Dutzende Menschen ducken sich vor den Wasserwerfern. Eine Frau mit pfirsichfarbenem Kopftuch wird von Journalisten weggetragen, über ihre Wange fließt Blut. Während eine Gruppe Polizisten sich unter sprühenden Funken daran macht, die schweren Eisentore der damals größten Tageszeitung der Türkei aufzuschneiden, protestieren hunderte Menschen. Sie rufen: „Die freie Presse kann nicht zum Schweigen gebracht werden!“ Die Polizei setzt immer noch auf ihre Wasserwerfer, sprüht Tränengas, versucht, die Demonstration aufzulösen. Als das Eisentor endlich offen ist, stürmen dutzende Polizisten auf das Gelände der regierungskritischen Zeitung Zaman (deutsch: Zeit) in Istanbul. Das alles sieht man in Videos von jener Freitagnacht im Frühjahr 2016, 5. März.
Schon die Sonntagsausgabe der Zaman erschien auf Regierungslinie. Ein lächelnder Erdoğan, daneben der Titel: „Historische Begeisterung über Brücke“. Das Titelblatt ziert eine Geschichte über den Bau einer Brücke – über die Ausschreitungen nur zwei Tage zuvor findet sich kein einziges Wort in der Wochenendausgabe von Zaman.
Das war das Ende der größten Oppositionszeitung der Türkei. Ihre Auflage betrug vor der staatlichen Übernahme um die 650.000 Stück. Nach einem gerichtlichen Beschluss wurde der Chefredakteur abgesetzt, wichtige Kolumnisten mussten gehen. Die konservativ-islamistische Zeitung war ein wichtiges Sprachrohr des Predigers Fetullah Gülen, einst enger Verbündeter Erdoğans und mittlerweile größter Feind des türkischen Präsidenten und angeblicher Führer einer Terrororganisation. Der Konflikt reicht über die Grenzen der Türkei hinaus, denn die Zaman hat Ableger in anderen Ländern. Eine davon ist die deutsche Zaman Almanya.
Auch sie überlebte nicht, der Druck wurde zu groß. Denn nicht nur in der Türkei müssen sich regierungskritische Journalisten vor Repressalien fürchten. Auch hier in Deutschland werden sie bedroht, mal vom türkischen Geheimdienst, mal von Zivilisten in ihrer eigenen Community.
Eine Zeitung muss zumachen
„Ich habe mir mehr Solidarität erwartet“, sagt Dursun Çelik (sprich: Tschelik), blau gestreiftes Hemd, müde Augen. Er sitzt in einem orientalischen Café am Görlitzer Bahnhof in Berlin. Geboren ist er in der Türkei, studiert hat er in Wien. Vor gut einem Jahr musste der ehemalige Chefredakteur seine Zeitung Zaman Almanya in Berlin zumachen. Solidaritätsbekundungen deutscher Medien blieben aus. Bis heute hat Çelik, der seit vielen Jahren in Deutschland lebt, keinen neuen Job in der Medienbranche gefunden.
Nachdem die türkische Mutterzeitung Zaman auf regierungsfreundlichen Kurs gezwungen wurde, machte sich die Deutschland-Ausgabe selbstständig. Çelik wollte unabhängig bleiben. Immerhin hatte die Zeitung laut eigenen Angaben 33.000 Abonnenten in Deutschland. Einige Zeit lang klappte das auch. Bis die Drohungen zu viel wurden: „Jeden Freitag klingelte das Telefon. Der Anrufer beschimpfte uns mit Worten, die ich nicht wiederholen möchte”; sagt Çelik. Im Berliner Büro wurde drei Mal eingebrochen. Ob dahinter Kriminelle stecken oder doch der türkische Geheimdienst, das kann niemand genau sagen.
Es wurde gefährlich, die Zaman Almanya im Briefkasten liegen zu haben. Eine Abonnentin habe ihn angerufen und gebeten, ihr Abo sofort zu beenden, sagt Çelik. Sie sei bei ihrem letzten Türkei-Besuch 15 Tage lang dort festgehalten worden. „Das war ein deutliches Zeichen für mich“, sagt er.
Çelik ist in den Augen türkischer Nationalisten ein Vaterlandsverräter, denn er ist Teil der Gülen-Bewegung. Die lose Vereinigung tritt weltweit auf, baut Schulen und Gebetshäuser. Nach außen hin gibt sie sich modern und weltoffen, Kritiker sehen in der Bewegung allerdings eine islamistische und sektenähnliche Organisation auf Mission. Die Gülen-Bewegung wird von Erdoğan für den Putschversuch im Sommer 2016 verantwortlich gemacht. Seitdem macht die türkische Regierung Jagd auf Gülen-Mitglieder. Wer die Regierung kritisiert, dem wird auch ohne Beweise eine Nähe zu Gülen oder der Terrororganisation PKK unterstellt. Das ist auch gefährlich für türkischstämmige Journalisten in Deutschland: Sie werden bedroht, beschimpft und können vielleicht nie wieder in die Türkei einreisen. Erdoğan hat es über die Grenzen der Türkei hinaus geschafft, die Einschüchterung regierungskritischer Journalisten sicherzustellen.
Das engmaschige System der Einschüchterung
Wie genau er das von Ankara aus schafft, weiß Kerem Schamberger. Er ist Kommunikationswissenschaftler an der Ludwig-Maximilians-Universität in München und politisch aktiv. Letztes Jahr verteilte er Flyer für ein „Nein“ beim türkischen Referendum, das Erdoğan noch mehr Macht verschaffte. Deswegen, und weil er die türkische Regierung offen kritisiert, ist es für ihn derzeit zu gefährlich, in die Türkei zu reisen. Dabei lebt ein Teil seiner Familie dort.
„Zum einen sind die Strukturen des türkischen Geheimdienstes MIT in Deutschland stark ausgebaut“, erklärt er. Einem Bericht der Zeitung Die Welt zufolge sollen 6000 Informanten in Deutschland arbeiten. Das sind nur die Personen, die nicht hauptberuflich für den Geheimdienst spitzeln. Der Geheimdienst schreibt Schwarze Listen, auf denen vermeintlich Terror-nahe Organisationen, Unternehmen und Privatpersonen zu finden sind. Eine Liste wurde etwa im Juli dem Bundeskanzleramt übergeben. Mit dabei: Ein Kiosk aus Berlin und der Autohersteller Daimler. Eine andere Liste hat der türkische Geheimdienst Anfang 2017 dem BND übergeben.
Die türkische Community spielt ebenfalls eine große Rolle. Schamberger erklärt: „Es gibt ein verbreitetes Denunziantentum. Seit der Gründung der Republik in der Türkei gibt es eine starke Hörigkeit gegenüber staatlichen Stellen. Das ist in weiten Teilen der Bevölkerung verankert.“ Diese historisch gewachsene Hörigkeit mache sich die türkische Regierung zu nutzen.
Nach dem Putschversuch 2016 riefen Politiker der Erdoğan-Partei AKP auf, Namen von vermeintlichen Gülen-Anhängern und PKK-Mitgliedern der Polizei zu melden. Die Regierung erstellte eigene Websites, um das Denunzieren noch einfacher zu machen. Regierungshörige Medien tragen ebenfalls zu dem System bei.
Die Tageszeitung Sabah etwa richtete eine Hotline ein, bei der sich Leser melden sollen, wenn sie einen Verdacht hegen. Die Sabah betreibt auch ein Online-Medium in Deutschland. Die Verdachtshotline war eine Nummer aus Frankfurt. Durch dieses Netzwerk ist es für die Regierung einfach, die Namen unliebsamer Gegner in der Türkei und auch in Deutschland zu sammeln. Und das hat weitreichende Folgen, die weit über die Pressefreiheit hinausgehen.
Unternehmen hüten sich davor, mit Regierungskritikern Geschäfte zu machen. „Einer unserer Werbekunden wurde besucht. Die haben ihm gesagt, wenn er weiter bei uns Werbung schaltet, kann er nicht mehr in die Türkei reisen und Geschäfte dort kann er vergessen“, erzählt Çelik.
Die Zaman Almanya geriet durch fehlende Werbeeinnahmen noch mehr in Bedrängnis. Im Winter 2016 war es dann vorbei. Die Redakteure waren erschöpft, der Druck wurde zu stark, Einnahmen gab es kaum noch. War es im Nachhinein die richtige Entscheidung, die Zeitung aufzugeben? „Ich denke schon. Wenn eine Zeitung der Zielgruppe nicht mehr helfen kann, hat sie keine Bedeutung mehr,“ sagt Çelik.
Erdoğans Strategien
Am Beispiel der Zaman Almanya und des Regierungskritikers Çelik wird die Strategie des türkischen Regierungsapparates und ihrer zivilen Unterstützer deutlich. Oppositionelle Zeitungen werden mundtot gemacht, indem ihnen die wirtschaftliche Grundlage entzogen wird. Wenn aus Angst niemand Werbung schaltet und sogar ein Abo zum Risiko wird – wie soll eine Zeitung dann überleben?
Um hochwertigen Journalismus zu liefern, braucht man Geld. Vor allem, um die Mitarbeiter zu bezahlen. In meiner Recherche und den Gesprächen mit Betroffenen haben sich weitere Strategien der türkischen Regierung herauskristallisiert:
- Indem regierungskritische Menschen nicht in die Türkei einreisen dürfen, werden sie von Freunden und Familie isoliert.
- Die Isolation und das Gefühl der Einsamkeit werden durch Drohungen im Internet, per Telefon oder in Persona noch verstärkt.
- Die Selbstzensur kritischer Türken setzt ein, weil sie wissen, dass in der Türkei Sippenhaft gilt. Ein Regierungskritiker bringt nicht nur sich selbst in Gefahr – sondern auch seine Familie.
„Vielleicht ist das paranoid“
Er leidet unter all diesen Maßnahmen, zensiert sich dennoch nicht selbst: Der Unternehmer Erkan Köktaş (sprich: Köktasch) entschied sich im denkbar schlechtesten Moment dazu, das regierungskritische Deutsch-Türkische Journal zu übernehmen. Das DTJ ist eine reine Online-Zeitung, die Leser müssen keine Angst haben, dass sie aus ihrem Briefkasten hervor lugt. Seit Frühling dieses Jahres gehört die Zeitung Köktaş. Wieso er das riskiert? Er stehe als Privatperson ohnehin schon auf einer der Listen, die der türkische Geheimdienst weitergibt. Deswegen habe er wenig zu verlieren. Köktaş besitzt neben der Zeitung eine Online-Druckerei. Er ist aktives Mitglied der Gülen-Bewegung in Deutschland. In sozialen Netzwerken wird ihm unterstellt, er sei Teil einer Terrororganisation und man müsse das Land von Menschen wie ihm säubern.
Es blieb nicht bei Worten: Eines Tages bewarfen türkisch-nationalistische Jugendliche Köktaş vor einer Wohnung mit Eiern. Das klingt erstmal nach einem dummen Streich, doch sie haben damit auch gezeigt: „Wenn wir wollen, kriegen wir dich!“ Das hinterlässt Spuren. Köktaş sieht sich genau um, wenn er sein Haus verlässt. Er kontrolliert sein Auto, bevor er einsteigt. „Vielleicht ist das paranoid“, sagt er. Erdoğan die Stirn bieten, das sieht er als seine Aufgabe.
Die Gülen-Bewegung hat Dreck am Stecken
Erkan Köktaş hat mit Dursun Çelik einiges gemeinsam. Beide sind Medienmacher mit türkischen Wurzeln, beide haben mit Anfeindungen zu kämpfen und beide sind seit langer Zeit aktive Anhänger des Predigers Fetullah Gülen.
Die Gülen-Mitglieder agieren weltweit. Sie bauen Schulen und andere Bildungseinrichtungen, veranstalten interkulturelle Events. In Berlin eröffnen sie bald das House of One. Dort sollen Juden, Christen und Muslime gemeinsam beten. Das hört sich erstmal gut an. Der ehemalige, säkulare Oberstaatsanwalt Ilhan Cihaner aus der Türkei sagt allerdings: „Wer sich mit Gülen anlegt, wird vernichtet.“ Nachdem er seit 2007 gegen die Gülen-Gemeinde ermittelt hatte, wurde er 2010 verhaftet. Dem Journalisten Ahmet Cik erging es ähnlich. Kurz bevor er ein Gülen-kritisches Buch veröffentlichen wollte, wurde auch er verhaftet.
Gülen ist ein islamistischer Prediger mit modernem Anstrich und sein Sprachrohr war lange die Zaman. Jeden Donnerstag erschien eine ganze Seite zu seinen Lehren und Werten. „Die Zaman-Zeitung war eine recht wichtige Zeitung in unserer Bewegung, das ist klar“, sagt Çelik.
Es ist ironisch. Noch im Jahr 2011 befürwortete die türkische Mutterzeitung Zaman die Inhaftierung regierungskritischer Journalisten in der Türkei. Damals war Gülen ein enger Verbündeter Erdoğans. Gülen-Anhänger waren in der Regierung vertreten und die Zaman berichtete auf Kurs. Nur fünf Jahre später müssen sich die Zaman-Journalisten selbst vor Repressalien des türkischen Regimes hüten. „Die Gülen-Anhänger haben wahnsinnig viel Dreck am Stecken“, glaubt Kerem Schamberger, „und trotzdem muss man gegen die Inhaftierung von Gülen-nahen Journalisten aufs Heftigste protestieren. Das ist klar.“
Die Vaterlandsverräter
Es ist gefährlich geworden, Stellung zu beziehen. Viele meiner Interviewanfragen blieben unbeantwortet, ein paar Journalisten wehrten die Fragen ab. Ein Blogger aus Köln sagte einem Interview erst zu – meldete sich dann aber nicht mehr. Er sei vor seiner eigenen Haustür bedroht worden, weil er gegen organisierte Religionen auftritt, darunter auch der Islam. Gülen-Anhänger sind eben bei weitem nicht die einzigen, die bedroht werden.
Da gibt es Canan Topçu. Sie gilt als Vaterlandsverräterin, weil sie für die FAS die bedrückende Stimmung in Istanbul beschrieb. „Ich habe Sie gemeldet“, drohte ihr gleich darauf jemand. Sie solle ja nie wieder in die Türkei reisen, sonst werde sie ja sehen, was passiert, ein anderer. Topçu geht das Risiko nicht ein. Den Türkeiurlaub im Herbst sagte sie ab. „Ich bin demokratisch gesinnt und wünsche mir, dass in der Türkei auch demokratische Verhältnisse herrschen – weil ich eine emotionale Bindung zu dem Land habe. Das macht mich noch lange zu keiner Vaterlandsverräterin.“
Topçu ist als Kind mit ihrer Familie nach Deutschland gezogen. Heute ist sie 52, Journalistin, Autorin und hat einen Journalismuspreis in der Tasche. Seit ein paar Monaten schreibt sie nicht mehr über die Türkei. Nicht etwa, weil sie Angst hat – es schmerzt zu sehr. „Es regt mich auf, belastet mich, ich schlafe nicht gut, es tut mir im Herzen weh und ich hab das Gefühl, ich kann sowieso nicht mehr viel ausrichten.“
Sie weiß allerdings von anderen Kollegen, die vorsichtiger werden, weil sie weiterhin ihre Familie in der Türkei besuchen und sich keinen überflüssigen Ärger einhandeln wollen. Journalisten mit türkischen Wurzeln zensieren sich selber, aus Angst, ihre zweite Heimat zu verlieren.
Der ehemalige türkische Chefredakteur der türkischen Tageszeitung Cumhuriyet, Can Dündar, musste nach Berlin ins Exil, um fadenscheinigen Anklagen zu entkommen. Er sei Mitglied einer terroristischen Gruppe, die Gülen nahesteht, heißt es. Dabei war Dündar selbst offener Gülen-Kritiker. Nun lebt er hier, schreibt Kolumnen für die Wochenzeitung Die Zeit, ist Mitgründer der Journalismus-Plattform Özgürüz (Wir sind frei) und versucht mit starker Stimme gegen das türkische Regime anzuschreiben. Trotzdem ist er in Deutschland nicht sicher.
In seinem neuen Buch Verräter beschreibt er, wie es ihm im Exil ergeht. Treue Anhänger von Erdoğan fotografieren ihn auf der Straße, stellen die Fotos auf Twitter, beschimpfen ihn als „Landesverräter“. Weil Erdoğan Dündar zum Feind erklärt hat, darf seine Ehefrau Dilek Dündar nicht aus der Türkei ausreisen. Sogar ihr Pass wurde eingezogen. Die Botschaft ist eindeutig: Wer sich kritisch äußert, bringt seine Liebsten in Gefahr.
Journalisten als Faustpfand
Die Situation für Journalisten in der Türkei war noch nie besonders gut. Trotzdem hat es die Regierung seit letztem Jahr geschafft, die Umstände noch weiter zu verschlechtern. In der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen rutscht die Türkei zuletzt von Platz 151 auf 155 – und das bei insgesamt 180 Ländern.
Anne Renzenbrink von Reporter ohne Grenzen spricht von mittlerweile rund 155 Journalisten, die in der Türkei in Haft sitzen. Es sind vor allem Türken, aber auch Franzosen und Deutsche. Der Korrespondent der Welt Deniz Yücel sitzt seit über 250 Tagen in Istanbul im Gefängnis. Die meiste Zeit verbringt er in Einzelhaft. Auf die Anklage wartet er noch immer.
Der Prozess gegen die deutsch-türkische Journalistin Meşale Tolu hat zwar begonnen, sie muss allerdings in Untersuchungshaft. Mit dabei: ihr zwei Jahre alter Sohn. Sowohl Yücel als auch Tolu wird unter anderem Terrorpropaganda vorgeworfen.
„Die beiden sind eindeutig Faustpfand“, sagt Renzenbrink, „ich befürchte, kurzfristig wird sich die Situation in der Türkei nicht verbessern. Nach dem Putschversuch ging es stetig bergab.“ Auch die Situation von türkischen Journalisten in Deutschland bereitet Renzenbrink Sorgen. Sie spricht von einer „latenten Bedrohung“.
Diese Bedrohung spürt der Herausgeber Erkan Köktaş am eigenen Leib. Er kämpft trotzdem für das Deutsch-türkische Journal und die Meinungsfreiheit. Fragt man ihn nach den Gründen, lacht er ins Telefon. „Man stirbt nur einmal“, sagt er.
Christian Gesellmann hat bei der Erarbeitung des Textes geholfen; Esther Göbel am Ende die hoffentlich letzten Fehler beseitigt; das Foto hat Lisa Wölfl ausgewählt.