24 Stunden warten, wählen, zittern, fürchten, demonstrieren
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24 Stunden warten, wählen, zittern, fürchten, demonstrieren

Es ist ein Tag, der das Land für immer verändern wird. 24 Stunden sind KR-Reporter in Berlin unterwegs und schreiben ein Porträt dieses Tages. Wir halten fest, wie er beginnt, verrinnt und endet.

Profilbild von Reportage von Theresa Bäuerlein, Lisa Becke, Sebastian Esser, Christian Fahrenbach, Christian Gesellmann, Esther Göbel, Martin Gommel, Rico Grimm, Susan Mücke, Carolin Haentjes, Daniel Palm, Mona Ruzicka, Philipp Wohltmann und Dominik Wurnig

01.07 Uhr, Hermannplatz, Wahlkampfendspurt der Berliner Jusos: Mehr Klassenkampf

Im Regen steht ein knallrotes Zelt auf dem leeren Hermannplatz in Berlin-Neukölln. Davor drängen sich die Berliner Jusos unter Schirmen, Bierflaschen und gedrehte Zigaretten in den klammen Händen. Trotzig stehen sie da, die Klamotten nass, die nächsten vier Jahre Merkel laut der Umfragen eh schon sicher, aber egal.

„Dem Wahlkampf hat Mut gefehlt“, sagt die Landesvorsitzende Annika Klose, es hätte „mehr Klassenkampf” geben müssen. Zur absoluten Mehrheit werde es wohl nicht mehr reichen, scherzen ihre Genossen. Sie sind sich einig: Die große Koalition darf nicht weitergehen, der Kuschelkurs mit der CDU hat die Partei an den Abgrund der 20 Prozent getrieben. Die Agenda 2010 ist nicht nur ein bisschen gescheitert, den riesigen Unmut haben die Wahlkämpfer in Gesprächen auf der Straße zu spüren bekommen.

Foto: M. Ruzicka

Ein Obdachloser schiebt seinen Wagen durch die Gruppe. „Biste Politikerin oder wat“, raunzt er Annika an und fragt nach Kleingeld. „Mitglied bei der SPD“, entgegnet sie. „Mitglied ohne Glied“, gibt der Mann lachend zurück. Wortlos drückt sie ihm einen Euro in die Hand. In der verregneten Nacht will niemand mehr diskutieren. Aber schlafen gehen können die Jusos nicht. Niemand soll ihnen vorwerfen, sie hätten nicht bis zur letzten Minute gekämpft.

04.06 Uhr, Schlange vor dem Club „Berghain”, Friedrichshain: Teile, Affe, Duracel, MDMA

Es schüttet wie aus Eimern, der Boden ist ein einziger Sumpf, von Kapuzen und Anoraks tropft es – egal, Berghain-Jünger kennen keinen Schmerz. Die Schlange vor Deutschlands berühmtesten Techno-Club ist auch in dieser Nacht lang. Verheißungsvoll blinkt es mal rot, dann blau und goldgelb hinter den Fenstern des Berghain-Beton-Klotzes, leise dringt der Bass von drinnen nach draußen. Ziemlich weit hinten in der Schlange steht ein junger Typ, nennen wir ihn liebevoll Specki. Zwanzig Jahre alt, bubiges Gesicht, dazu kurzes Haar, untersetzter Körper, Schlabbershirt, Hoodie, glasige Augen. Hier hat jemand schon ordentlich vorgetankt.

Ein anderer Jungspund, schmal, geschäftig, wacher Blick, läuft an der Schlange vorbei, nennen wir ihn Drogi.

„Teile, ich hab Teile, Affe, Duracel, MDMA, wer braucht was?“, fragt Drogi, während er die Schlange abläuft.
„Ey“, sagt Specki, „komm ma her, ich brauch was!“
„Kein Problem“, sagt Drogi und bleibt stehen, „hier, willste ‘ne Duracel? Kostet ‘n Zehner.“
„‘N Zehner?“, fragt Specki und kramt leicht schwankend nach seinem Portemonnaie, „na gut. Ey, ich will heut’ Nacht richtig freidrehn, ich sag dir, als Fachinformatiker beim Bund, da muss du echt mal freilassen!“
Gewählt hat er vorsorglich schon, per Briefwahl. „Ich kann doch die AfD nicht gewinnen lassen!“, sagt er. „Hab CDU Erststimme und DIE PARTEI Zweitstimme gewählt. DIE PARTEI find’ ich lustig!“
„Wieso denn nicht die AfD?“, ruft Drogi, „alles ist besser als CDU und SPD!”
„Ey, da sind Naaaaaazis drin in der AfD!“, sagt Specki nachdrücklich. “Ich mag die Merkel. Was hat die denn falsch gemacht? Und wer ist denn momentan besser als die?“, lallt er.
„Vom Prinzip her find’ ich die AfD nich’ gut“, sagt Drogi. „Aber von denen wird mehr Veränderung ausgehen, als wenn du jetzt wieder CDU wählst. Alle Parteien sollen sehen, dass das Volk einfach unzufrieden ist, jetzt grade machen die doch, was sie wollen. Und in der AfD sind nich’ so viele Nazis wie in der NPD. Die gehen doch damit nur auf Stimmenfang.“
„Ja, aber allein die Wahlplakate von denen, die machen mich richtig wütend“, protestiert Specki noch.
„Also, ich find die lustig“, sagt Drogi, „wenn ich dieses Plakat sehe ‚ Wir steh’n nicht auf Burkas – wir steh’n auf Bikinis‘, da muss ich lachen, ganz ehrlich.“
„Das is’ einfach so ein Scheiß“, sagt Specki und schwankt von einem Fuß auf den anderen. Und dann sagt er noch einmal, mehr zu sich selbst: „Nee, ich kann die AfD nicht gewinnen lassen.“

Die Schlange rückt ein paar Zentimeter nach vorn. Am Montagmorgen, wenn Specki aus dem Berghain-Dunkel, diesem wummernden Schlund, in den neuen Tag tritt, wird er eine andere Welt vorfinden. Eine mit der AfD im Deutschen Bundestag.

07.58 Uhr, Campus Rütli-Schule, Neukölln: Na dann!

Gleicht geht es los im Wahlbezirk 105, die ersten Wähler sind schon da: Eine schwangere Frau in Turnschuhen, Hängekleid und mit Pferdeschwanz, eine Rentnerin, ein Rentner. Ein junger Mann, ehrenamtlicher Wahlhelfer, erklärt den anderen Helfen noch einmal schnell das Prozedere: Wahlzettel, Kulis, Namenslisten und, natürlich ganz wichtig, die Box für die Wahlzettel. Prüfend blickt er auf sein Handy, acht Uhr. „Es ist soweit!“, sagt er und blickt ehrfurchtsvoll in den Raum.

„Also, hier haben Sie den Wahlzettel“, sagt die alte Dame hinter dem Tisch zu einer Wählerin, „und hier, ah, warten Sie“, sagt sie und stockt kurz unsicher, „hier auch noch der Zettel für den Volksentscheid.“ Sie blickt die Frau an, drückt ihr die Papiere in die Hand. „Wir üben noch“, sagt sie und schaut fragend. Soll sie jetzt noch etwas sagen? Quasi zum Abschied? „Na dann“, entschließt sie sich, „alles Gute für Sie!“

08.23 Uhr, Wahllokal in der Andersen-Schule, Wedding: Dieser Duft

Es hat aufgehört zu regnen, trotzdem ist alles grau: der Himmel, die eigentlich rote Schule aus dunklem Backstein, die wenigen Fahrräder und auch die drei Leute, die am Eingang warten.

Der erste steht ein paar Meter entfernt und schaut entschlossen an uns anderen vorbei. Mit Journalisten reden mag er nicht.

Der zweite, Typ Informatiker, mit Schnäuzer, holt Filter, Papier und Tabak aus einer perfekt sortierten Tasche. Er steckt sich den Filter zwischen die Lippen und erzählt, dass er immer früh wählen geht, aus Gewohnheit, und jetzt erst recht. „Seit ich das erste Mal die verdammte AfD-Werbung in der U-Bahn gesehen habe, liegt ein ziemlich brauner Duft in der Luft.”
Als sie das hört, dreht sich die dritte Person, eine stark geschminkte, ältere Dame zu ihm um, lächelt und nickt zustimmend.

„Einen schönen Wahlsonntag Ihnen beiden.“

09.35 Uhr, Marie-Elisabeth-Lüders-Haus: Der Marathon ist da

Die Kronprinzenbrücke wackelt, als die ersten Gruppen über die Brücke laufen. Eine Frau aus Angola hält die rot-schwarze Landesfahne gegen den dunkelgrauen Himmel. Sie feuert die Luanda Runners an. „Hässliches Wetter in Berlin“, sagt sie „I don’t like.“ Dass heute in Deutschland gewählt wird, wusste sie nicht. Auch nicht, dass hinter ihr das Regierungsviertel ist. Sie interessiert, ob es heute einen neuen Weltrekord geben wird. Ein paar Schritte weiter, in der Reinhardtstrasse, stehen zwei französische Mitvierzigerinnen am Rand der Strecke. „Überall Merkel auf den Plakaten, riesengroß. C’est bizarre … Aber die wird es doch eh, oder?“ Wie sie Merkel finden? „Das mit den Flüchtlingen war super.“ Und eine Frau an der Spitze finden sie auch gut. „Superwichtig. So was hätten wir auch gerne bei uns.“

„C’est bizarre!"

„C’est bizarre!” Foto: M. Gommel

10.10 Uhr, Luisenstrasse: Blockade

Seit dreißig Minuten steht Mirco Yazar im Nieselregen. Er war wählen, jetzt will er zurück zu seiner Wohnung. Genau hier sollte doch eine der 30 Streckenquerungen sein, die eingerichtet wurden, damit trotz 43.000 Läufern problemlos gewählt werden kann? Er müsse warten, sagt eine Lotsin. Mirco Yazar nimmt es gelassen. „Klar, die Wahl heute ist besonders wichtig. Mit dieser geschichtsvergessenen Partei da, kriegt man hier richtig Angst“, sagt er. Er ist in der Türkei geboren, lebt aber seit über 50 Jahren in Deutschland und hat nur die deutsche Staatsangehörigkeit.

Da wird der Einwurf des Stimmzettels zum Ereignis, das fotografisch festgehalten werden muss. Und uns als Wahlteam gibt es die Bestätigung, dass wir einen sinnvollen Ehrenjob machen!

„Gehen Sie mal nach Dresden! Reden Sie mal mit den Leuten in den Randbezirken. Die glauben wirklich, die Juden und die Ausländer wären schuld an ihrer Misere!“ Er fühlt sich jetzt anders in Deutschland als noch vor ein paar Jahren. Unsicherer. „Aber wohin soll man auswandern? Das ist doch jetzt überall so.“ Seine positive Haltung will er sich nicht nehmen lassen, fordert aber mit Nachdruck: „Schreiben Sie meinen richtigen Namen bloß nicht in der Zeitung. Dieser Sultan hat seine Spione überall. Ich habe Familie in der Türkei.”

Marathon-Läufer vor dem Kanzleramt

Marathon-Läufer vor dem Kanzleramt Foto: M. Gommel

11.00 Uhr, Berlin-Mitte, Wahllokal 321: Unter Beobachtung

Wigbert Siller hat es sich hinter seine Wahlurne in schwarzer Jogginghose und grauem T-Shirt bequem gemacht, schließlich wird es ein langer Arbeitstag. Es ist bereits seine vierte Bundestagswahl, aber heute ist es etwas besonderes. Der 52-Jährige ist Wahlvorstand im Lokal 321, Berlin-Mitte, wo die Chefs der OSZE-Wahlbeobachterkommission Isabel Santos und Giorgi Zereteli ihre Mission starten werden. Sie werden auch Siller befragen, der einigen hundert Berlinern ihren Wahlzettel abnehmen und später am Abend auszählen wird. Aber ein paar internationale Politiker können Siller nicht nervös machen. Er ist im normalen Leben Kassierer und hatte schon mehr schwierige Kunden an der Kasse, als man sich vorstellen kann.

Wahlvorstand Wigbert Siller hatte schon mehr schwierige Kunden an der Kasse, als man sich vorstellen kann

Wahlvorstand Wigbert Siller hatte schon mehr schwierige Kunden an der Kasse, als man sich vorstellen kann Foto: M. Gommel

Die portugiesische Parlamentarierin Isabel Santos eilt in das Foyer des Canisius-Kollegs. Ihr Kollege, der georgische Vize-Parlamentspräsident Giorgi Zereteli, ist verspätet, weil er noch im Marathonstau feststeckt. Santos geht geradewegs auf Wigbert Siller zu, der links von der Eingangstür sitzt. Und legt gleich los: „How many …“. Siller unterbricht: „Ich spreche eigentlich gar kein Englisch.“ Der Übersetzer übernimmt und stellt die standardisierten Fragen, die alle 65 Beobachter in den zufällig ausgewählten Stimmlokalen stellen müssen. Nur an einer Stelle ist Siller ein bisschen unsicher. Wie viele Wahlzettel er bekommen hat? 1.000 etwa, aber „den Karton habe ich nicht durchgezählt, das wäre ein bisschen viel“. Er lacht.

Die OSZE-Delegation beobachtet die Bundestagswahlen

Die OSZE-Delegation beobachtet die Bundestagswahlen Foto: M. Gommel

Anschließend erklärt er noch, was es mit der Falz an der rechten oberen Ecke jedes Wahlzettels auf sich hat. Die Fake News war umgegangen, dass damit AfD-Wähler identifiziert werden sollten. Die umgeknickte Ecke dient aber nur den Blinden dazu, ihre Leseschablone richtig anzulegen. Siller wundert sich, was einige Leute sich ausdenken. Isabel Santos beobachtet nun noch kurz einige Berliner bei der Wahl – „Das sieht gut aus hier “ –, bevor sie zum nächsten Wahllokal weitereilt.

12.37 Uhr, Restaurant Fernsehturm, Alexanderplatz: Alles dreht sich

Mittagszeit im drehbaren Restaurant, die Curry-Wurst mit Steinofenbrötchen kostet 8,50, aber Berlin kann auch Weltstadt, nämlich vegan-vegetarisches Jalfrezi-Gemüse auf Kashmiri-Pilaw-Reis und kleinem Salat für 17,50 Euro. Der Kellner empfiehlt der achtköpfigen Familie an Tisch 7 lieber die Eierlikörtorte. 203,73 Meter unter seinen Füßen verschwimmt die Hauptstadt im milchigen Dunst, die Plattenbauten rund um den Alex, der Breslauer Platz, die Spree, fast unsichtbar am Horizont das Reichstagsgebäude.

Die Spitzenkandidaten der Parteien haben da unten ihre Stimmen bereits abgegeben, die Hauptstadt-Journalisten werden sich bald mit Prognosen überschlagen, die ersten Computer für die Hochrechnungen laufen heiß, die Korrespondenten aus aller Welt machen sich warm. Aber hier oben ist das alles weit weg. Eine Familie aus Russland sitzt schweigend da, eine Mutter um die 40, die eine Tochter im Pubertier-Alter daddelt unentwegt auf ihrem Handy rum, die jüngere guckt bockig auf ihren Kakao.

Deutschland im Dunst

Deutschland im Dunst Foto: E. Göbel

Nebenan, am Tisch der achtköpfigen Familie, wird geknipst. Bitte ein Erinnerungsfoto, noch eins und noch eins. Und die Politik? Da lachen alle acht. „Dit is’ uns doch grade schnuppe!“

Und damit kriegt der Fernsehturm plötzlich eine beruhigende Wucht. Das Regierungskarussell wird sich heute drehen, das Restaurant hier oben auch. Aber der Fernsehturm, der bleibt. Starr und stoisch, die Eierlikörtorte 5,00 Euro das Stück.

Politik? „Dit is´uns doch grade schnuppe!“

Politik? „Dit is´uns doch grade schnuppe!“ Foto: E. Göbel

13.00 Uhr, Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz: „Wer was beschädigt, fliegt raus.”

Nachdem hundert Aktivistinnen und Aktivisten des Kollektivs „Staub zu Glitzer” am Freitagabend die Berliner Volksbühne besetzt und zum „Eigentum aller Menschen” erklärt haben, sollte die Party 60 Stunden dauern. Jetzt ist sie aber schon vorbei, im roten Salon wird gestaubsaugt. Draußen, über den Eingängen, flattert ein Transparent: „Doch Kunst”, ein weiteres wird gerade bemalt: „Alle willkommen”, wird darauf stehen.

Die Aktion war seit fast einem Jahr geplant, trotzdem hat Sarah Waterfeld von der Presseabteilung noch viel zu tun. Schilder wie „Wer was beschädigt, fliegt raus“ müssen getippt werden. Warum gerade am Wahlwochenende besetzt wurde? „Bilder von Räumungen kann sich jetzt niemand leisten“, sagt Waterfeld, der die Bundestagswahl ansonsten herzlich egal ist. „Ändern wird das doch sowieso nichts. Politik wird in diesem Land nicht für Menschen gemacht, sondern für Unternehmen.“

14.30 Uhr, Humboldt-Uni, Merkel wählt: „Sie kommt, sie kommt!”

Wer das Vergnügen hat, im Wahllokal Nummer 108 zur Stimmabgabe aufgerufen zu sein, dem von Angela Merkel und Joachim Sauer, den empfängt ein langes Spalier Fernsehkameras. Hier wählen ältere Herrschaften mit DDR-Hintergrund, Kultur-Bobos mit Kinderwägen und gegeltes, männliches Karriere-Personal im dunkelblauen Anzug. Profan ist der Ort, die Mensa-Süd der Humboldt Universität riecht nach Kraut und Kartoffeln. Der Geruch erinnert an die Kartoffelsuppe, die von der Regierungschefin ja bekanntlich und angeblich ununterbrochen zu Hause zerstampft wird, gleich um die Ecke in der Kanzlerinnen-Wohnung an der Museumsinsel.

„Sie kommt, sie kommt!”, ruft eine aufgeregte junge Frau, die Neugierigen bringen sich in Selfie-Stellung, und schon steht „sie” in der Tür. Der Kanzlerinnen-Ehemann – Joachim Sauer sieht inzwischen recht alt aus – zuckelt wie immer unbeeindruckt hinterher. Angela Merkel bringt auch passend zur Location ihren unvergleichlichen Kartoffelsuppen-Charme an den Mann, in diesem Fall an den Leiter der OSZE-Wahlbeobachter: „Where’re you from?” – aus Georgien, die Kollegin aus Portugal. „Great!”

„Where're you from?" – aus Georgien, die Kollegin aus Portugal. „Great!"

„Where’re you from?” – aus Georgien, die Kollegin aus Portugal. „Great!” Foto: S. Esser

Dann schreitet das Paar unter andächtigem Schweigen auch aller Beobachter zur Wahl. Die Weltpresse hat sich als hohe, blitzende Wand mit Sicherheitsabstand hinter der Urne aufgebaut. Das Klackern der Apparate schwillt je nach Bewegung an oder ab, es klingt wie das Rauschen von Blättern im Wind.

15.30 Uhr, Reichstagsgebäude: „Gehen Sie wählen!”

Zwei Fahnen (EU und Deutschland), Pult, als Hintergrund der Sitzungssaal des Bundestages, wartende Journalisten von in- und ausländischen Medien.

Auftritt Bundeswahlleiter, aufgeregte Bewegungen der Journalisten.

Bundeswahlleiter (mit ernster Stimme): „Bis 14 Uhr haben 41,1 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme abgegeben. Bei der Bundestagswahl 2013 waren es zum selben Zeitpunkt 41,4 Prozent. Gehen Sie wählen, die Wahllokale schließen um 18 Uhr.”

Bundeswahlleiter Dieter Sarreither

Bundeswahlleiter Dieter Sarreither Foto: D. Wurnig

Abgang Bundeswahlleiter. In Folge verlassen die versammelten Journalisten eilig die Bühnen, um nun auf ihre Laptops einzuhacken.

16.50 Uhr, Kottbusser Tor, Kreuzberg: „Es wird Zeit, dass die Türken in Deutschland ernstgenommen werden.”

Endlich kommt die Sonne raus. Ein Hochzeitskorso fährt hupend durch den Kreisverkehr, dann rollt die quietschgelbe U1 über die Hochgleise ein und bringt Ferat Ali Kocak in seinen alten Kiez. Hier ist er aufgewachsen und hier trifft er sich immer noch mit seinen alten Freunden zum Tee. Einer davon ist Semih Karayüz. Als Kinder haben sie zusammen Fußball gespielt, heute sind die beiden Männer Ende 30 und könnten unterschiedlicher kaum sein.

Ferat will, dass heute die Linke gewinnt, „damit sie die Kriegspolitik von Merkel beenden kann”. Die Linke, meint er, würde mit den richtigen Menschen in der Türkei zusammenarbeiten und auch die Waffenexporte stoppen. Semih dagegen glaubt, dass am ehesten die CDU die deutsch-türkischen Beziehungen verbessern kann, denn „die verstehen auch die wirtschaftlichen Hintergründe”. Auch beim Thema AFD geht die Meinung der beiden weit auseinander. Ferat glaubt, dass die Situation heute viel gefährlicher sei als 1945. „Das sind Nazis, die ihre Propaganda in die Parlamente tragen werden.” Semih dagegen sieht den Einzug der AFD in den Bundestag eher als Weckruf: „Dann werden die Parteien ihre Arbeit endlich mal wieder ordentlicher machen”, meint er. Er weiß aber auch, dass die AfD gegen Türken hetzt. „Es ist Zeit, dass die die Türken in Deutschland mal ernst genommen werden. Denn sie werden auch die Wahl mitbestimmen.”

17.15 Uhr, Hans-Dietrich-Genscher-Haus: Ein Weizen

Noch 45 Minuten. Auf der Terrasse läuft Bryan Adams, ein ehemaliger Minister trinkt Weizen.

Foto: C. Häntjes

17.46 Uhr, Willy-Brandt-Haus: „Ich hoffe auf den Überraschungsmoment.”

„Ich trete heute in die SPD ein“, sagt Leslie Alan Pumm auf der SPD-Wahlparty und grinst übers ganze Gesicht. Der 23-Jährige steht vor einem Fernseher, in dem man eben die Zahlen des ZDF-Politbarometers sehen konnte. Es sieht überhaupt nicht gut aus für die SPD. Aber gerade deswegen will er sie jetzt unterstützen. Mit der Idee spielt Pumm schon länger, die schlechte Prognose hat seinen Beschluss besiegelt. Außerdem ist er immer noch optimistisch: „Ich hoffe da einfach auf den großen Überraschungsmoment, wie beim Brexit – nur andersherum“, meint er.

Gespanntes Warten im Willy-Brandt-Haus

Gespanntes Warten im Willy-Brandt-Haus Foto: L. Becke

18.01 Uhr, Willy-Brandt-Haus: Was sollen wir machen?

„Fuuuck“, entfährt es einem jungen Mann im blauen Anzug. Ungläubig schaut er zu seiner Begleiterin und fährt sich wirr durch die braunen, gegelten Haare. Vom gläsernen Treppenhaus in der SPD-Parteizentrale aus hat man einen guten Blick auf den großen Raum, in dem ein Rednerpult aufgebaut ist und sich die Kameras drängen. Die SPD steuert auf ihr schlechtestes Ergebnis seit 1949 zu. Auf der Treppe kommen die Menschen in Bewegung, ein Mann stürzt die Stufen förmlich hinunter. Er bläst die Backen dick auf und lässt die Luft mit einem lauten Pfeifen entweichen. Unten an der Treppe rennt er an einem älteren Partei-Mitglied vorbei, stürzt durch die Glastür und ist weg.

18.00 Uhr, Hans-Dietrich-Genscher-Haus: „So viel Schadenfreude!“

Jubelschreie, elegante Hüpfer bei den Damen, Siegesgebrüll bei den Herren. Die Schlipse werden gelockert: „Soll nochmal einer erzählen, die FDP sei bedeutungslos geworden! So viel Schadenfreude damals, so viel Schadenfreude!“ Das ist einer der Sätze, der immer wieder fällt, der andere, selbst ganz schön gehässig: „Komm, jetzt wollen wir den Sankt Martin sehen.“

"Oh, oh, da ist der Christian, der Linde-Män", seufzen die FDP-Damen als Lindner noch ein Bad in der siegestrunkenen Menge nimmt

“Oh, oh, da ist der Christian, der Linde-Män”, seufzen die FDP-Damen als Lindner noch ein Bad in der siegestrunkenen Menge nimmt C. Häntjes

Dabei wartet man hier doch ungeduldig auf den liberalen Pop-Messias. Es gibt dann auch kein Halten mehr, als Christian Lindner endlich auf die Bühne klettert. „Liebe Freundinnen und Freunde, liebe Freunde“, wiederholt er immer wieder und schenkt der Menge ein kokettes Augenzwinkern nach dem anderen. Der Parteivorsitzende, der FDP-Wahlkampfritter, drückt das Gefühl aus, das alle hier zu teilen scheinen: Die Freien Demokraten sind die eine Kraft der Mitte, die einzig wahre Partei der Freiheit und der Demokraten. Union, SPD, Grüne, Linke – ihnen ist zu verdanken, dass die AfD so stark geworden sei. Denn die FDP, die saß ja nicht im Bundestag. Dann nimmt Lindner seinen Stellvertreter, Wolfgang Kubicki, beim Wort, der meint, jetzt müsse kräftig einer gegossen werden. Er ruft: „Ab morgen wird gearbeitet. Aber heute Abend tanken wir Kraft.“ Dann dreht einer die Musik auf. Aber der Name ist trotzdem die ganze Zeit zu hören: Christian, Christian, Christian.

18.00 Uhr, Vollgutlager Neukölln, Wahlparty der Grünen: „Ja!”

Foto: M. Gommel

Foto: M. Gommel

Foto: M. Gommel

Foto: M. Gommel

Foto: M. Gommel

18.00 Uhr, Zivilgesellschaftliche Wahlparty, Friedrichshain: „Es ist verdammt beschissen.”

Als die ersten Ergebnisse über den Bildschirm flackern, verziehen die Mitglieder von Kleiner Fünf schmerzhaft ihre Gesichter. Ein Jahr lang hat sich die Initiative dafür eingesetzt, dass die AfD nicht in den Bundestag einzieht. Ihr Ziel hat sie verfehlt. Haushoch.

Junge Menschen – solche, die gerne darüber diskutieren, wie sie aus ihrer linksliberalen Filterbubble rauskommen – starren abwechselnd auf ihre Handys und die Leinwand mit den Ergebnissen. Bei 88 Sitzen für die AfD geht ein verschämtes Kichern durch den Raum, den meisten bleibt es im Hals stecken. Sie würden jetzt gerne wütende, traurige, empörte Tweets und Posts absetzen. Doch das Netz ist weg. Bleibt nur der analoge Trost, die Umarmungen der Freunde.

Franzi war die vergangenen Stunden spazieren, um nicht verrückt zu werden vor Aufregung. „Wir haben Nazis im Parlament“, sagt sie jetzt ungläubig. Die Frustration hängt lähmend im Raum. Schließlich kommen die Sprecher verschiedener Initiativen auf die Bühne und sollen diskutieren. Ihre Mienen sind versteinert, die Erklärungen hölzern.

„Es ist verdammt beschissen, dass ich über neun Prozent für die AfD erleichtert gewesen wäre“, sagt ein junger Mann. Die Redner versuchen kämpferische Töne anzustimmen, „der eigentliche Marathon geht jetzt erst los“, rufen sie, die nächsten vier Jahre sollen unbequem werden für die AfD. Damit soll es gleich losgehen, für 21 Uhr rufen sie zu einer spontanen Demo vor dem Bundestag auf.

18.04 Uhr, ARD-Hauptstadtstudio: „Bringt ja nix.”

Während sich im Hauptstadtstudio der ARD Frauke Petry, Dietmar Bartsch und andere Politiker über den Weg laufen, warten draußen Neugierige, Autogrammjäger und Empörte. Nur knapp einen Meter trennen den jungen Mann von Frauke Petry – dazwischen ist aber eine dicke Scheibe Glas. Drinnen wird Petry vom mdr interviewt, draußen streckt der junge Mann ihr den Mittelfinger vor die Nase. Ungerührt und unbeeindruckt spricht sie weiter. „Bringt ja nix”, raunt dem jungen Mann eine ältere Frau zu. „Recht haben Sie, aber bringt ja nix.” Zwei Minuten später ist alles vorbei, Petry im hellblauem Kostüm eilt zum Auto. Und fort ist das Gespenst.

18.47 Uhr, Willy-Brandt-Haus: Bitter

Gruppen von Menschen strömen aus den zwei Türen nach draußen in den überdachten Vorhof der SPD-Parteizentrale. Drinnen hat Martin Schulz die Bühne gerade wieder verlassen, nachdem er seine Erklärung zu den ersten Zahlen nach Schließung der Wahllokale abgegeben hat. Es ist ein bitterer Tag für die Sozialdemokratie, erst recht angesichts der Stärke der AfD. Schulz, der nach minutenlangen „Martin”-Rufen auf die Bühne gekommen war, bleibt trotzdem Vorsitzender. Er bekommt viel Applaus, als er sagt, die wichtigste Aufgabe der SPD sei es, die Demokratie auszubauen und zu schützen. Seine Worte haben nun alle im Kopf, die sich durch die Türen drängen. „Wo gehen wir jetzt hin?” fragt eine junge SPDlerin ihre Begleiterin, die mit rotem Turnbeutel auf dem Rücken nach draußen drückt. „Erstmal an die frische Luft, erstmal raus“, antwortet sie. Erstmal raus und in die Opposition, sagt auch Martin Schulz.

Foto: L. Becke

19.50 Uhr, Hans-Dietrich-Genscher-Haus: Eine Minute mit Rainer Brüderle

Drei Sätze mit Rainer Brüderle, der sich gerade an den Bockwürsten bedient und mit dem Zeigefinger signalisiert: Sie kriegen eine Minute.
Frage: „Herr Brüderle, wie isses heute Abend …“ (Im Hintergrund bricht bei der nächsten Hochrechnung, die 10,5 Prozent für die FDP bestätigt, schon wieder Jubel aus.)
Brüderle: „Es ist ein sehr schönes Ergebnis. Das ist eine Basis, um endlich wieder auch im Bundestag eine liberale Politik der Mitte, der sozialen Marktwirtschaft und der Bürgerrechte vorantreiben zu können. Vorbei die Zeit einer großen Koalition mit 80 Prozent Mehrheit, es wird jetzt farbiger und interessanter.“
Frage: „Was soll die FDP als erstes anpacken?“
Brüderle: „Sie soll sich erstmal im Parlament konstituieren und ihre Politik konsequent umsetzen. Es liegt jetzt an Frau Merkel zu sondieren, wie die CDU als stärkste Partei eine Mehrheit zustande kriegt.“
Frage: „Und wie muss man jetzt mit der AfD als drittstärkster Kraft im Parlament umgehen?“
Brüderle: „Die AfD ist jetzt im Parlament. Die Bürger haben sie gewählt. Das muss man respektieren. Aber es gibt keine Partei, die mit der AfD zusammenarbeiten will.“

19.57 Uhr, Club Traffic, Alexanderplatz: „Ganz Berlin hasst die AfD.“

„Ich hab’s zu Hause einfach nicht mehr ausgehalten“, sagt Elgin. Sie steht vor dem Club, gleich beim Alex. Ein Aufreißerschuppen. Auf der Dachterrasse, unter der großen Leuchtreklame, „Humana. Second Hand“, sitzen die Gäste der AfD-Wahlparty staatsmännisch auf Stühlen mit Armlehnen. Elgin steht darunter und hält ein Plakat hoch, auf dem steht: „Lieber solidarisch, als solide arisch.“ Das hat sie schnell noch zu Hause gemalt, nachdem sie die erste Prognose im Fernsehen gesehen hat: 13,5 Prozent für die AfD. Etwa 150 Leute Demonstranten stehen mit ihr unter der Dachterrasse, auf der die AfD feiern will. Sie rufen: „Nationalismus raus aus den Köpfen“ und „Ihr habt den Krieg verloren“ und „Ganz Berlin hasst die AfD“, und von der Dachterrasse singt es in der Melodie von „Ohne Blabla wär hier gar nichts los“ zurück: „Eure Kinder werden so wie ihr!“ Ein Flaschensammler schimpft auf die Demonstranten ein: „Ihr seid doch alle bescheuert!“ Eine blonde Frau in einem schwarzen Mantel blafft zurück: „Dann sammel doch deine Flaschen woanders!“ Zwei Touristen fragen Elgin, was der Spruch auf ihrem Schild bedeutet. Sie erklärt es ihnen.

Foto: M. Gommel

Foto: M. Gommel

https://youtu.be/w3YidNvDE6Y

20.13 Uhr, ARD-Hauptstadtstudio: Warten auf Merkel

Foto: D. Wurnig

Vor dem Hauptstadtstudio steigt die Spannung, immer mehr Menschen treffen ein. Auf der einen Seite Touristen und Schaulustige mit ihren Handys, auf der anderen Seite Fotografen, Kameraleute und Fernsehteams. Dietmar Bartsch, Thomas de Maiziere, Olaf Scholz kommen und gehen wieder. Sahra Wagenknecht hat sogar ihren Ehemann Oskar Lafontaine mitgebracht – er hält ihr elegant die Autotür auf. Ein spanischer Tourist fragt verwirrt: „Who is she?”

Als es zu schütten anfängt, wird es nochmals enger, auch die Polizei wird jetzt nervös. Gleich, um 20.15 Uhr, wird hier die komplette politische Elite des Landes diskutieren. Auf der Spree kreuzt ein Polizeischiff, Polizisten mit Maschinengewehren weisen die Journalisten einen Meter nach hinten. Ein Demonstrant kommt mit dem Fahrrad, er hat ein großes Schild dabei: „Not my Mutti” steht drauf. Seinen Namen will er nicht nennen, sein Gesicht nicht zeigen, denn als AfD-Wähler habe er Angst, sagt er, dass sein Auto angezündet werde. „Merkel macht Europa kaputt, und das ist schade”, meint der Mann auf dem Fahrrad. Er meint Merkels Migrationspolitik und prophezeit, dass Osteuropa dabei nun nicht mehr mitmachen werde. Auch am Brexit sei Merkel schuld, findet er. Zweimal hintereinander bleiben junge Männer stehen und gratulieren dem Fahrradfahrer zu seinem Schild: „Recht so”, sagen sie. Er wiederum ist unzufrieden mit dem Wahlergebnis, 13 Prozent findet er zu wenig.

Dann kommen sie: Zuerst Katrin Göring-Eckardt im grün lackierten Auto. Martin Schulz macht gute Miene zum bösen Spiel und grinst die Meute an. Christian Lindner geht die letzten Schritte zu Fuß. Und dann kommt sie, die Frau, die der Fahrradmann hier nicht sehen will. Kurz brandet Applaus auf, Touristen in bunten Outdoorjacken hüpfen von einem Bein aufs andere. Angela Merkel zuckt mit keiner Wimper und geht ungerührt am Volk vorbei. Den Blazer hat sie gewechselt: Von Rot auf Blau. So wie die Bundesrepublik.

Foto: D. Wurnig

20.58 Uhr, Club Traffic, AfD-Wahlparty: „Die Bullen setzen schon ihre Helme auf.”

„Jetzt sind wir schon mehr als 1.000!“, schreit jemand in ein Mikro. Die Zahl scheint nicht übertrieben, und es kommen immer mehr Leute hierher an den Alex, wo die AfD im Club Traffic ihren Wahlerfolg feiert. Aus einem Lautsprecherwagen kommt Rockmusik. Die Terrasse haben die AfDler inzwischen geräumt, aber der Sprechchor: „Ganz Berlin hasst die AfD“ ist inzwischen so laut, dass man das wahrscheinlich trotz Discomusik und geschlossenen Fenstern auch drinnen hört. Als dumpfes Grummeln in der Dunkelheit zumindest. „Antifaschismus wird nicht im ARD-Hauptstadtstudio gemacht”, sagt der Mann am Mikro. Die Polizei hat inzwischen die Alexanderstraße gesperrt und versucht, die Demonstrationsteilnehmer ein wenig einzukesseln, eher halbherzig. „Guck mal, die Bullen setzen schon ihre Helme auf“, höre ich jemanden sagen.

Foto: M. Gommel

21.00 Uhr, Reichstag: „Radikal höflich”

Auf der Wiese vor dem Bundestag stehen aufgereiht etwa 200 Menschen. Das monumentale Gebäude ragt vor ihnen ins Dunkle, Handylichter zeichnen harte Kontraste in die Gesichter der Versammelten. Man erwartet wütende Gesichter, vielleicht Feindseligkeit, doch die Stimmung ist andächtig. Viele sind dem Aufruf zivilgesellschaftlicher Initiativen gefolgt, hier vier Minuten zu schweigen, bevor sie vier Jahre lärmen, streiten und diskutieren werden.

Foto: M. Ruzicka

„Wir wollen nicht gegen die AfD protestieren, sie ist demokratisch gewählt. Aber wir wollen ein Zeichen setzen, dass wir ihnen genau auf die Finger schauen werden”, wendet sich Paulina, die Sprecherin der Kampagne Kleiner Fünf an ihre jungen Mitstreiter. Die vier Minuten wirken endlos, ein langes Innehalten nach dem hektischen Tag. Dann blitzt doch etwas Kampfgeist in den Augen auf. Doch im Gegensatz zu den Parolen, die am Alexanderplatz gebrüllt werden, bemüht man sich hier um ausgewogene Äußerungen. „Radikal höflich” wolle man die Diskussion mit der AfD führen, sagt eine Teilnehmerin.

Als die Polizei kommt, werden die Menschen nervös. Doch die beschwichtigt: „Ihr habt das Recht auf spontane Kundgebungen.” Die Polizisten sprechen mit den Veranstaltern und sind erfreut, dass sie es nicht mit Randalieren zu tun haben. „Einen schönen Wahlabend noch”, wünschen sie förmlich, „auch wenn das Ergebnis je nach politischer Gesinnung vielleicht enttäuschend ist”. Die Menge löst sich auf, jetzt will man doch noch feiern. Die Wahlbeteiligung ist gestiegen – das, immerhin, kann man als gutes Zeichen für die Demokratie sehen.

Foto: M. Ruzicka

21.10 Uhr, Festsaal Kreuzberg, Wahlparty Die Linke: Kaputto

Aus dem Club der Visionäre, der hippen Bar an der Spree, wummern harte Electro-Beats. Direkt gegenüber ist die Wahlparty der Linken im vollen Gange und sieht mindestens genau so hip aus. Die Lampen im Außenbereich strahlen rotes Licht in die Nacht, zu Indiepop und Discohits von DJane Kate Kaputto zuckeln Menschen mit Getränken, vor allem Bier, durch die Menge. „Haben wir gut hingekriegt”, bestätigt man sich gegenseitig, das Gleiche hörte man ein paar Minuten zuvor von der Bühne im Gebäude. Da sprachen die beiden Moderatoren mit drei jungen Leuten aus dem Wahlkampfteam der Linken für den Wahlkreis Berlin Mitte, wo die Linke voraussichtlich die Mehrheit der Zweitstimmen holen wird. „Und das in Berlin Mitte!”, staunt einer. Ein junger Mann mit Hut, der den Social Media Auftritt für den Wahlkreis geleitet hatte, meint: „Es ist super, dass wir von der Partei so eine Unterstützung bekommen haben und eigentlich ausprobieren konnten, was wir wollten.” Es wird viel applaudiert und gejubelt. Nur eine Sache trübt die Stimmung. „Die AfD”, seufzt eine und nimmt einen großen Schluck von ihrem Bier.

Foto: L. Becke

21.30 Uhr, vor dem Restaurant Borchardt, Berlin-Mitte: Responsible Lobbying

Im inoffiziellen Lieblingsrestaurant des Berliner Betriebs laden Zeit und Tagesspiegel zur Wahlparty. Männer mit Einstecktüchern in eng geschnittenen Sakkos rennen hastig zum Einlass, die Frauen tragen schicke Kleider und hohe Schuhe. Die letzten Minuten der Elefantenrunde laufen noch, aber vor der Tür sind einige Besucher schon wieder im Small-Talk-Networking-Standardmodus. Wortfetzen dringen durch die Herbstluft: „Responsible Lobbying nenne ich das …“… „Und was machst du gerade noch einmal genau?“ … „Masterarbeit – International Relations” … „Wann fliegst du denn wieder?”

Ein kleines Grüppchen Normalgekleideter wartet vor der Tür. Ein Auto mit groß aufgeklebtem Politikergesicht fährt vor. Katrin Göring-Eckardt steigt aus, die Gruppe tritt auf sie zu. Es sind Anhänger und Freunde, die sie klatschend begrüßen und mit der Spitzenkandidatin der Grünen schnell in der Menge verschwinden.

Eine andere Frau tritt aus dem Restaurant, blickt zurück und schüttelt den Kopf, weil die Zeit jetzt drinnen Geschenk-Tütchen verteilt. „Jetzt, wo wir gehen, schleppen die ihre Give-Aways an!”

22.45 Uhr, Club Traffic, Alexanderplatz: „Eure Kinder werden so wie wir!“

Die AfD hat langsam ausgefeiert und die Besucher wollen nach Hause, nur haben die Demonstranten mittlerweile mitbekommen, wo der Ausgang der Party ist. Dutzende schwer ausgerüstete Polizisten müssen die AfDler über die Straße geleiten. Demonstranten rufen: Eure Kinder werden so wie wir! Die Polizei wird nervös.

23.40 Uhr, hinter der Polizeiabsperrung bei der Anti-AfD Demo am Traffic-Club

Langsam lichten sich die Reihen der Demonstranten, aber die Sprechchöre reißen nicht ab. Hauptsache, Präsenz zeigen, auch wenn die Lichter hinter den hohen Scheiben des Traffic-Clubs langsam ausgehen und sich AfD-Mitglieder durch die Hintertür rausschleichen müssen. Eigentlich waren die Proteste nur bis 22 Uhr angemeldet, die Polizisten werden ungeduldig, mehrere Demonstranten haben sie schon unter den Buh-Rufen und ausgestreckten Mittelfingern der anderen abgeführt. Ein paar wenige Journalisten stehen in Grüppchen rum, teilen sich Zigaretten und Aufladegeräte. Reiben ihre kalt gewordenen steifen Hände und ziehen schniefend die Nasen hoch. Stundenlang haben sie Interviews geführt, Fotos geschossen, sind von einem Ort zum anderen gerannt, um die Wahl festzuhalten und irgendwie zu erklären, was an diesem Tag in Deutschland passiert ist. Jetzt ist die Luft raus, die Anspannung verflogen, es bleiben nur Müdigkeit und Ernüchterung in den Gesichtern.

„Eigentlich musste ich heute gar nicht arbeiten. Aber ich konnte nicht zu Hause sitzen bleiben“, bekennt der Fotograf einer Nachrichtenagentur. Die Umstehenden nicken zustimmend, heute haben alle Überstunden gemacht. Irgendwann verabschieden sie sich mit knappem Nicken, in wenigen Stunden sieht man sich sowieso schon wieder. Die Arbeit hat gerade erst angefangen.