Minderheitsregierungen sind besser als ihr Ruf – das zeigen diese sechs Fakten

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Minderheitsregierungen sind besser als ihr Ruf – das zeigen diese sechs Fakten

Ein Blick in andere Länder zeigt: Wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind, können Minderheitsregierungen funktionieren – sogar sehr gut.

Profilbild von Eine Liste von Rico Grimm

Was tun, wenn die aktuelle Regierung aus SPD und CDU platzt? Nach den desaströsen Wahlergebnissen für die Sozialdemokraten zur Europawahl, könnte es sein, dass die SPD selbst irgendwann raus will aus der Regierung. Eine Option: Neuwahlen. Aber eine zweite: Minderheitsregierung oder Regieren mit wechselnden Mehrheiten. Spiegel Online schreibt: „Wer sich dieser Tage mit führenden CDU-Politikern und Unionsbundestagsabgeordneten unterhält, hört eine Menge Sympathie für eine Minderheitsregierung.“

Noch sind das nur Gedankenspiele. Aber jedes Mal, wenn die deutsche Öffentlichkeit beginnt, über Regieren mit wechselnden Mehrheiten zu sprechen, geht es eigentlich immer nur um eine Frage: Ist das denn stabil? So war das auch im Dezember 2017, als die Koalitionsverhandlungen zwischen Grünen, FDP und CDU platzten. Der Vorwurf, der mitschwingt: Geht nicht, viel zu instabil. Das widerspricht aber völlig den Erfahrungen aus anderen Ländern, wie ich weiter unten zeige. Und nicht nur das: Im Grunde hat Deutschland schon seit Jahren eine Minderheitsregierung.

Um die Debatte zu versachlichen und nicht mit schlechten Argumenten eine vielleicht gute Lösung abzuräumen, habe ich sechs Punkte zusammengetragen, die Politiker und Bürger wissen sollten, bevor sie sich ihre Meinung übers Regieren mit wechselnden Mehrheiten bilden.

1. Deutschland hat seit Jahren eine Minderheitsregierung auf Bundesebene – und kaum einer merkt es

Nur wenige Gesetze in Deutschland kann der Bundestag allein beschließen. Die meisten aber betreffen direkt auch die Bundesländer, deshalb muss der Bundesrat sie billigen. In den ersten Jahrzehnten nach dem Krieg stellten die Koalitionen der Bundesregierung oft auch die Regierungen der Länder – so konnte man „durchregieren”. Nur: In den vergangenen Jahren hatte die schwarz-rote Bundesregierung diese Mehrheit nicht mehr. Auch Schwarz-Gelb (Union, FDP) musste ohne sie regieren. Wenn die CDU-Politikerin Angela Merkel mit ihrer Regierung neue Gesetze beschließen wollte, die der Zustimmung des Bundesrates unterlagen, musste sie sich erstmal eine Mehrheit in den Ländern suchen. Trotzdem gelang es ihrer Regierung, wegweisende Gesetze auf den Weg zu bringen, zum Beispiel die Neuordnung der Finanzen der Bundesländer.

2. Minderheitsregierungen sind nicht die Regel, aber auch nicht die Ausnahme

Wir Deutschen behandeln die Minderheitsregierung wie einen Sonderfall. Dabei ist Deutschland in der Frage der Minderheitsregierungen der Sonderfall. Politikwissenschaftler haben zusammengetragen, wie oft in westlichen Ländern mit wechselnden Mehrheiten regiert wurde:

Die Zusammenstellung zeigt, dass diese Regierungsform viel häufiger vorkommt, als sich mit Blick auf den Deutschen Bundestag vermuten ließ. Im Schnitt sind mehr als 30 Prozent aller Regierungen im Westen Minderheitsregierungen. „Herkömmliche Erklärungen verbinden Minderheitsregierungen mit politischen Krisen, Instabilität, Polarisierung, parteiinternen Querelen und dem Scheitern von Verhandlungen zwischen den Parteien”, schreibt der Wissenschaftler Kaare Strøm. Aber für solche Erklärungen gebe es keine Anzeichen. Minderheitsregierungen sind vielmehr „rationale Lösungen unter bestimmten Bedingungen”.

Die beiden Politikwissenschaftler Thomas Gschwend und Roni Lehrer weisen in einem Gastbeitrag zudem darauf hin], dass das Grundgesetz Minderheitsregierungen „explizit vorsieht”.

3. Das Wort „Minderheitsregierung” führt in die Irre

Gschwend und Lehrer gehen noch einen Schritt weiter. Sie glauben, dass der Begriff „Minderheitsregierung” nicht sehr treffend ist, weil er nur unzureichend beschreibt, was da wirklich geschieht. Es ist eben nicht so, dass da die wenigen in der Regierung den vielen im Land einfach so Gesetze aufdrücken können. Die Regierung unterliegt immer noch den gleichen Regeln wie alle anderen auch. Will sie ein neues Gesetz verabschieden, braucht sie dafür eine Mehrheit im Parlament. Sie ist in diesem Sinne immer noch eine „Mehrheitsregierung”. Der einzige Unterschied ist, dass sie diese Mehrheit nicht von vornherein hat, bei einer Koalition gesichert durch einen Vertrag. Deswegen schlagen die beiden Wissenschaftler einen anderen, besseren Begriff vor: Regieren mit wechselnden Mehrheiten.

4. Regieren mit wechselnden Mehrheiten kann genauso effektiv sein wie das Regieren mit einer festen Mehrheit

Das ist das wichtigste Argument, das die Gegner gerade vorbringen. Sie sagen, dass die Zeiten gerade sehr wechselhaft seien, dass Europa vor großen Herausforderungen stehe, dass Deutschland in der Außenpolitik Ruhe vermitteln müsse und deswegen Regieren mit wechselnden Mehrheiten nicht angebracht sei. Die Skeptiker glauben nicht, dass diese Art zu Regieren effektiv ist und einem Staat Stabilität verleihen kann. Dabei zeigt schon die Tabelle oben, dass Minderheitsregierungen nicht per se instabiler und schlecht für das jeweilige Land sind. Dänemark, Norwegen, Irland, Neuseeland sind alles keine Länder, die regelmäßig ins Chaos abrutschen und unregierbar sind.

Gerade das Beispiel Dänemarks zeigt, dass Regierungen mit wechselnden Mehrheiten sehr effektiv sein können. Bis weit in die 1990er Jahre hinein gelang es den (Minderheits-)Regierungen des Landes nicht, wichtige Reformen zu verabschieden, schreibt der Politikwissenschaftler Christoffer Green-Pedersen. Dann aber kam es unter Führung einer sozialdemokratischen Minderheitsregierung zum „Dänischen Wunder”. Die Arbeitslosigkeit sank in wenigen Jahren, die Inflation fiel, das Land erwirtschaftete einen Haushaltsüberschuss. Ende des Jahrtausends, als das britische Magazin The Economist Deutschland zum „kranken Mann des Euros” erklärte, stand Dänemark hervorragend dar.

Drei Dinge waren aus der Sicht von Green-Pedersen entscheidend für diesen Erfolg: Erstens hatten sich die Sozialdemokraten in die politische Mitte bewegt und konnten so mit verschiedenen Oppositionsparteien verschiedene Politiken umsetzen. Zweitens hatten sie ihre Gesetzesvorschläge mit der Verabschiedung des Haushalts verknüpft, wodurch es den anderen Parteien viel schwieriger fiel zu blockieren. Drittens – und dieser Punkt trifft auch auf Deutschland gerade zu – konnten die Sozialdemokraten auf verschiedene Mehrheiten zurückgreifen. Wenn sie ihr Gesetz mit Partei A nicht durchbringen konnten, gelang es vielleicht mit Partei B. Die gleiche Situation gäbe es im Falle einer schwarzen Minderheitsregierung, die, als Beispiel, zusammen mit der FDP und Grünen den Kohleausstieg vorantreiben kann (der für die SPD keinen Vorrang hat) und mit der SPD und Linkspartei wiederum den Mindestlohn anheben beziehungsweise entbürokratisieren könnte (den die FDP komplett abschaffen will).

Schaut man sich alle Länder an, nicht nur Dänemark, zeigt sich ebenfalls, dass Regieren mit wechselnden Mehrheiten nicht zum Stillstand führen muss. Eine Studie hat nachgezählt: Minderheitsregierungen sind genauso erfolgreich wie Mehrheitsregierungen darin, Gesetze zu verabschieden. Es gibt, gemessen an der Anzahl der Gesetzesinitiativen, praktisch keinen Unterschied zwischen beiden Systemen.

5. Aber im Bundestag wird es auch mit einer Minderheitsregierung nicht plötzlich zu feurigen Abstimmungsschlachten kommen

Ein Argument für die Minderheitsregierung kommt immer wieder: Sie würde das Parlament aufwerten und nach Jahren der Merkel-Schläfrigkeit wieder echte politische Debatten forcieren. Stefan Kuzmany zum Beispiel führt die Entscheidung über die Ehe für alle ins Feld, bei der im Sommer 2017 jeder Abgeordnete frei nach seinem Gewissen entscheiden konnte: „Endlich lohnte es sich einmal wieder, dieses Parlament bei der Arbeit zu beobachten, da wurden leidenschaftliche Reden gehalten, da waren nachdenkliche Töne zu hören und scharfe Polemik, und niemand konnte vorher genau sagen, wie es ausgehen würde.”

Ein Blick in die Literatur zeigt aber, dass solche Abstimmungen im Bundestag die Ausnahme bleiben werden. Denn Regierungen ohne eigene Parlamentsmehrheit versuchen natürlich, vor einer Abstimmung Mehrheiten zu organisieren. Kein Regierungschef, der an seinem politischen Überleben interessiert ist, würde Woche für Woche aufs Neue, bei jedem Gesetz, zittern wollen, ob er es durchbekommt.

6. Politische Systeme, die Deutschland ähneln, bringen oft Minderheitsregierungen vor

1990 hat der norwegische Politikwissenschaftler Kaare Strøm das Standardwerk über Regieren mit wechselnden Mehrheiten vorgelegt. Als er 323 Regierungen in 15 westlichen Ländern miteinander verglichen hatte, sah er, dass Systeme, in denen die Opposition von Haus aus mehr Einfluss hat, wahrscheinlicher eine Minderheitsregierung hervorbringen. Für Strøm drückte sich der Einfluss vor allem in ständigen, spezialisierten Ausschüssen aus, die die Arbeit der Regierung im Parlament begleiten und von allen Parteien besetzt werden. Der Deutsche Bundestag mit seinen 24 ständigen Ausschüssen und mit einem Untersuchungsausschuss steht fast prototypisch für so einen Einfluss.

Aber eine zweite Sache war noch viel wichtiger. Strøm entdeckte, dass Minderheitsregierungen umso wahrscheinlicher sind, je höher die decisiveness von Wahlen ist. Er meint damit die Wahrscheinlichkeit, mit der Wahlen direkt und tatsächlich zu neuen Regierungen führen. Deutschland hat eine hohe decisiveness, so Strøm.

Anders ausgedrückt: Wenn Parteien darüber entscheiden, in eine neue Koalition zu gehen, werden sie immer betrachten, wie sie bei den nächsten Wahlen abschneiden könnten. Wenn Regierungskoalitionen vergleichsweise einfach „vorhersehbar” sind, fallen diese Überlegungen umso mehr ins Gewicht. Parteien schauen ganz einfach, ob Regieren ihnen mehr nützt oder der Gang in die Opposition.


Redaktion: Theresa Bäuerlein; Schlussredaktion: Vera Fröhlich; Bildredaktion: Martin Gommel.