Wohin die Wähler wandern, weiß niemand (auch nicht die ARD)

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Analyse: Wohin die Wähler wandern, weiß niemand (auch nicht die ARD)

Wenn am Wahlabend die vielen bunten Pfeile erklären sollen, wohin welche Wähler gewechselt sind, sieht das sehr wissenschaftlich aus. Es ist aber nicht viel zuverlässiger als dein Bauchgefühl. Warum sendet die ARD so etwas?

Profilbild von Analyse von Dominik Wurnig

Es gehört zur traditionellen Wahlabendzeremonie: Nachdem das Wahlergebnis feststeht und jeder Politiker ein nichtssagendes Statement in eine Kamera abgesetzt hat, kommt die Analyse der Wählerwanderung. Genau, das ist das mit den vielen bunten, manchmal etwas verwirrenden Pfeilen im Ersten am Wahlabend, die zeigen sollen, wie sich die Wähler im Vergleich zur letzten Wahl entschieden haben. Weil den ZDF-Wahlforschern diese Analysen zu unseriös sind, verzichtet man dort übrigens ganz darauf, aber dazu später mehr. Mal heißt diese Auswertung Wählerwanderung, mal Wählerstromanalyse – gemeint ist, wie viele Wähler die Parteien einander wegnehmen konnten.

Gegen 20 Uhr haben die Demoskopen von Infratest dimap voraussichtlich die erste Version ausgerechnet. Nun legt Jörg Schönenborn los, Fernsehdirektor des WDR und seit 1999 Moderator der ARD Wahlsendungen. Anhand der bunten Pfeile erklärt er, wie viele Wähler Partei A von Partei B gewinnen konnte, was die Nichtwähler gemacht haben, und dass Partei C überhaupt keine Wähler von Partei B ziehen konnte. Dass die Wählerwanderung in absoluten Zahlen berechnet wird, auf Zehntausend gerundet, suggeriert Genauigkeit. So klingt das Ergebnis nach exakter Wissenschaft, nach genauer Messung. Doch so einfach ist es nicht.

Zunächst sollten wir erklären, wie die ARD zu ihren Zahlen kommt.
Am Wahltag führt das Meinungsforschungsunternehmen Infratest dimap im Auftrag der ARD vor 624 Wahllokalen in ganz Deutschland etwa 100.000 Befragungen mit anonymen Fragebögen durch.

Direkt nach dem Verlassen des Wahllokals werden die Wähler anonym befragt, wen sie gerade gewählt haben. Aus diesen Umfragen errechnet Infratest dimap auch die Prognose, die um Punkt 18 Uhr in der ARD verkündet wird. Außerdem auf dem anonymen Fragebogen: Wen haben Sie bei der letzten Bundestagswahl 2013 gewählt? Damit soll später die Wanderung zwischen zwei Parteien berechnet werden.

Du weißt nicht, was du im Herbst vor vier Jahren getan hast

So weit so gut. Vorausgesetzt, man weiß tatsächlich noch, wo man vor vier Jahren das Kreuz gemacht hat. Genau das ist aber zweifelhaft. Wir haben in der Krautreporter-Community nachgefragt: Von 691 Teilnehmern können sich 15 Prozent nicht daran erinnern, wem sie vor vier Jahren ihre Zweitstimme gegeben haben. 389 Krautreporter-Leser, also nur etwas mehr als die Hälfte, sind sich zu hundert Prozent sicher, dass sie das noch genau wissen. Natürlich ist das keine repräsentative Befragung, aber immerhin ist klar zu sehen, dass selbst die politisch interessierten Leser von Krautreporter sich nicht immer sicher sind, was sie bei der letzten Wahl gewählt haben.

Wahrscheinlich ist das Problem aber noch größer. Bei vier Wahlgängen, Kommunal-, Landtags-, Bundestags- und Europawahlen nämlich, ist es leicht, etwas im Nachhinein durcheinander zu bringen. Dazu kommt: Wie gut oder schlecht wir uns an Ereignisse erinnern, hängt auch davon ab, wie sehr wir daran interessiert sind. Es ist leicht vorstellbar, dass sich Politik-Nerds (als Leser dieses Artikels gehörst du wahrscheinlich dazu), Stammwähler und höher Gebildete eher richtig erinnern. Das heißt also, dass die tatsächliche Wählerwanderung möglicherweise anders ausfällt, als man aus den Erinnerungen der Leute schließen kann.

„Wir wissen nicht genau, wie viele sich falsch erinnern. Die Methode, das zu messen, ist schwierig”, sagt Rainer Faus, der mit seiner Agentur pollytix die SPD berät. „Aber wir ahnen, dass die Erinnerungslücken nicht systematisch sind.” An die Wahl von Parteien, die im Abschwung seien, würden die Menschen sich häufiger falsch erinnern als an Parteien, die konstant blieben. „Es war offensichtlich im Mai 2017 bei der Wahl in Nordrhein-Westfalen, dass die Erinnerung an die Piraten sehr, sehr niedrig war”, sagt Faus. Die Piraten bekamen 2012 bei der NRW-Wahl 7,8 Prozent der Stimmen, drei Viertel davon konnten sich fünf Jahre später nicht mehr daran erinnern, sagt Faus. Ein weiteres Beispiel sei die Landtagswahl im Januar 2013 in Niedersachsen. Damals war die AfD gerade erst in Gründung und trat noch nicht zur Wahl an. Trotzdem sagen heute Befragte in Niedersachsen, sie hätten bei der letzten Landtagswahl AfD gewählt.

Die Menschen würden sich an vergangenes Verhalten so erinnern, dass es zu ihrer aktuellen Präferenz passt, um eine kognitive Harmonie herzustellen, sagt Matthias Jung von der Forschungsgruppe Wahlen, der im Auftrag des ZDF Wahlumfragen macht. „Das heißt konkret, dass die Angaben schon bei diesem zentralen Baustein der Wählerstrommodelle manchmal sehr verzerrt sind”, sagt Jung. Es ist nicht so, dass die Menschen die Wahlforscher belügen würden – ihre Erinnerung hat sich schlicht verändert. Anders als die ARD verzichtet das ZDF auf eine Darstellung der Wählerwanderung. Nicht, weil sie das ZDF uninteressant fände, sondern weil sich die Forschungsgruppe Wahlen einfach weigert. „Wir halten solche Wählerstromanalysen für in weiten Teilen unseriös”, sagt Jung.

Michael Kunert, Geschäftsführer von Infratest dimap, sieht das naturgemäß anders: „Es ist uns auch klar, dass die Wähler sich nicht zu 100 Prozent richtig erinnern, aber im Wesentlichen stimmen ihre Aussagen.”

Noch viel schwieriger als die trügerische Erinnerung der Wähler ist für die Wahlforscher der Umgang mit Nichtwählern. Wer nicht wählt, kann ja auch nicht vor einem Wahllokal befragt werden. Trotzdem sollen die Wahlverweigerer in der Wählerwanderung abgebildet werden. Dafür greift Infratest dimap auf die regulären Befragungen vor der Wahl zurück – mit allen ihren bekannten Problemen (Die hat Dominik Wurnig hier beschrieben). Matthias Jung hält das für keine gute Idee. „Nichtwähler werden in den normalen Umfragen systematisch unterschätzt, da dort vor allem dezidierte und zumeist unzufriedene Nichtwähler erfasst werden und die große Zahl der eher unpolitischen Nichtwähler, die nicht so unzufrieden sind, kaum ausgemacht werden können”, sagt Jung.

Mehr Union- als Grün-Wähler verstorben

So traurig es ist: Seit der letzten Wahl sind ja auch einige Menschen gestorben – genauer gesagt fast eine Million Menschen in jedem Jahr. Auch diese muss man in der Wählerwanderung berücksichtigen, sonst hätte man eine unerklärbare große Lücke in der Berechnung. „Wir erfragen bei den statistischen Ämtern die Zahl der gestorbenen deutschen Wahlberechtigten in den Jahren der Legislaturperiode. Anhand der repräsentativen Wahlstatistik schätzen wir das Wahlverhalten dieser Personen bei der zurückliegenden Wahl”, sagt Kunert. „Ein immer wiederkehrendes Ergebnis ist, dass mehr CDU-Wähler sterben als Erstwähler gewonnen werden.”

Wenn du dich jetzt fragst, wie dein Kumpel, der nach Australien ausgewandert ist, in der Wählerwanderung berücksichtigt wird, muss ich dich enttäuschen. „Die Wanderung ins Ausland und vom Ausland nach Deutschland können wir mengenmäßig vernachlässigen”, sagt Kunert. Dabei ziehen jedes Jahr fast 150.000 deutsche Staatsbürger ins Ausland.

Und jene, die am Wahlsonntag verhindert oder krank sind oder einfach keine Lust haben, aus dem Haus zu gehen und deshalb Briefwahl nutzen? 2013 tat das knapp ein Viertel aller Wähler und Wählerinnen. Bei der Bundestagswahl 2017 wird ein neuer Rekordwert erwartet. Diese Briefwähler werden überhaupt nicht in die Wählerwanderungsgleichung aufgenommen. „Der Anteil der Briefwähler wird immer größer, aber der strukturelle Unterschied zwischen Brief- und Urnenwählern wird immer kleiner“, begründet das Kunert. Eine gewagte Annahme. 2013 schnitt die CSU um 4,2 Prozentpunkte, die GRÜNEN um 2,1 Prozentpunkte und die FDP um 1,7 Prozentpunkte besser bei Brief- als bei Urnenwählern ab. CDU, SPD und Linke waren hingegen an der Urne erfolgreicher.

Schätzungen als Tatsachen

Aus dieser Rechnung mit ihren vielen Annahmen, Schätzungen und Ungenauigkeiten macht die ARD am Wahlabend eine Tatsache: Von der NPD seien 20.000 Wähler zur AfD gewandert, 56.000 ehemalige Nichtwähler und 16.000 Ex-SPD-Wähler hätten bei der letzten Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern zur AfD gewechselt, wie in dem Ausschnitt aus dem ARD-Morgenmagazin zu sehen ist.

https://www.youtube.com/watch?v=wzMr5sF6pwY

Das kritisiert selbst Kunert von Infratest dimap: „Wir weisen ganz bewusst absolute Zahlen aus, um uns von den Prozentwerten der Wahlprognose abzusetzen, damit man sieht, das ist jetzt etwas anderes. Das verleitet leider dazu, die Wählerwanderung als etwas sehr Exaktes wahrzunehmen, und der Charakter der Schätzung wird nicht mehr von allen gesehen”, sagt Kunert von Infratest dimap.

Eigentlich handelt es sich bei der Wählerstromanalyse aber immer bloß um eine Schätzung. Die WDR-Pressestelle gibt das auf Anfrage auch offen zu. „Natürlich sind alle Einzelströme nur Schätzungen, aber die typischen Hauptaussagen wie ‚Die AfD gewinnt vor allem Stimmen von Partei X‘ oder ‚Partei Y hat besonders viele Nichtwähler mobilisiert‘ treffen sehr wohl zu”, sagt Kristina Bausch von der WDR-Pressestelle.

Entsprechend spitz fragte der SWR-Chefreporter Thomas Leif auch bei der Podiumsdiskussion Mainzer Mediendisput im Mai 2017 in die Politikwissenschaftlerrunde: „Wäre nicht diese auf Sand gebaute Wählerwanderungsgeschichte ein größeres Projekt für Fake-News-Einheit, das mal auf Tagesschau.de stehen könnte?”

„Die Wählerwanderung als Fake News zu bezeichnen ist natürlich eine polemische Zuspitzung, um zu verdeutlichen, dass hier extreme Vorsicht angesagt ist und sie keineswegs als empirisch gemessene Wirklichkeit interpretiert werden darf”, sagt Jung. „Bestenfalls sind es in einem Modell zusammengetragene mehr oder minder plausible Annahmen über die Realität.”

Faus hält die Wählerstromanalysen für “totalen Blödsinn”. “Die Wählerwanderungen, die auf der Erinnerung an die letzte gleiche Wahl beruht, stehen auf extrem wackeligen Beinen. Man kann daraus allenfalls ungefähre Schlüsse ziehen”, sagt Faus. “Eigentlich sollte man solche Sachen im Fernsehen aber nicht behaupten. Am schlimmsten dabei ist die Genauigkeit, die sie vorgaukeln.”

Bei Infratest dimap sieht man das anders und schiebt den konkurrierenden Demoskopen der Forschungsgruppe Wahlen den Ball zu. Die Forschungsgruppe Wahlen stehe auch unter Druck des ZDF, das auch gerne Wählerstromanalysen zeigen würden, meint Kunert. „Die Forschungsgruppe hält aber an ihrer Entscheidung fest und kann das auch nur begründen, wenn sie entsprechend scharf gegen die Wählerwanderung schießen”, sagt Kunert. „Würden sie sagen, ‚ Ja, das kann man schon machen‘, dann würde das ZDF sagen: ‚Dann macht das doch‘”.

Hunger der Medien

So zurückhaltend die Wahlforscher auch sind, so problematisch wird die Wählerstromanalyse vor allem im Onlinejournalismus. Während die Darstellung grober Wählertendenzen noch eine halbwegs seriöse Schätzung ist, wird es bei den Details immer haariger. „Wir weisen immer wieder darauf hin, dass man sich bei der Interpretation am besten auf die wesentlichen zwei bis drei Ströme konzentriert”, sagt Kunert. „Das ist im Fernsehen leichter als Online. Dort zeigt man gerne die ganze Matrix, aber dafür fällt dann die einordnende Analyse oft sehr kurz aus.”

Wie viele Wähler und Wählerinnen von den Grünen zur AfD gewandert sind, lässt sich mit der Wählerwanderungsanalyse kaum beantworten, obwohl die Darstellung genau das nahelegt. Um die Ergebnisse verlässlicher und genauer zu machen, müsste man die Nachwahlbefragung mit einer statistische Auswertung der Wahlergebnisse auf Mikroebene kombinieren. „Aber dafür liegen die Daten am Wahlabend nicht komplett vor, und der Mehrwert ist umstritten”, sagt Kunert.

Nach der Wahl, meint Politikberater Faus, fange das Dilemma mit den Wählerwanderung jedenfalls erst richtig an. „In jeder Parteizentrale beugen die sich da drüber und fragen sich, was da los ist”, sagt Faus. „Man sollte damit einfach vorsichtiger umgehen, weil das immer irrsinnig viel Staub aufwirbelt.” Er müsse danach eine Erklärung für die auf Sand gebauten Zahlen finden oder in jahrelangen Gesprächen versuchen, den Politikern das wieder auszureden. Jedenfalls gilt: Man sollte nicht alles für bare Münze nehmen, was im Fernsehen gesagt wird.


Beim Erarbeiten des Textes hat Theresa Bäuerlein geholfen; gegengelesen hat Vera Fröhlich; das Aufmacherbild hat Martin Gommel ausgesucht (Unsplash / Oliver Thomas Klein).