von einer fast beschwingten Heiterkeit ergriffen wurde. Ich lebe weiter.“

Überhaupt ziehen Krautreporter-Leser aus ihren Projekten viel Kraft: Martin (70), nebenamtlicher Kantor, durfte im Oktober an einem Dirigierseminar der Mendelsohn-Akademie in Leipzig teilnehmen. Stefan (53) saniert sein 50 Jahre altes Wohnhaus energetisch und hat eine „Website gefunden, die vor allem ein Selbstbauprojekt für eine Eis-Speicher-Heizung beschreibt und zum Nachbau anregt“. Lily (54) hat gemeinsam mit einem Dutzend Menschen Das Kapital von Karl Marx durchgeackert und schreibt: „Mein Blick auf unsere warenbestimmte Welt hat sich nochmal geklärt und geschärft.“

Ralf (62) hat ein zweites Mal geheiratet. Und nach vierzig Jahren in der Medienbranche und vier selbstverfassten Fachbüchern schrieb er zum ersten Mal einen belletristischen Titel: Das kleine Märchenbuch – Wie ein Buch Leben verändert.

Zum Abschluss möchte Erik (31) noch seinen bewegendsten Moment 2017 mit uns teilen: „Ein Sonnenuntergang, den ich im Kajak sitzend auf einem See der mecklenburgischen Seenplatte genießen konnte.“ Das kann ich gut nachvollziehen, dort auf dem Wasser ist es wunderschön.

Bleibt noch die Frage zu beantworten, was eigentlich mein eigener Moment 2017 war. Erst fiel mir nichts dazu ein, aber dann doch: Im Juli richteten wir die Überraschungsparty auf unserer kleinen Dachterrasse für eine Freundin aus, die 60 Jahre alt wurde. Zwei Dutzend Menschen kamen, um zu gratulieren. Fast alles eingeborene, auch schon in die Jahre gekommene Berliner. Tolle Gespräche, viel Gelächter und höchstes Lob für uns: „Supersause!“

Ich danke allen, die bei unserer Umfrage mitgemacht haben, auch denjenigen, die aus Platzgründen nicht zitiert wurden. Euch allen schöne Feiertage – und noch ein letzter Ringelnatz:

„Die besinnlichen Tage zu Weihnachten und zu Neujahr haben schon manchen um die Besinnung gebracht.“
Joachim Ringelnatz

Den Artikel gegengelesen hat Theresa Bäuerlein; Martin Gommel hat das Aufmacherbild ausgesucht (iStock / FilippoBacci).