Im Februar konnte die SPD ihr Glück gar nicht fassen: Mehr als zehntausend neue Mitglieder in wenigen Wochen, meist junge Leute, Schüler oder Studenten. Bei den anderen Parteien staunte man nicht schlecht: Wie hatten es die Sozialdemokraten geschafft, im Umfragetief mit einem neuen Spitzenkandidaten so viele junge Leute zu begeistern? Wo doch gerade diese Generation als politikverdrossen und schwer zu mobilisieren gilt.
Insgesamt brachte Martin Schulz in seinen ersten Wochen als Spitzenkandidat so einiges durcheinander. Als die SPD in Umfragen aufholte, gab es zum ersten Mal seit zwölf Jahren wieder das Gefühl, Merkel sei zu schlagen.
Doch mittlerweile, drei verlorene Landtagswahlen später, ist alles wieder beim Alten. Die Union sonnt sich in der Spitzenposition, die SPD hängt abgeschlagen auf Platz zwei. Der logische Rückschluss wäre jetzt: Die jungen Leute sind im Erfolgsrausch eingetreten, also treten sie jetzt auch wieder aus. Doch stimmt das? Ich habe mit drei der frischen SPD-Mitglieder gesprochen.
“Schulz war für mich der Funke, der SPD beizutreten”
Katharina Litz erinnert sich noch gut an die ersten Tage nach der Schulz-Nominierung zum SPD-Spitzenkandidaten. Und sollte sie diesen Moment je vergessen – sie kann ihn jederzeit nachgucken. Auf Youtube oder in den Fernsehmediatheken. Denn im Februar wurde sie – 22 Jahre, Studentin der Internationalen Beziehungen in Erfurt – das Gesicht einer ganzen Generation neuer SPD-Mitglieder, die wegen Schulz zur Partei gefunden haben: Nachdem der MDR sie für ein Interview besucht hatte, standen die Fernsehanstalten auf einmal Schlange. Es folgten Auftritte im RTL und schließlich in der ARD-Talkshow „Hart aber fair”. Vor einem Millionenpublikum erklärte sie, was an Schulz so faszinierend ist und warum er das Zeug zum Kanzler hat.
Jetzt, sechs Monate später, spreche ich mit ihr über die Gefühle von damals. Am Telefon erzählt sie mir, weshalb sie ihr Engagement in der SPD wichtig findet, und warum sie noch immer mit ruhigem Puls auf den 24. September schaut:
„Als Martin Schulz zum SPD-Kanzlerkandidaten gekürt wurde, hatte ich gleich ein gutes Gefühl. Die Reaktionen, auch von Leuten außerhalb der Partei, waren fast durchweg positiv. Er war innenpolitisch unbelastet und brachte neuen Wind in die Politik. Ich persönlich mochte auch Sigmar Gabriel, aber die Kandidatur von Schulz war für mich der Funke, um der SPD beizutreten.
Klar, damals kam meine Entscheidung für die SPD aus der Euphorie heraus, die Energie hat einen richtig mitgetragen. Aber ich hatte mich bereits länger mit den Parteien beschäftigt und wäre früher oder später sowieso Mitglied geworden. Denn als ich nach Erfurt gezogen bin und hier Pegida durch die Straßen lief und die AfD immer stärker wurde, war mir klar: Demokraten müssen zusammenstehen, ich muss mich engagieren.
An Schulz gefällt mir besonders, dass er sich für Europa einsetzt. Mir selbst liegt unser Kontinent sehr am Herzen, ich will noch ein Auslandssemester in den Niederlanden machen. Und in dieser Hinsicht ist Martin Schulz einfach ein Hoffnungsträger.
Ich glaube, das war er für viele, vor allem junge Menschen. Und das hat der Hype der ersten Wochen dann ja auch bewiesen. Die ganzen Memes und der Wirbel, der um Schulz entstanden ist, fand ich ganz amüsant, auch wenn das natürlich eine grobe Überspitzung war. Aber ich glaube auch, dass das die Fallhöhe für ihn vergrößert hat. Und als Schulz dann für einige Zeit quasi von der Bildfläche verschwunden war und die verlorenen Landtagswahlen kamen, war es damit ja auch schon wieder vorbei.
Die Enttäuschung über unser Abschneiden bei den drei Landtagswahlen war natürlich überall in der Partei zu spüren. Das war ganz klar ein Dämpfer. Aber wir Jusos lassen uns nicht entmutigen, wir bleiben optimistisch. Meine Entscheidung, zur SPD zu gehen, habe ich trotz allem nie bereut. Heute würde ich sofort wieder eintreten. Ich finde es jetzt sogar noch wichtiger, hinter der Partei zu stehen.
Und ich gucke trotz allem optimistisch auf die Bundestagswahl. Der heiße Wahlkampf beginnt jetzt erst, und vor allem im Fernsehduell, glaube ich, dass Martin Schulz überzeugen kann. Als Koalition wünsche ich mir eine Ampel oder auch Rot-Rot-Grün.“
„Nach der Landtagswahl gab es eine Schockstarre bei uns in der Partei”
Während Katharina immer noch mit einem guten Gefühl auf die Wahl am 24. September blickt, ist bei Viktor Weklak der Optimismus weitestgehend verschwunden. Der 17-jährige Schüler aus Mannheim macht im nächsten Jahr sein Abitur und ist richtiger Schulz-Fan. Als der SPD-Kandidat im März in Mannheim zu Besuch war, stellte er sich beim Gruppenbild stolz hinter ihn. Wenig später landete das Bild in den sozialen Netzwerken. Als ich ihn anrufe, erzählt er mir offen, was die Landtagswahlen mit der Partei gemacht haben und warum Schulz für ihn der perfekte Kanzler wäre:
„Für mich war Schulz ganz klar der wichtigste Faktor, zur SPD zu gehen. Erst durch ihn wurden die Unterschiede zwischen den Parteien wieder richtig deutlich. Und erst durch ihn hatte man das Gefühl, dass sich wirklich etwas ändern kann. Eigentlich hatte ich nie vor, in eine Partei einzutreten. Ich wusste gar nicht, dass man hier so viele Möglichkeiten hat.
Zu den Jusos bin ich das erste Mal nach der Trump-Vereidigung gekommen. Ein Freund hatte mich gefragt, ob ich nicht mitkommen wollte. Ich bin immer einer gewesen, der seine politische Meinung nach außen hin vertreten hat. Ich war zum Beispiel beim Christopher Street Day immer dabei und kam mit Protest-Plakaten gegen Trump in die Schule.
Ich mag Martin Schulz besonders, weil er Charakter hat, er tritt immer kämpferisch auf. Außerdem verkörpert er die Werte der SPD wie kein anderer. Er steht für Europa und ist also der richtige Mann für uns.
Dass da so ein Hype um ihn entstanden ist, fand ich vor allem lustig. Auch das Lied zum Schulz-Zug war witzig. Aber schade, dass später jeder von der Entgleisung des Zuges gesprochen hat. Insgesamt finde ich, dass die Zug-Metapher unter uns Genossen hätte bleiben müssen. Das hat ihn überparteilich nur lächerlich gemacht, glaube ich. Aber geschadet hat ihm das Ganze nicht. Denn er hat so junge Leute angesprochen und ich glaube, man kann sagen: Niemand hatte so eine coole Kampagne wie wir.
Leider war das ja nach den Landtagswahlen wieder vorbei. Die Saarland-Wahl fand ich noch gar nicht so schlimm, danach ging es halt weiter. Aber NRW war das falsche Land, um zu verlieren. Danach ist auch bei den Jusos ein paar Tage lang nichts passiert, das war wie eine Schockstarre. Und das war auch das erste Mal, als ich gemerkt habe: Die Leute glauben nicht mehr, dass Schulz noch Kanzler wird.
Auf die Bundestagswahl gucke ich inzwischen mit gemischten Gefühlen. Ich setze auf die zwei, drei Wochen vor der Wahl. Glücklich wäre ich, wenn wir stärkste Kraft werden. Ob ich aber daran glaube, ist eine andere Frage. Trotzdem, austreten werde ich nicht. Umfragen halten mich nicht von meiner Mitgliedschaft ab. Und auch wenn es im September scheiße läuft: Ich bleibe dabei!
Aber wir müssten jetzt mal langsam anfangen, die Union mit Inhalten zu attackieren, denn sie hat ja keine. Die Kampagne ist gut, jetzt müssen wir nur noch die Leute erreichen.“
Bei Viktor spürt man also deutlich, dass der große Schulz-Hype vorbei ist. Er denkt, dass es wieder auf eine große Koalition unter Merkel hinauslaufen wird, schiebt er später noch nach. Wirklich optimistisch klingt das nicht.
„Martin hat zu uns aufgeblickt”
Auch für Michael Lauterbach gäbe es bessere Koalitionsmöglichkeiten als Schwarz-Rot mit einer starken Union. Aber auch schlechtere, erzählt er mir, als ich ihn in einem Café in Berlin-Kreuzberg treffe. Für den 29-jährigen Studenten war der Mann aus Würselen der letztlich entscheidende Punkt, Genosse zu werden. Als unser Gespräch auf den Kanzlerkandidaten kommt, bleibt ein Lächeln in seinem Gesicht hängen, die Augen wirken wacher. Begeistert erzählt er von Schulz und den ersten Monaten in der Partei. Vor allem auf eine persönliche Begegnung mit Schulz kommt er dabei immer wieder zu sprechen:
„Ich habe Martin mal während einer Veranstaltung an einer Uni in Paris kennengelernt. Damals war er noch EU-Parlamentspräsident und hat mit uns über die Europäische Union gesprochen. Schon da hat er mit mich beeindruckt. Er meinte damals: ‚Ich beneide euch um euer Studium, so etwas blieb mir immer verwehrt.‘ Das fand ich stark, wie er uns über sich selbst gestellt hat, quasi zu uns aufgeblickt hat. Aus seiner Position.
Außerdem hat er mit uns fließend auf Französisch gesprochen und kennt die Kultur des Landes. Das schafft Nähe und lässt ihn überhaupt nicht überheblich wirken. Deshalb finde ich es gut, dass er jetzt in die Bundespolitik wechselt. Ich bin überzeugt, dass er ein guter Kanzler wäre. Denn auf EU-Ebene hat er bereits mit vielen Staatschefs auf Augenhöhe gesprochen. Für Deutschland wäre er sehr gesund.
Darum bin ich dann auch in die SPD eingetreten. Über 2016 hinweg hat sich das zwar schon entwickelt, mit Trump und dem Brexit. Aber Schulz war die Krönung, das hat sich gut gefügt. Mir gefällt, wie klar und deutlich er sich von der AfD abgrenzt. Diese Klarheit vermisse ich eindeutig bei den anderen Parteien. Außerdem steht er für Europa wie kaum ein anderer.
Und seine Kandidatur für die SPD hat eine richtige Euphorie ausgelöst. Wie 2008, als Obama in den USA das erste Mal Wahlkampf gemacht hat und die Menschen begeistert hat. Ich habe damals meinen Zivildienst in Amerika gemacht und fühlte mich jetzt wieder daran erinnert. Der SPD kam das ganze natürlich gelegen. Medial wurde das damals meines Erachtens auch etwas zu sehr auf die Spitze getrieben und für gute Storys ausgeschlachtet.
Die Landtagswahlen waren dafür natürlich nicht gut. Vor allem das in NRW war eine herbe Sache. Aber ich stehe trotzdem noch mit ganzem Herzen hinter der SPD. Die Tendenz ist sogar noch eher steigend. Man lernt unglaublich viel, trifft viele Leute und baut sich ein kleines Netzwerk auf. Das bestärkt mich eher in meiner Entscheidung. Trotzdem finde ich: Martin, aber auch die ganze Partei, sollte mehr die Europa-Agenda betonen. Das grenzt uns von den anderen Parteien ab, und Frankreich hat gezeigt, dass man damit Wahlen gewinnen kann.
Als nächstes freue ich mich auf den Wahlkampf. Ich mache das volle Programm: plakatieren, Stände auf der Straße organisieren, Haustürbesuche. Es macht Spaß, mit den Leuten zu reden und zu diskutieren. Aber auf den Wahlabend gucke ich auch etwas angespannt. Die Union zu überflügeln wird schwer, aber ich setze darauf, dass es für Rot-Grün reicht. Für Rot-Rot-Grün auf Bundesebene fehlt mir derzeit noch die Vorstellungskraft, etwa von einer Sahra Wagenknecht als Außenministerin. Der Worst Case wäre aber ganz klar Schwarz-Gelb.“
Dann wären die Fronten also geklärt. Schwarz-Gelb halten alle drei Genossen für keine gute Idee, logisch. Aber auch die Vorschusslorbeeren für Schulz sind, so scheint es, aufgebraucht. Der Kanzlerkandidat muss jetzt liefern. Zwar unterstreichen Viktor, Katharina und Michael, dass sie weiterhin zur SPD stehen und heute sofort wieder eintreten würden. Aber dass ihr Martin Schulz noch Bundeskanzler wird …
Was können wir daraus lernen?
Klar, Viktor, Katharina und Michael sind nur drei Stimmen von über 10.000. Aber sie zeigen gut: Die Jugend von heute erreicht man mit Europa. Man muss nicht immer jedes Wort auf die Goldwaage legen, sondern manchmal einfach „frei von der Leber weg” reden. Und man sollte vielleicht häufiger mal etwas Neues wagen, statt immer dieselben Gesichter von Plakaten grinsen zu lassen. Sorgen wir für etwas mehr Abwechslung im politischen Deutschland, dann können wir die junge Generation, zu der ja auch ich zähle, wieder mehr für Politik begeistern.
Rico Grimm hat beim Erarbeiten des Textes geholfen; Vera Fröhlich hat gegengelesen; Martin Gommel hat das Aufmacherbild ausgesucht (Wikipedia / CC BY-SA 2.0)