Ich war früher aufgewacht als sonst und saß in meinem Bett. Tränen liefen mir über die Wangen. Die Briten waren raus. Es war der Morgen nach dem Brexit-Referendum, und mein Handy hatte mich mit einer Eilmeldung geweckt.
London ist die Stadt meines Herzens, und an diesem Morgen musste ich an meine Freunde dort denken. Nur, da war noch viel mehr: Ich bekam Angst – Angst, dass sich die EU von ihrer ursprünglichen Idee entfernt. Am Morgen des Brexits verstand ich, dass mir die EU sehr wichtig ist. Sie ist meine Heimat und, wie ich finde: eine sehr gute Idee. Was würde aus ihr werden?
Geht es um die Zukunft der Europäischen Union, hat Angela Merkel eine Schlüsselrolle. Deutschland ist das bevölkerungsreichste Land in der EU. Wer etwas verändern will, kann das nicht gegen, sondern nur mit Deutschland tun. Er kann also auch nicht gegen Angela Merkel handeln. Sie hat großen Einfluss darauf, in welche Richtung sich die EU entwickelt. So, wie es gerade aussieht, wird Merkel noch vier Jahre weiterregieren. Deshalb frage ich mich: Welche EU will sie? Und: Mag ich das Europa, das die Kanzlerin will? Ich beschließe, es herauszufinden.
Am Anfang sind Merkel und ich uns einig
Ich beginne mit Merkels Ansprachen zu Europa. Politiker legen ihre großen Ideen ja immer in solchen „Grundsatz”-Reden nieder. Wenn ich verstehen will, wie Merkel auf Europa blickt, muss ich diese also lesen. Am 17. Januar 2007 sagt sie in einer Rede vor dem Europäischen Parlament in Straßburg: „Hier begegnet sie uns wieder, die Seele Europas: darin, dass wir im friedlichen Miteinander, ja Füreinander nach dem Besten suchen.” Ein paar Augenblicke später fügt sie hinzu: „Europa wird uns nur gemeinsam gelingen.” Das klingt, als sei sie überzeugt vom europäischen Miteinander. Dieser Gedanke hat ja auch das Fundament der Europäischen Union gelegt: Nach dem Zweiten Weltkrieg – nie wieder Krieg! Da sind Merkel und ich uns also einig.
Auch bei dem, was sie an der Humboldt-Universität am 27. Mai 2009 sagt, bin ich noch ganz bei ihr: „Für mich lag und liegt das Eigentliche der Europäischen Union in ihrer Verbindung aus gemeinsamen Grundwerten, einer verlässlichen Rechtsordnung und Wohlstand für alle.” Die Kanzlerin fügt hinzu, dass nicht allein der Euro und der Binnenmarkt die Europäische Union zusammenhalten, sondern dass es die gemeinsamen Werte sind, die unser solidarisches Handeln ermöglichen. Mir fällt auf, dass Merkel ganz zufrieden damit zu sein scheint, wie die EU jetzt ist. In der Rede vor dem Europäischen Parlament bezeichnet sie die EU als ein „wunderbares Haus“. Das Bild gefällt mir. Als Europäer sind wir überall in der EU zu Hause.
Stutzig werde ich zum ersten Mal hier: Merkel sagt in der Humboldt-Rede, dass sich die Aufgaben der Union wandeln. So weit, so offensichtlich. Aber ihre Schlussfolgerung überrascht mich. „Was vor 50 Jahren eine vordringliche Aufgabe der Gemeinschaft war“, müsse dies nicht für immer bleiben, sagt sie. Merkel will nicht, dass die Institutionen der EU immer mehr entscheiden können.
Sie sagt auch: „Ich halte wenig von diesen Finalitätsdebatten.“ Also wenig von den großen Diskussionen, die darüber geführt werden, wohin die EU streben soll, welchen Zustand sie am Ende erreichen soll. Sie ist da mehr für „die jeweils politisch notwendigen nächsten Schritte“.
Merkel denkt pragmatisch. Sie hat nach meiner Auffassung keine große Europa-Vision, sondern tut, was nötig ist, damit alles funktioniert. Ich frage mich: Kann man wirklich an die EU glauben, ohne sich vorzustellen, wohin sie sich entwickeln soll?
Dann stolpere ich über den Begriff „deutsche Interessen”. Wenn Merkel in der Humboldt-Rede darüber spricht, wie sie die deutsche Europapolitik versteht, geht sie erst auf die eigenen Interessen ein. Und sagt erst danach, dass sie darauf hinarbeite, eine Lösung für Europa gemeinsam mit allen anderen Staaten zu finden. Wo bleibt da der Solidaritätsgedanke?
Merkel ist nicht so solidarisch, wie ich dachte
Mein Verdacht erhärtet sich, als ich mir ansehe, wie Experten Merkels Europapolitik einordnen. Viele sagen, dass Merkel nicht europäisch, sondern deutsch denkt. Das zeigt sich exemplarisch an ihrem Verhalten in der Eurokrise – die einen Großteil ihrer bisherigen Europapolitik geprägt hat. 2010 hat sich Merkel wochenlang dagegen gewehrt, den krisengeschüttelten Staaten Geld zu geben. Die erste Griechenland-Hilfe wurde im Bundestag erst am 7. Mai 2010 beschlossen. Jürgen Habermas, der wichtigste Philosoph Deutschlands, fällt in der Süddeutschen Zeitung ein vernichtendes Urteil über die Kanzlerin: „Der Vorrang nationaler Rücksichten ist nie zuvor so blank in Erscheinung getreten” wie in diesem Widerstand Merkels. Andere schreiben von „Merkels heimlichem Nationalismus”, über „die andere Europäerin” oder gar von „Europa am Abgrund: Zwölf Jahre Merkel”.
An dem Tag, an dem ich das lese, erscheint auf Zeit Online ein Rezept für Blumenkohlsalat, der als „Eine Hymne auf Europa” angepriesen wird. Neben Blumenkohl sind auch noch Avocados und Kichererbsen in dem Salat. „Was ist Europa? Ein geografischer Raum, ein Staatenbund, oder eine Lebenseinstellung? Dieser Salat plädiert für Letzteres”, schreibt die Autorin dazu. Und: „Er verbindet Nord- und Südeuropa, als hätte es die Finanzkrise nie gegeben.” Das geht über die Kräfte eines Gemüsesalats hinaus, doch in einem hat die Köchin recht: Europa ist eine Lebenseinstellung. Aber gilt das auch für Angela Merkel? Mir ist schon klar, dass man sich nicht nur seinen Idealen hingeben kann, wenn man regiert. Aber ich erwarte von meiner Kanzlerin, dass sie auch Herzblut in die europäische Idee investiert, nicht nur kühles politisches Kalkül.
Andererseits: Politiker müssen auch unbeliebte, schwer zu verstehende Entscheidungen treffen, das ist Teil des Jobs. Vielleicht also hatte Merkel gute Gründe für ihre Europapolitik.
Der Politikwissenschaftler Frank Wendler zieht in seinem Buch „Die Europapolitik der zweiten Regierung Merkel” Bilanz und erklärt, dass es durchaus Sinn mache, Hilfe nur in kleinen Schritten und möglichst spät anzubieten. So könne die Bundesregierung den Druck auf Empfängerstaaten erhöhen und ausschließen, dass Reformen nicht mehr richtig umgesetzt werden, sobald die finanzielle Lage besser werde. Vor dem Bundestag meint Merkel 2010, dass ein guter Europäer nicht unbedingt der ist, der schnell hilft. Das spricht dafür, was Wendler sagt.
Wenn ich nach einem Beweis dafür suche, dass Merkel eben doch hinter der europäischen Idee stehen könnte, fällt mir sofort der Sommer 2015 ein. Als die Kanzlerin die Grenzen öffnet, bin ich berührt. Hier, scheint es, zeigt sie enorme Solidarität – genau, was Europa ausmacht. Sie steht für die Hunderttausende ein, die in Ungarn festsitzen. Im September kommen so etwa 200.000 Geflüchtete über Österreich nach Deutschland, insgesamt über 1,1 Millionen bis Ende des Jahres 2015. Merkels Ad-hoc-Entscheidung mit dem „Wir schaffen das“-Grundsatz wird als ein Akt der Humanität gelobt. Ich finde das auch gut.
Als aber die EU-Innenminister im September 2015 die Verteilung von 120.000 Geflüchteten innerhalb der EU beschließen, wehren sich viele osteuropäische Staaten gegen die Aufnahme. Solidarische Zusammenarbeit in der EU? Weit gefehlt. Wulf Schmiese sagt im Cicero: „Die ablehnende Haltung der EU-Staaten in der Flüchtlingspolitik ist die Quittung für jahrelange Härte in Berlin.” Nach dem Motto: damals keine Solidarität für uns, jetzt keine Solidarität für Deutschland. So soll die EU nicht sein.
Wenn man sich die Eurokrise ein paar Jahre früher ansieht, fällt noch etwas anderes auf. Die einzelnen Mitgliedstaaten, und nicht die europäischen Organe, dominieren die europäische Entscheidungsfindung. Das nennt Merkel später in einer Rede vor dem Europakolleg in Brügge „Unionsmethode”. Man sieht das an den Krisengipfeln: Die Staats- und Regierungschefs treffen sich und fällen Entscheidungen. Ein krasser Kontrast zur eigentlichen Entscheidungsfindung in der EU nach der „Gemeinschaftsmethode”. Bei dieser sind alle EU-Institutionen, also Kommission, Parlament und Rat, in die Entscheidung eingebunden. „In Brüssel findet man (die Unionsmethode) entsetzlich. Bisher hatte noch fast jede Krise zu mehr Integration, zu mehr Macht für die EU-Institutionen geführt. Doch nun lässt ausgerechnet eine Deutsche diesen Traum platzen”, schreibt Petra Pinzer in der Zeit.
Warum aber sagt sie, „ausgerechnet eine Deutsche”? Hat sich Deutschland vor Merkel anders verhalten?
Helmut Kohl weinte vor Freude
Vielleicht kann ich Merkel in der Europapolitik besser verstehen, wenn ich mir anschaue, wie frühere Kanzler sich verhalten haben. Den gerade verstorbenen Helmut Kohl, Kanzler der deutschen Einheit und Ehrenbürger Europas, stellen Historiker oft als Musterbeispiel des überzeugten Europäers dar. Merkel selbst lobt die Weitsicht Kohls in ihrer Rede in Brügge.
Kohl war überzeugt vom europäischen Projekt. Als der Europäische Rat 1997 die Osterweiterung beschloss, also die Aufnahme weiterer Staaten in die EU, hat Kohl vor Freude geweint. Er war bereit, Kompromisse einzugehen. Er hat die starke Währung D-Mark für den Euro aufgegeben. Und hat dadurch seine eigene politische Karriere aufs Spiel gesetzt, denn die Mehrheit der Deutschen war gegen den Euro. Und Kohl wollte eigentlich noch weiter gehen: Er wollte durch die Währungsunion die Diskussion über die politische Union vorantreiben – die Frage danach stellen, wohin sich die EU entwickeln soll. Das wurde aber vertagt, vor allem weil die französische Regierung sich dagegen stellte (da ist sie wieder: die Finalitätsdebatte, die ich weiter oben erklärt hatte. Und von der Merkel nichts hält).
Merkel ist da anders als Kohl. Merkel will Europa, ja. Aber im Grunde nur, weil es keine andere Möglichkeit gibt. Und weil es aus nationalem Interesse Sinn macht. Eine überzeugte Europäerin ist sie nicht.
In seinem Essay „Die halbe Kanzlerin” erklärt Dirk Kurbjuweit, der frühere Leiter des Spiegel-Hauptstadtbüros: „Merkel macht zeitgenössische Politik wie kein anderer Bundeskanzler vor ihr, kleine Schritte im Hier und Jetzt, gedacht aus dem Hier und Jetzt. Vielleicht kann man so den Euro retten. Aber ein Europa, das mehr ist als ein Wirtschaftsraum, entsteht so nicht.”
Das ist schade. Denn genau dieses Europa will ich.
Rico Grimm hat beim Erarbeiten des Textes mitgeholfen; Theresa Bäuerlein hat gegengelesen; Martin Gommel hat das Aufmacherfoto ausgesucht (Wikimedia Commons)