Was ist denn in Myanmar passiert?
Seit dem 25. August 2017 sind über 650.000 Menschen aus dem Westen Myanmars nach Bangladesch geflohen. Sie gehören der muslimischen Minderheit der Rohingya an. Militär und Regierung haben die Rohingya unter den Generalverdacht des Terrors gestellt, seit eine Gruppe Aufständischer im Oktober 2016 Polizeiposten angegriffen hat.
Ich bin mir nicht mehr so sicher: Wo liegt Myanmar?
Myanmar ist ein Land in Südostasien, ungefähr so groß wie Deutschland und Frankreich zusammen, das an Thailand, Laos, China, Indien und eben an Bangladesch grenzt.
Und heißt das Land nicht eigentlich „Burma“?
Manche sagen auch Birma, das ist die deutsche Version von Burma. Offiziell heißt das Land heute aber Myanmar. Aktivisten und Journalisten sprechen oft aus Protest nach wie vor von Burma. Denn der Name Myanmar wurde dem Land von den Generälen der ehemaligen Diktatur im Land aufgedrückt.
Warum sollte ich über diese Krise Bescheid wissen?
Weil dort gerade ebenso wie in Ruanda und dem Kosovo in den 1990er Jahren Verbrechen gegen die Menschlichkeit verübt werden. Wenn es Gerechtigkeit gibt, werden sich die Täter eines Tages vor einem Gericht verantworten müssen – womöglich für einen Genozid, mindestens aber für ethnische Säuberung.
Wie begann diese Krise?
Es gab zwei Wellen. Nach der ersten Attacke der Arakan Rohingya Salvation Army (ARSA) am 9. Oktober 2016 sind rund 90.000 Rohingya vor dem burmesischen Militär nach Bangladesch geflohen. Sie berichteten mir und anderen Journalisten davon, dass sie vergewaltigt, geschlagen, gedemütigt und mit Schüssen und Messern attackiert wurden.
Ende August hat dann wiederum die ARSA zugeschlagen. Um die Attacken des Militärs zu rächen, wie die Kämpfer sagen. Im Morgengrauen attackierten sie fast 30 Polizeiposten.
Tatsächlich reicht der Konflikt um die Rohingya übrigens schon mehrere Jahrzehnte zurück. Militäroperationen gegen diese Minderheit gab es schon in den Vierzigern. Vor allem 1978 und 1992 flohen sehr viele von ihnen nach Bangladesch.
Der Beginn der allgemeinen Krise zwischen den Rohingya und Buddhisten lässt sich bis zum 2. Weltkrieg zurückverfolgen: Damals kämpften die Rohingya auf der Seite der Briten, während die Buddhisten in Rakhine auf der japanischen Seite standen. Nach dem Krieg hofften die Rohingya, nach Pakistan gehen zu können, mit dessen Bevölkerung sich das Volk ethnisch und religiös mehr identifizieren kann. Die Engländer hatten jedoch andere Pläne, und verordneten, dass die Rohingya Teil vom neu unabhängigen Staat Myanmar würden. Es war der Start einer langen Zeit der Diskriminierung, Diffamierung und Dämonisierung.
Wie viele Tote gibt es bisher?
Die Regierung sagt offiziell, dass 400 Menschen zu Tode gekommen sind. Darunter angeblich 370 Terroristen. Diese Zahlen bedeuten wahrscheinlich, dass die Soldaten rigoros gegen die Rohingya-Bevölkerung vorgegangen sind. Es gibt sogar Militärs, die gegenüber Journalisten offen zugaben, dass die Situation so unübersichtlich ist, dass sie nicht zwischen Zivilisten und Angreifern unterscheiden können. Die internationale Organisation Ärzte ohne Grenzen schätzt die Zahl der Toten auf mindestens 6.700, davon 730 Kinder, allein von August bis September 2017. Wie viele Menschen wirklich ums Leben kamen, wissen wir nicht.
Was wollen die Aufständischen erreichen?
Sie sagen sinngemäß: „Es reicht jetzt. Wir lassen uns nicht mehr gefallen, dass ihr uns Rohingya behandelt wie Vieh.”
Wer sind denn die Rohingya eigentlich?
Die Rohingya sind Muslime. Rund eine Million von ihnen leben im mehrheitlich buddhistischen Myanmar. Zumindest bis vor Kurzem. Inzwischen ist ja die Hälfte der Bevölkerung geflohen. Übrigens: Die meisten Burmesen würden jetzt sagen: „Es gibt keine Rohingya in Myanmar.”
Wieso denn?
Die Rohingya haben eine eigene Sprache und sie sind eben Muslime. Eine Mehrheit der Burmesen hält sie für illegale Einwanderer aus Bangladesch und bezeichnet sie deshalb als „Bengali”.
In der Tat gab es in der Vergangenheit Völkerwanderungen zwischen Bangladesch und Myanmar, denn beide Länder gehörten dem britischen Kolonialreich an. Fest steht allerdings auch, dass die Rohingya einst Staatsbürger Myanmars waren. Viele von ihnen bewahren die Dokumente ihrer Vorfahren auf wie einen Schatz. Das hilft ihnen aber nicht. Die burmesischen Behörden haben die Papiere nach und nach für ungültig erklärt.
Die meisten Rohingya leben im Teilstaat Rakhine. Und dort leben viele von ihnen in Camps und Dörfern, die sie nicht verlassen dürfen. Zumindest nicht ohne weiteres. Die Menschen haben deshalb Schwierigkeiten, Arbeit zu finden, einen Arzt aufzusuchen oder Zugang zu Bildung zu bekommen. Buddhisten und Muslime wurden 2012 nach einer Gewalteskalation voneinander getrennt angesiedelt. Die Buddhisten dürfen sich frei bewegen, die Muslime nicht.
Warum verfolgt die Regierung die Rohingya?
Zunächst einmal: Nicht die Regierung verfolgt die Rohingya, so wie das in vielen Medienberichten falsch suggeriert wird. Vielmehr ist es das Militär - und teilweise auch die buddhistische Bevölkerung im Staat Rakhine –, die ihnen das Leben zur Qual machen.
Jahrzehntelang hat das burmesische Militär bei den Menschen Furcht vor dem „Anderen” geschürt. Diese Furcht können sie immer dann abrufen, wenn sie es brauchen. Die Strategie funktioniert im Moment so gut wie selten zuvor: Das burmesische Volk steht in der aktuellen Krise geschlossen hinter der einst verhassten Armee.
Was passiert im Moment in der Krisenzone?
Das Konfliktgebiet liegt im Norden des Teilstaats Rakhine unweit der Grenze mit Bangladesch. Journalisten, Menschenrechtsexperten und Entwicklungshelfer haben keinen Zugang. Hilfsorganisationen mussten ihre Mitarbeiter aus Sicherheitsgründen aus ganz Rakhine abziehen.
Die Regierung hat zudem eine Pressereise für ausgewählte Journalisten organisiert. Ich bezweifle, dass sie vorhatten, dass Einheimische den Journalisten davon erzählen würden, wie buddhistische Rakhine die Häuser von Rohingya anzünden. Und dennoch twitterte ein britischer Journalist, der bei der Reise dabei war, das hier:
https://twitter.com/pakhead/status/905702293676351490
Was in Nord-Rakhine passiert, können wir im Moment nur aus dem All und von Bangladesch aus herausfinden.
Aus dem All?
Ja, aus dem All. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch hat Satellitenbilder ausgewertet, auf denen das Ausmaß der Zerstörung durch Brandstiftung zu sehen ist.
Und weil die Journalisten nicht in das eigentliche Krisengebiet können, scheinen Vertreter der gesamten Weltpresse im Moment in Bangladesch im Grenzgebiet zu Myanmar versammelt zu sein. Die Hotels in der Stadt Cox’s Bazar sind gepflastert mit schlammigen Abdrücken von den Stiefeln von Reportern, Menschenrechtlern und Entwicklungshelfern.
In den Krankenhäusern liegen Flüchtlinge mit Schusswunden, darunter sogar Babys. An der Grenze erzählen Flüchtlinge davon, dass Soldaten sie gewarnt haben: „Geht oder wir bringen euch um!” Von der Grenze aus können wir Journalisten die brennenden Dörfer sogar sehen. Menschenrechtsgruppen und Aktivisten-Netzwerke stehen mit Informanten vor Ort in Verbindung.
Fast alle Flüchtlinge - und das sind Dutzende -, mit denen ich in den vergangenen Tagen gesprochen habe, berichteten mir davon, dass ihre Häuser angezündet wurden.
Meistens lief das wohl folgendermaßen ab: Die Rohingya sahen Nachbardörfer in Flammen stehen und flüchteten in den Dschungel. Während sie dort ausharrten, steckten Soldaten auch ihre Häuser in Brand. Die Rohingya beschlossen dann, nach Bangladesch zu fliehen.
Dann hat die Regierung verkündet, dass sie sich der niedergebrannten Grundstücke „annehmen” wolle. Die Landraub-Alarmglocken vieler Aktivisten schrillen laut.
Mitte Dezember wurde die Existenz eines Massengrabs im Westen Myanmars bekannt, in dem zehn Tote gefunden wurden. Laut der Regierung handele es sich um muslimische Terroristen. Die beiden Reuters-Journalisten U Wa Lone und U Kyaw Soe Oo, die zu dem Grab recherchierten, wurden festgenommen und werden bis heute mit dem Vorwurf des illegalen Beschaffens von Staatsgeheimnissen festgehalten. Letzte Woche berichtete die Nachrichtenagentur Associated Press von fünf weiteren Massengräbern, die Anzahl der Toten schätzen sie auf 400. Myanmars Behörden bestreiten die Existenz solcher Gräber.
Mittlerweile haben viele lokale Journalisten Angst, wegen ihrer Recherchen zu den Vergehen des Militärs im Gefängnis zu landen.
Wie ist die Situation im Grenzgebiet in Bangladesch?
Alles fühlt sich an wie nach einer Naturkatastrophe. Obdachlose, hungrige Menschen säumen die Straßen. Um die Flüchtlingscamps herum herrscht allgemeines Chaos und deswegen auch Verkehrsstau. Bangladeschis verteilen von den Lastwagen-Ladeflächen herunter Kleidung und Lebensmittel. Es kommt zu Rangeleien. Menschen betteln. Als Reporter kann man kaum noch irgendwo stehen, ohne dass sich Trauben hungriger Menschen um einen herum bilden.
Dazu kommt: Bangladesch ist das am dichtesten bevölkerte Land der Erde und hat im Moment in vielen Landesteilen sowieso schon mit einer historischen Flut zu kämpfen. Die Zahl der Rohingya-Flüchtlinge hat sich innerhalb eines Monats mehr als verdoppelt. Das ist enorm. Hilfsorganisationen sind heillos überfordert.
Was sagen die Einwohner Bangladeschs dazu?
Bislang erinnert die Stimmung an die deutsche Willkommenskultur. Premierministerin Sheik Hasina hat bei einem Besuch im Camp gesagt: „Wir können 160 Millionen Menschen ernähren, also können wir auch 700.000 Rohingya-Flüchtlinge ernähren.” Wo die Hilfsorganisationen nicht helfen können, sind die Einheimischen eingesprungen.
Doch Spannungen scheinen vorprogrammiert. Im Grenzgebiet steigen bereits die Preise für Lebensmittel. Die Rohingya arbeiten für weniger Geld als die Einheimischen und machen vor allem den ärmsten Bangladeschis so ihren Job streitig.
Sind die aufständischen Rohingya eigentlich unschuldig?
Auf keinen Fall. Denn die Aufständischen haben in der Tat den burmesischen Staat angegriffen. Dazu haben sie sich offen bekannt. Inwieweit die Aufständischen darüber hinaus in Menschenrechtsverletzungen verwickelt sind, wissen wir nicht.
Was ich mitbekommen habe: Sehr viele Menschen kritisieren Aung San Suu Kyi, die Friedensnobelpreisträgerin aus Myanmar. Warum?
Aung San Suu Kyi ist Myanmars „Staatsrätin” und führt damit de-facto die Regierung an. Sie hat verfassungsgemäß keine Kontrolle über das Militär. Ein ihr nahestehender Anwalt, der an der Verfassung zu rütteln versuchte, wurde im Januar am helllichten Tag in der Hauptstadt Yangon erschossen.
Während Suu Kyi im Moment von der internationalen Gemeinschaft verteufelt wird, kann einer ganz unbehelligt weiter schalten und walten wie er möchte: der Oberbefehlshabende des Militärs, Min Aung Hlaing. Nur er hat Gewalt über die Armee und kann die Gewalt wirklich stoppen.
Allerdings steht auch fest: Suu Kyis Kommunikationsabteilung gießt immer weiter Öl ins Feuer, wenn sie fahrlässig Hass auf die Rohingya als „islamistische Terroristen” schürt. Ihre Regierung hat sogar Entwicklungshelfer bezichtigt, bei der Belagerung eines Dorfes mit den „Terroristen” zusammenzuarbeiten. Zahlreiche Menschen sind seither von lebensnotwendigen Hilfslieferungen abgeschnitten.
Müsste man ihr da nicht den Friedensnobelpreis aberkennen?
Es gibt Petitionen, mit denen das gefordert wird, aber sie scheinen mehr darauf abzuzielen, Aufmerksamkeit für das Thema herzustellen. Denn der Friedensnobelpreis wird für Verdienste in der Vergangenheit vergeben.
Sagt Suu Kyi denn überhaupt nichts dazu?
Ein paar Tage vor den Wahlen im November 2015 stellte ein Journalist ihr im Rahmen einer Pressekonferenz die Frage, was sie denn mit dem Rohingya-Problem zu tun gedenke. Sie sagte damals: „In Burma sagen wir immer: Mache die großen Probleme zu kleinen und sorge zu, dass die kleinen verschwinden.”
Suu Kyi spricht nur sehr selten mit den Medien. Und wenn sie es tut, dann benutzt sie große Worte,die man auf alle mögliche Weise interpretieren kann.
Vergangene Woche konnte sie dann doch nicht mehr weiter schweigen und hat vor Diplomaten und Journalisten gesprochen. Sie hat Dinge behauptet, die schlichtweg falsch sind (zum Beispiel, dass die Rohingya ungehinderten Zugang zu Bildung hätten). Ebenso hat sie Aussagen getroffen, die sie nicht ehrlich meinte (sie lud die internationale Gemeinschaft ein, sich ein eigenes Bild zu machen, lehnt aber weiterhin ab, die Untersuchungskommission der UN ins Land zu lassen.) Und sie bat die internationale Gemeinschaft, doch auch anzuerkennen, dass die Hälfte der Rohingya Myanmar ja nicht verlassen habe.
Handelt es sich tatsächlich um einen Völkermord, wie manche Aktivisten sagen?
Genozid ist ein extrem schwerwiegender Vorwurf, und es ist deshalb die Aufgabe von Experten so etwas zu beurteilen, nicht die von Journalisten. Die UN spricht inzwischen jedenfalls offiziell von einer klassischen ethnischen Säuberung an den Rohingya.
Wie ist die Stimmung in Myanmar?
Die Burmesen fühlen sich von der Welt unverstanden. „Wir wurden attackiert, wieso dürfen wir uns nicht wehren”, heißt es. Für diese Burmesen gehören die Rohingya ohnehin nicht zu Myanmar. Für manche haben sie deshalb auch keine Menschenrechte. Aber nicht nur zwischen den Burmesen und den Rohingya gibt es Spannungen. Muslime im Allgemeinen haben es in Myanmar nicht immer leicht. NGOs beschreiben, wie sie systematisch diskriminiert werden. Zum Beispiel wurden in Yangon vor ein paar Monaten Madrasas, muslimische Schulen, geschlossen.
Nachdem der internationale Druck immer weiter gestiegen war, verständigten sich am 23. November die Außenminister von Myanmar und Bangladesch. Sie vereinbarten, die Rohingya schon ab Januar innerhalb von zwei Jahren zurück nach Myanmar zu bringen.
Das hört sich im ersten Moment gut an. Doch es ist überhaupt nicht sicher, ob sich das so einfach umsetzen lässt. Denn die Diskriminierung, die die Rohingya in Myanmar erfahren, wird immer noch da sein - im Gegensatz zu ihren Häusern, Feldern und Tieren, die bei den Attacken im September angezündet wurden. Deswegen hat sich das UN-Kinderhilfswerk Unicef gegen das frühzeitige Abschieben zurück nach Myanmar ausgesprochen. Die Regierung von Bangladesch hat bestätigt, dass bislang noch kein Flüchtling die Grenze überquert hat und gibt administrative Probleme als Grund an. Einen guten Einblick in das Dilemma gibt die New York Times.
Was kann Deutschland tun?
Darüber nachdenken, ob man das burmesische Militär künftig auch noch so freundlich empfangen will, wie es diesen Sommer geschehen ist.
Sonja Gambon und Bent Freiwald haben den Text aktualisert; Rico Grimm hat bei der Bearbeitung des Textes geholfen; Vera Fröhlich hat gegengelesen. Martin Gommel hat das Aufmacherbild ausgesucht (Flickr / European Commission DG ECHO)