Der Nordkorea-Konflikt, einfach erklärt

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Der Nordkorea-Konflikt, einfach erklärt

Woher kommt die Feindschaft zwischen Nordkorea und den USA? Ist Kim Jong-un wirklich so irre, wie immer alle sagen? Warum hat er sich mit dem südkoreanischen Staatschef getroffen? Und wieso muss selbst in einer Geschichte über Nordkorea Jan Böhmermann auftauchen? Ich beleuchte die Hintergründe des Konflikts und gebe eine Zusammenfassung der wichtigsten Fakten.

Profilbild von Rico Grimm
Politik- und Klimareporter

Fangen wir mit der drängendsten Frage an:

Der Führer Nordkoreas ist ein dauergrinsender, übergewichtiger Irrer, der unbedingt Atomwaffen will, weil sein Staat sonst nichts zu bieten hat, das die Welt brauchen könnte. Warum sollte ich mich mit dem beschäftigen?

Während meiner Recherche habe ich verstanden, dass wir uns dringend von dem lösen müssen, was wir glauben zu wissen. Von den skurrilen Propaganda-Videos, die immer wieder durchs Netz kreisen, von den absurden Falschmeldungen (Nein, Kim Jong-un hat seinen Onkel nicht an 120 Hunde verfüttert). Und vom größten Zerrbild: dass Nordkorea ein fast gescheiterter Staat sei, dessen „irre Führung“ nach dem letzten Strohhalm greift, um ihr marodes Regime mit Atomwaffen zu stützen. Wir müssen genauer hinschauen, um zu verstehen, was da vor sich geht. Ein guter Anfang sind das Grinsen und das Körpergewicht von Kim Jong-un.

Ah, um zu „verstehen, was da vor sich geht“, müssen wir erst mal über den Bauchumfang des Staatschefs sprechen?

Der einflussreiche US-Senator John McCain hat Kim Jong-un mal ein „crazy fat kid“ genannt. McCain hat damit das Körpergewicht von Kim genutzt, um ihn zu erniedrigen. Aber als Nordkoreaner könnte man die Leibesfülle von Kim auch ganz anders interpretieren: „Er wird seinem Großvater immer ähnlicher.“ Der hatte das heutige Nordkorea gegründet und wird im Land noch immer mit viel Hingabe fast wie ein Gott verehrt. Bei öffentlichen Auftritten hat der tatsächlich sehr beleibte Großvater ständig gegrinst und einen bestimmten Kleidungsstil gepflegt. Und was macht sein Enkel heute? Grinst auch ständig und pflegt den gleichen Kleidungsstil und wird eben fülliger. Daran sieht man: Was im Westen genutzt wird, um den „dicken Kim“ zu belächeln, kann in Nordkorea genau dem Gegenteil dienen: seinen Führungsanspruch zu untermauern.

Interessant. Es scheint also nicht alles so zu sein, wie es dargestellt wird. Warum sollte ich deiner Darstellung glauben?

In diesem Text versuche ich zusammenzufassen, was wir im Westen sicher über das Land wissen. Wenn etwas unbelegt ist oder einfach Interpretationssache, schreibe ich das dazu oder benutze den Konjunktiv. In den Anmerkungen rechts vom Text gebe ich wie immer noch ein paar Zusatzinfos, die spannend sind, aber nicht entscheidend.

Wenn die Darstellungen von Nordkorea irreführend sind, sind es bestimmt auch die Fotos, die uns erreichen. Wie sieht es in dem Land wirklich aus?

Einen guten Einblick gibt der Instagram-Account EverydayPRK.

Es gibt nicht nur Militärparaden, sondern auch:

https://www.instagram.com/p/4Shvxxh8na/?taken-by=everydaydprk

Und:

https://www.instagram.com/p/BKFKWyEBJ7j/?taken-by=everydaydprk

Außerdem kann auch Nordkorea wunderschön sein:

https://www.instagram.com/p/3RK4zrB8uG/?taken-by=everydaydprk

Wo genau liegt eigentlich Nordkorea?

Das Land liegt auf der koreanischen Halbinsel. Es hat drei Nachbarn: im Norden China und Russland und im Süden Südkorea. Japan ist auch nur wenige Flugstunden entfernt. Schau auf die Karte:

www.mapz.com

Zwei Dinge fallen auf: Nordkorea ist sehr bergig, und die Hauptstadt Südkoreas, Seoul, liegt sehr nahe an der Grenze der beiden Länder. Beides spielt eine wichtige Rolle, um die Dynamik dieses Konflikts zu verstehen.

Worum geht es in dem Konflikt?

Um zwei Fragen: Darf Nordkorea Atomwaffen besitzen? Und wer kontrolliert die koreanische Halbinsel? Die drei wichtigsten Akteure neben Nordkorea selbst sind China, die USA und Südkorea (in dieser Reihenfolge).

Aber dieser Konflikt dauert gefühlt schon ewig. Wieso sprechen jetzt plötzlich alle darüber?

Weil sich am 27. April 2018 der südkoreanische Staatschef Moon Jae-In und Kim Jung-un in der Grenzregion getroffen haben. Es war das erste koreanisch-koreanische Gipfeltreffen seit mehr als zehn Jahren und erst das dritte überhaupt. Sie einigten sich auf folgende Punkte:

  • Bis zum Ende dieses Jahres wollen beide Länder ganz offiziell Frieden schließen
  • Außerdem bekräftigen beide Länder das Ziel einer nuklearwaffenfreien koreanischen Halbinsel
  • Zum 1. Mai 2018 wollen sie alle Feindseligkeiten einstellen
  • Ihre Militärs sollen sich regelmäßig über Entspannungsmaßnahmen austauschen

Wow, das hört sich gut an!

Absolut. Allein, dass sie sich getroffen haben, war ja schon eine kleine Sensation. Aber, wenn man sich die Beschlüsse genau anschaut, bleiben sie sehr allgemein, mit Ausnahme des Zieles, bis Ende des Jahres Frieden zu schließen. Das ist ein wichtiger Schritt, aber beide Koreas haben seit 60 Jahren keine großen Offensiven mehr gegeneinander gestartet. In Scharmützeln starben zwar immer wieder Soldaten auf beiden Seiten, aber den eigentlichen Krieg haben die Länder schon 1953 beendet. Das hört sich möglicherweise etwas absurd an, macht aber durchaus Sinn, wie mit einem Blick auf die Geschichte des Nordkorea-Konflikts klar wird. (Die ist bei diesem Konflikt vielleicht sogar wichtiger als in anderen Fällen – später mehr dazu.)

Der eigentlichte Knackpunkt allerdings ist Nordkoreas Atomwaffenprogramm, und hier bleibt die Abschlusserklärung sehr vage. Wie abgerüstet werden soll, haben die beiden Staatschefs nicht besprochen. Das aber ist wiederum für die USA das wichtigste Thema.

Warum?

Seit dem Amtsantritt von Donald Trump ist Nordkorea immer aggressiver aufgetreten. Bei einem Raketentest am 4. Juli 2017, dem amerikanischen Unabhängigkeitstag, hat das Land eine Interkontinentalrakete getestet, die wohl Los Angeles, San Francisco und andere Metropolen der US-Westküste erreichen könnte. Einen Monat später spitzte sich die Lage weiter zu: Laut US-Geheimdiensten soll Nordkorea zum ersten Mal einen nuklearen Sprengkopf so stark verkleinert haben, dass er auf eine dieser neuen Interkontinentalraketen passt. Plötzlich gab es neben Russland und China eine dritte nicht-verbündete Macht, die das US-Festland mit solchen Raketen bedrohen konnte. US-Präsident Trump reagierte. Er drohte Nordkorea mit „Feuer und Wut“. Woraufhin wiederum Nordkorea drohte, die US-Basis auf der Pazifikinsel Guam anzugreifen.

Am 3. September meldete das Land außerdem, einen erfolgreichen Test mit Wasserstoffbomben durchgeführt zu haben. Auf diesen Test reagierten die USA: Die Vereinigten Staaten werden jede Bedrohung ihres Territoriums oder seiner Verbündeten durch Nordkorea mit einer „massiven militärischen Reaktion“ beantworten. Ende November testete Nordkorea schließlich noch eine Rakete und verkündetet danach, nun “Atommacht” zu sein.

Warum reden wir überhaupt davon, dass die Weltmacht USA einen Krieg mit einem Land führen könnte, das so arm ist, dass es noch vor 20 Jahren seine eigene Bevölkerung nicht ernähren konnte?

Um das zu verstehen, müssen wir in die Geschichte abtauchen, denn die Feindschaft zwischen Nordkorea und den USA beginnt kurz nach dem Zweiten Weltkrieg.

Es ist der August 1945, die USA haben zwei Atombomben auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki geworfen, als auch die Sowjetunion in den Krieg mit Japan eintritt und das Land so zur Kapitulation zwingt. Japan hatte damals weite Teile Asiens besetzt, darunter auch die komplette koreanische Halbinsel, und sie zu einer Kolonie umgebaut, die sie „japanisieren“ wollte. Dieses Gebiet teilten die zwei neuen Supermächte unter sich entlang des 38. Breitengrades auf.

Den Norden verwaltete die Sowjetunion, den Süden die USA. Genauso wie im 8.400 Kilometer entfernten Deutschland begannen auch hier die beiden Länder, jene Parteien zu unterstützen, die ihrem System entsprachen. Die Sowjetunion baute die Kommunisten unter Führung des ehemaligen Guerillakämpfers Kim Il-sung (der beleibte, grinsende Großvater!) zu einer wichtigen politischen Kraft auf, während die USA kommunistische Parteien in ihrer Besatzungszone bekämpften und die Nationalisten unterstützten. Die faktische Teilung Koreas schritt so immer weiter voran, bis sie durch die Gründung zweier Staaten 1948 zementiert wurde. Beide Koreas beanspruchten für sich das Recht, die ganze Halbinsel zu regieren, und unterstrichen diesen Anspruch mit ständigen kleinen Scharmützeln an der Demarkationslinie.

Die Sowjetunion wollte Nordkorea eigentlich zu einem Satellitenstaat mit Kim Il-sung an der Spitze formen. Der aber hatte mit viel machtpolitischen Geschick deutlich stärkere Gegner im Kampf um die Führung ausgeschaltet und dachte gar nicht daran, sich instrumentalisieren zu lassen. Er nahm aber dennoch die Hilfe der Sowjetunion an. Außerdem „machte ihn [diese Erfahrung] unempfänglich für die Idee eines innerparteilichen Pluralismus und ließ ihn gegen die geringsten Anzeichen von Opposition sofort massiv vorgehen“, wie Rüdiger Frank in seinem empfehlenswerten Buch „Nordkorea – Innenansichten eines totalitären Staates“ schreibt. Da der Norden zu diesem Zeitpunkt dem Süden wirtschaftlich und militärisch weit überlegen war, überschritten am 25. Juni 1950 nordkoreanische Truppen – mit der nur sehr zögerlichen Erlaubnis der Sowjetunion – die innerkoreanische Grenze und eroberten in zügigen Vorstößen fast die ganze Halbinsel, ehe eine Koalition unter US-Führung und mit UN-Mandat nahe Seoul mit starken Verbänden anlandete und die inzwischen überlasteten nordkoreanischen Truppen zurückdrängen konnte.

Die USA nutzten die Gunst der Stunde und wollten nun wiederum die Kommunisten so entscheidend schlagen, dass das Land unter Führung Südkoreas wiedervereinigt werden konnte. Wie ein Gummiband schnellte die Frontlinie jetzt zurück bis hoch in den Norden, an die chinesische Grenze – wo auf die alliierten Verbände eine Überraschung wartete, die zum bis dato größten Desaster der US-Militärgeschichte werden würde.

Langsam, langsam. Gegen wen konnte sich Kim Il-sung damals durchsetzen? Warum ist das wichtig?

Es gab mehrere linke Strömungen, deren Führung er übernehmen konnte, obwohl seine Gruppe die zahlenmäßig kleinste war. Das nährte seinen Mythos genauso wie sein bewaffneter Kampf gegen die japanischen Besatzungstruppen in den Jahren zuvor. Genau in dieser Zeit, Ende der 1940er Jahre, Anfang der 1950er Jahre begann auch der Personenkult, über den heute die westliche Welt so herzlich lachen kann. Statuen wurden errichtet und Kim Il-sung wurde immer öfter der „Geliebte Führer“ genannt.

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Okay. Aber der „geliebte Führer“ schien trotz seiner Kriegserfahrung nicht viel ausrichten zu können gegen die Alliierten.

Als die nordkoreanischen Truppen in die Enge getrieben waren, eilte ihnen China mit 200.000 „Volksfreiwilligen“ im Oktober 1950 zu Hilfe. Gemeinsam konnten Nordkorea und China im weiteren Verlauf die alliierten Truppen fast vollständig aufreiben. Soldaten, die nicht in Gefangenschaft gerieten oder in Kampfhandlungen getötet wurden, erfroren im eisigen sub-sibirischen Winter Nordkoreas. Die Niederlage schien so endgültig, dass der US-amerikanische Befehlshaber den Einsatz von 34 Atombomben forderte – gegen chinesische Städte.

Warum trat China überhaupt in den Krieg ein?

China selbst hatte gerade einen Bürgerkrieg hinter sich, in dem die Kommunisten unter Führung von Mao Tse-tung die Berge Nordkoreas immer wieder als Rückzugsort genutzt hatten. Hier nun widersprechen sich die Darstellungen im Detail etwas, aber sicher ist, dass die kommunistische Führung Chinas erst wenige Monate im Amt war, als eben plötzlich eine alliierte Armee vor ihrer Tür stand. Es war nicht völlig abwegig anzunehmen, dass die US-Truppen weitermarschieren und Mao Tse-tung und seine Kommunisten stürzen würden.

Nicht vergessen: Der Kalte Krieg mit seiner ganzen ideologischen Feindschaft war zu diesem Zeitpunkt im Oktober 1950 schon in vollem Gange. Zwei Jahre vorher hatte die Sowjetunion West-Berlin blockiert, im August 1949 zündete die Sowjetunion ihre erste eigene Atombombe. Bis heute will China verhindern, dass US-Truppen direkt an seiner Grenze auftauchen, um räumliche Distanz zu schaffen, aber auch, um den Krieg im Falle eines Falles aus China rauszuhalten. Nordkorea ist ein wertvoller Pufferstaat. Schon in den Jahrhunderten zuvor schätzte China, dass die koreanische Halbinsel Distanz zu Japan und anderen Seemächten schaffte.

Puuh, viel Geschichte. Hat mich in der Schule immer gelangweilt.

Ich verstehe, warum man damit in der Schule nicht unbedingt viel anfangen konnte. Was soll man über Könige und Kaiser sprechen, wenn man die Zukunft noch vor sich hat? Aber ich verspreche: Diese Geschichte ist wichtig.

Okay, wie ging der Koreakrieg also weiter?

Das Gummiband schnellte zurück, die Frontline rückte im anbrechenden Winter 1950 wieder nach Süden, zitterte noch etwas und kam schließlich in der Nähe des 38. Breitengrades zum Stehen. Ein Stellungskrieg begann auf dem Boden, der Luftkrieg ging weiter. Die USA verwüsteten mit ihren Luftangriffen ganze Städte, bis zu einer Million Menschen starben, die Infrastruktur im Norden war weitestgehend zerstört. Diese Angriffe prägen Nordkorea bis heute.

Nach dem Tod des sowjetischen Diktators Josef Stalin im Jahr 1953 öffnete sich ein Fenster: Die Kriegsparteien konnten einen Waffenstillstand schließen. Man einigte sich darauf, entlang des 38. Breitengrades eine entmilitarisierte Zone einzurichten. Dieser Waffenstillstand gilt de facto bis heute – auch wenn Nordkorea ihn im März 2013 „kündigte“, um gegen eine Militärübung im Süden zu protestieren. Formal befinden sich die USA/Südkorea noch immer im Krieg mit Nordkorea. Einen offiziellen Friedensvertrag hat es niemals gegeben.

Versetzen wir uns kurz in die Lage von Kim Il-sung im Herbst 1953.

Ist mir peinlich nachzufragen: Wer war da nochmal wer? Ich komme durcheinander mit den Namen.

Kein Problem.

Kim Il-sung ist der Staatsgründer und Großvater des heutigen Führers.

Kim Jong-il der Vater. Er herrschte von 1994 bis 2011.

Kim Jong-un ist der Sohn, den wir schon vom Anfang kennen.

Was sah Kim Il-sung im Herbst 1953?

Er hatte zuerst gegen japanische Kolonialherren gekämpft, die seine Heimat unterjochten. Als die Japaner geschlagen waren, kamen russische und amerikanische Soldaten, die seine Heimat besetzten. Die einen unterstützten ihn zwar, wollten ihn aber nur sehr zögerlich ganz Korea vereinigen lassen, die anderen legten sein Land in Schutt und Asche.

Aber er hatte den Krieg doch angefangen!

Stimmt. Aber Kim Il-sung hatte zu diesem Zeitpunkt eine Lektion gelernt, die Korea in seiner fünftausendjährigen Geschichte immer wieder lernen musste: dass es ein Spielball und Opfer der Geschichte war. Das kaiserliche Japan, die Sowjets, die Amerikaner, ja selbst die Vereinten Nationen hatten sich gegen das Land gewandt. Dieser Opfermythos reicht zurück bis ins 13. Jahrhundert, als die Mongolen die Halbinsel besetzten und Jahrhunderte später das Land ein Vasallenstaat Chinas wurde. Es ist eine Erzählung, die sich „sehr konstant im Selbstverständnis der Koreaner erhalten hat“, wie Rüdiger Frank schreibt.

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Kim Il-sung zog daraus einen radikalen Schluss: Nordkorea musste endlich seinen eigenen Weg gehen. Der oberste Kommunist des Landes entpuppte sich als beinharter Nationalist, für den „Sozialismus“ ein Begriff wurde, den jedes Land für sich selbst auslegen und weiterentwickeln musste. An dessen Stelle trat eine Ideologie, die in tausenden Büchern beschrieben wurde, sich aber auf ein Wort bringen lässt: chuch’e (sprich Dschutsche). Laut offizieller Darstellung soll Kim Il-sung das Wort das erste Mal am 28. Dezember 1955 in einer Rede verwendet haben. Diese Ideologie legt den Grundstein für die Atompolitik heute.

Was bedeutet chuch’e?

Wortwörtlich übersetzt bedeutet es Selbständigkeit oder auch Autarkie. In dem Wort versteckt sich eine Revolution, denn Kim Il-sung und Nordkorea wandten sich damit von der eigentlich vorherrschenden Ideologie des Marxismus-Leninismus ab, im Grunde komplett. Denn immer wieder hatten die Sozialisten in aller Welt betont, wie wichtig es sei, dass sich die Arbeiter nationenübergreifend vereinten, um die Macht zu ergreifen. Aber in der nordkoreanischen Auslegung war es die Aufgabe des „Arbeiterführers“, ein System zu finden, das die Unabhängigkeit des Landes sichern konnte. Für Kim Il-sung fußte es auf drei Säulen: erstens, der politischen Souveränität; zweitens, dem Selbstvertrauen in der Wirtschaft, und drittens, der Selbstverteidigung.

Du merkst schon an der Häufigkeit des Wörtchens „selbst“, dass Chuch’e keinen Interpretationsspielraum ließ. „North Korea first“ war fortan das dominierende Motto, das später sogar Eingang in die Verfassung fand und 2009 noch durch eine ganz spezielle Formel ergänzt wurde: Sŏn’gun, wortwörtlich „Militär zuerst“. Nordkorea gibt übrigens 17 Prozent seines gesamten Bruttoinlandsproduktes für seine Streitkräfte aus, in Deutschland sind es 1,2 Prozent. In keinem Land ist die Quote höher als in Nordkorea.

Man sollte den Einfluss einer einzelnen Ideologie nicht überbetonen. Nicht jede kleine politische Entscheidung kann auf sie zurückgeführt werden, aber die Leitlinien, die großen strategischen Fragen, legt sie schon fest. Ein Staat, der Autarkie betont, wird sich eher nicht einem großen Militärbündnis, wird sich eher nicht den globalen Organisationen anschließen – und wird sich eher auch nicht einer bis vor Kurzem ungeschriebenen internationalen Norm beugen, die den Erwerb, Besitz und Einsatz von Atomwaffen verbietet.

Okay, also Nordkorea fühlt sich als Opfer, weil es sehr oft von ausländischen Mächten wie Japan besetzt wurde. Deswegen wendet es sich von der Welt ab. So weit verständlich. Aber wieso musste Kim Il-sung dann so eine knallharte Diktatur aufbauen?

Ehrlich gesagt, weiß ich das auch nicht. Es gibt kein Gesetz, das Diktaturen zwangsläufig dann und dann auftauchen, höchstens Anhaltspunkte. Der wichtigste wahrscheinlich: Korea kannte in seiner jüngeren Geschichte keine pluralistischen politischen Systeme, also Ordnungen, in denen viele verschiedene Akteure mitbestimmen können. Zuvor regierte das kaiserliche Japan, so brutal, wie jede andere Kolonialmacht, davor ein Marionetten-Kaiser, der China Rechenschaft schuldete, davor war das Land ein echter chinesischer Vasallenstaat und so weiter. Die Ein-Mann-Herrschaft hatte Tradition. Selbst Südkorea brauchte fast 40 Jahre, bis es zu einem pluralistischen Staat wurde. Und es gibt noch einen zweiten, funktionalen Grund: Wer eine Gesellschaft wirklich radikal verändern will, so wie Kim Il-sung, brauchte einen Hammer, ein Pfeil reichte nicht. Die totale Veränderung brauchte die totale Kontrolle, die die Familie Kim immer weiter festigte. Der Jüngste (Kim Jong-un) ging sogar so weit, die „Zehn Prinzipien für die Errichtung eines einheitlichen ideologischen Systems“ (heißt wirklich so) von jedem Bezug zum Kommunismus zu befreien und voll auf sich auszurichten. Willst du ein paar Gebote hören?

„Wollen“ ist wohl zu viel gesagt …

Nummer drei:

  • „Wir müssen die Autorität des Großen Führers Genosse Kim Il-sung zur Absolutheit führen.“

Oder die fünf:

  • „Wir müssen uns strengstens an das Prinzip des bedingungslosen Gehorsams halten, wenn wir Anweisungen des Großen Führers Genosse Kim Il-sungs ausführen.“

Die sieben ist besonders:

  • „Wir müssen von dem Großen Führer Genosse Kim Il-sung lernen und das kommunistische Aussehen, die revolutionären Arbeitsmethoden und die auf die Menschen ausgerichtete Arbeitsweise übernehmen.“

Diese zehn Prinzipien sind die wichtigsten Gesetze des Landes, wichtiger als die Verfassung, wichtiger als die Gebote der Partei. Jeder Nordkoreaner muss sie auswendig kennen und strikt befolgen.

Was passiert mit denen, die das nicht tun?

Die Strafen reichen von öffentlicher Exekution über Folter bis zu lebenslangen Haftstrafen in Arbeitslagern im kalten Norden des Landes. Menschen, die aus diesen Lagern entkommen konnten, berichten: Häftlinge werden regelmäßig gefoltert, Frauen vergewaltigt. Medizinische Experimente stehen auf der Tagesordnung. Die Essensrationen bestehen aus Getreide und sonst nichts. Wer kann, fängt Ratten und Schlangen, um sie zu essen, sollte sich dabei aber nicht erwischen lassen, denn das wird hart bestraft. Arbeiten muss jeder, in den Minen, auf den Feldern und Fabriken, von fünf Uhr morgens bis abends acht Uhr. Danach beginnen Umerziehungslektionen und Selbstkritik-Stunden. Die Nacht verbringen die Gefangenen mit 100 anderen in zugigen Baracken. Ein ehemaliger Häftling schätzt, dass jeder Dritte in seinem Lager abgerissene Ohren, zertrümmerte Augenhöhlen, Schnittwunden und ähnliches hatte. Tausende verhungern jedes Jahr, darunter viele Kinder.

Das sind Konzentrationslager.

Ja.

Human Rights Watch schreibt: „Nordkorea bleibt einer der repressivsten autoritären Staaten der Welt.“

Das ist doch Wahnsinn. Und du sagst mir, dass Kim nicht irre ist?

Kim Jong-Un ist ein Verbrecher und gehört vor ein internationales Gericht. Ich weiß es, du weißt es und ich vermute: Auch er weiß es. Er weiß, dass in dem Moment, in dem er die Macht aus den Händen gleiten lässt, er entweder von Feinden innerhalb des Regimes hingerichtet wird oder für seine Taten büßen muss.

Hat er denn Feinde im Regime?

Alles, was ich jetzt schreibe, steht unter einem großen Vorbehalt. Denn es ist für Ausländer schon schwer, etwas über das Alltagsleben in Nordkorea zu erfahren, aber fast unmöglich, an Details über das Innenleben der Regierung heranzukommen. Sicher ist, dass zwei Männer, die große Widersacher gewesen sein könnten, nicht mehr am Leben sind. Im Dezember 2013 meldet die zentrale Nachrichtenagentur des Landes, dass Jang Song-thaek, Onkel von Kim Jong-un und der stellvertretende Vorsitzende der Nationalen Verteidigungskommission, hingerichtet wurde, nachdem seine Festnahme landesweit im TV zu sehen war. Obwohl die Regierung eine 2.700-Wort-Anklage veröffentlichte, weiß niemand sicher, warum Kim Jong-un ihn umbringen ließ. Kim wollte damit ein Zeichen setzen, sonst hätte er die Öffentlichkeit nicht so detailliert unterrichten lassen. Nur welches Zeichen war das?

Drei Jahre später widmete sich Kim Jong-un seinem älteren Bruder Kim Jong-nam, der, von seinem Exil im chinesischen Macao aus, die Regierung Nordkoreas kritisiert hatte. Am 13. Februar 2017 meldete er sich beim Personal des Flughafens von Kuala Lumpur, weil ihm unwohl war. Ihm sei eine Flüssigkeit ins Gesicht gespritzt worden. Er starb noch am gleichen Tag im Krankenhaus. Die Gerichtsmediziner fanden Überreste des Nervenkampfstoffes VX im Gewebe von Kim Jong-nam.

Was bedeuten diese Morde?

Es könnte sein, dass der als unerfahren geltende Kim Jong-Un ein Exempel statuieren wollte. Es könnte aber auch sein, dass er insbesondere Jang Song-thaek hinrichten ließ, um einen Sündenbock für die sich verschlechternde Wirtschaftslage zu haben. Genau weiß es niemand. Sicher ist nur, 120 ausgehungerte Hunde spielten bei der Exekution des Onkels keine Rolle, so wie es viele Medien behaupteten, auch in Deutschland. Diese Geschichte hatte sich ein chinesischer Satiriker ausgedacht – Jan Böhmermann hätte es nicht besser machen können.

Warum begehrt das koreanische Volk nicht gegen das Regime auf?

Von allen Fragen, die mir die Krautreporter-Leser vor der Recherche geschickt haben, ist das die schwierigste. Denn darüber, was die nordkoreanischen Bürger wirklich denken, wissen wir im Westen erschreckend wenig. Einige Berichte behaupten, dass die Unterstützung für das Regime nachlässt, dann wieder glauben 63 Prozent der geflohenen Nordkoreaner, dass die Mehrheit im Norden Kim Jong-un gut findet. Wir müssen akzeptieren, dass wir im Moment nicht wissen können, wie die Nordkoreaner auf ihre Regierung blicken. Die Propagandafilmchen mit den tausenden jubelnden Bürgern können ein genauso falsches Bild erwecken wie Erzählungen aus zweiter Hand, und ja selbst aus erster Hand.

Wie sieht denn der Alltag der Nordkoreaner aus?

Nordkorea ist ein industrialisiertes Land der Moderne. Es hat oberflächlich durchaus Ähnlichkeiten mit anderen Ländern. Es gibt Schulen, Universitäten, Ski-Resorts, Supermärkte, Restaurants, Tablet-Computer aus heimischer Produktion, eine Fußball-Nationalmannschaft und hier und da soll sogar Coca-Cola gesichtet worden sein.

Außerdem hat Nordkorea seit neuestem seine eigene Girlgroup:

https://www.youtube.com/watch?v=u2tPm7QNgBA

Die Band wurde nach einem Bezirk in der Hauptstadt Pjöngjang benannt. Ich kann es natürlich nicht beweisen. Aber kann es ein Zufall sein, dass der Megahit des südkoreanischen Pop-Musikers Psy von Gangnam, einem Stadtviertel in Seoul, erzählt?

https://www.youtube.com/watch?v=9bZkp7q19f0

Oh Gott, ich hatte dieses Lied erfolgreich verdrängt.

Gern geschehen!

Aber weiter: In seiner ersten Neujahrsansprache nach seiner Machtübernahme verkündete Kim Jong-un, dass seine Politik zwei Dinge parallel vorantreiben will: die nukleare Aufrüstung, aber auch den wirtschaftlichen Fortschritt. Die Nordkoreaner sollten im Alltag spüren, dass sich die Situation für sie verbesserte und die schrecklichen Hungerskatastrophen endgültig der Vergangenheit angehörten. In allen Ecken des Landes, aber vor allem in der Hauptstadt, begannen Bauarbeiten an neuen Gebäuden. Die Zahl der Märkte, die die Regierung erlaubt, hat sich seit 2010 verdoppelt. Mindestens 40 Prozent der Nordkoreaner sollen irgendeiner Form privater Geschäfte nachgehen, schätzt der südkoreanische Geheimdienst laut New York Times. Und auf den Straßen Pjöngjangs gibt es inzwischen sogar etwas, was das Land noch nie erlebt hat: Stau. Chinesische Autos rollen auf den Straßen, auch deutsche Luxuswagen kann man sehen.

Kim Jong-un hat diesen kleinen Mini-Boom ausgelöst, als er den Unternehmern des Landes gestattete, eigenständiger zu arbeiten. Solange sie eine bestimmte Produktionsquote erfüllten, dürfen sie produzieren, was sie wollen. Auch die Bauern auf dem Land können sich nun ein bisschen mehr nach dem richten, was die Menschen wirklich brauchen.

War das vorher anders?

Wie andere sozialistische Länder auch, setzte Nordkorea auf eine Planwirtschaft. Darin steuert der Staat sehr detailliert, was wo und in welcher Menge hergestellt werden muss. Das ist ein erheblicher Unterschied zu dem System, in dem wir leben und in dem Angebot und Nachfrage die Produktion bestimmen.

Die neuen Händler haben sogar einen eigenen Namen bekommen: donju, die roten Kapitalisten. Auch wenn man mit Vergleichen sehr sehr vorsichtig sein sollte – einige Beobachter ziehen inzwischen Parallelen zu der wirtschaftlichen Öffnung Chinas in den 1980er Jahren.

Interessant! Heißt das, dass Nordkorea bald kapitalistisch wird?

Bald? Eher nicht. Denn die neue, immer mächtiger werdende Händlerklasse und mit ihr die immer anspruchsvolleren Bürger könnten auch eine Gefahr für das Regime werden. Kim Jong-un wird ganz genau aufpassen, was da passiert.

Okay, und abseits von Konsum? Leben umfasst ja mehr!

Ich war nie in Nordkorea, daher will ich ehrlich sein. Ganz genau kann ich diese Frage auch nicht beantworten.

Vielleicht helfen dir aber diese zwei Dinge, sich einer Antwort wenigstens anzunähern: Viele Leser haben mir den Tipp gegeben, die Dokumentation „Im Strahl der Sonne“ anzuschauen. Der russisch-ukrainische Regisseur Vitaly Mansky begleitet darin die achtjährige Zin-mi, eine Schülerin in Pjöngjang.

Wir sitzen mit ihr in der Schule, wo sie hört, dass Nordkorea das schönste Land der Welt ist, im Wohnzimmer der Eltern, wo ein großes Kuscheltier auf dem Sofa liegt und der Vater sie ermahnt, sich richtig hinzusetzen. Wir sehen, wie sie mit dem Bus durch die verschneiten Straßen der Hauptstadt fährt und in einer pompösen Zeremonie den Jungpionieren beitritt. Ich denke, dass der Film einen guten Eindruck vermitteln kann. Hier kannst du ihn kostenlos anschauen.

Als ich mir ihn angeschaut habe, musste ich auch immer wieder an einen Ausschnitt aus dem Buch von Rüdiger Frank denken, der seine Eindrücke beschreibt: „Es wurde viel marschiert. Ich zögere, hier den Begriff roboterartig zu gebrauchen, weil dies eine Außensicht ist. Wie oft haben wir uns in Leipzig über die Bemerkungen unserer westdeutschen Verwandten gewundert, denen die DDR so ‘grau’ vorkam. Wir sahen das damals völlig anders – und empfinden es heute beim Betrachten von Dokumentarfilmen inzwischen auch so. Ob nun bunt oder grau, dem Stereotyp vom quirligen, an jeder Ecke anders, exotisch riechenden und klingenden Ostasien entsprach Pjöngjang jedenfalls nicht. Auf dem Lande war noch weniger los, obwohl auffiel, dass die Menschen hier ein wenig offener und neugieriger waren.“

https://www.instagram.com/p/BL9D_7GBZlZ/?taken-by=everydaydprk

Was weiß die Bevölkerung denn eigentlich über die Welt außerhalb Nordkoreas?

Nordkoreaner, die nicht zur politischen Elite des Landes gehören, haben kaum Zugang zu Informationen, die nicht vorgefiltert sind. Alle Medien unterliegen der Zensur. Südkoreanische Radiosender blockiert die eigene Regierung mit Störsignalen. Zugang zum Internet sollen nur 7.000 Menschen haben.

Da das nordkoreanische Internet so klein ist, lässt sich sehr gut beobachten, welche ausländischen Webseiten die Nutzer ansteuern.

Und?

Sicher ist: Die nordkoreanische Elite verbringt ihre Zeit gerne auf Facebook, schaut sich Videos auf chinesischen Seiten an und hat eine Vorliebe für das Panzer-Rollenspiel „World of Tanks“.

Ist ja wie bei uns.

Jup.

Was ich aber nicht verstehe: Nordkorea soll ja schon so einige große Hacking-Operationen durchgeführt haben. Wie macht das Land das, wenn nur 7.000 Menschen überhaupt das Internet nutzen können und dabei so gut überwacht werden können?

Experten glauben, dass Nordkorea solche Hacks von einem angemieteten Hotel in China und aus seiner Botschaft in Indien steuert.

Du hattest das ja auch betont: Kim-Jong Un ist kein Irrer. Aber warum höre ich dann nur so viel irres Zeug über ihn?

Du hast recht. Hier eine kurze Sammlung der wildesten Gerüchte über Kim:

  • Kim Jong-un soll süchtig nach Schweizer Käse sein.
  • Soll sich beide Fußgelenke gebrochen haben, als er in High Heels lief.

  • Und allen Menschen, die den gleichen Namen wie er tragen, befohlen haben, sich einen neuen Namen zuzulegen.

Aber die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass die alle nicht stimmen. Oft ist die Quellenlage sehr dünn. Weil es nur so wenige wirklich verlässliche Informationen über das Land gibt, ist man eher bereit, alles Mögliche zu glauben. Und: Jeder kann sich als Experte ausgeben.

Wie du hier, wa?

Hehe. Nein. Ich hatte es ja oben schon beschrieben: Ich versuche, das Wichtigste zusammenzufassen und die großen Linien zu beschreiben. Details kann ich nicht überprüfen.

Die vielen Gerüchte über Nordkorea haben offenbar oft ihren Ursprung in Südkorea. Der dortige Geheimdienst hat ein Interesse daran, völlig wilde und absurde Sachen zu streuen, um die Glaubwürdigkeit von Nordkorea zu untergraben – und geht dabei sehr stümperhaft vor. Dem US-Journalisten Max Fisher hat Südkorea mal solches Material angeboten: „Es sah aus, als hätte das ein Gymnasiast zusammengestellt.“

Zugegeben: Die Propaganda, die aus Nordkorea selbst kommt, klingt in unseren Ohren manchmal so abenteuerlich, dass man wirklich nicht mehr unterscheiden kann und will, was davon stimmt. Man hält ja grundsätzlich alles für möglich. Letztlich aber sagt genau das mehr über uns aus als über das Land. Craig Silverman hat das wunderbar zusammengefasst: „Unsere Verdächtigungen und Ängste spiegeln sich in einer Flut schlecht recherchierter, viraler Medienberichte.“ Er hat einen Psychologieprofessor befragt, der noch einen weiteren Aspekt hinzufügt: Wenn wir über Nordkorea sprechen, geht es uns vor allem darum, uns selbst zu vergewissern, dass wir anders sind als die: „Unser Lebensstil ist besser als ihr Lebensstil.“

Ah, und deswegen hattest du auch den chinesischen Satiriker, der die Geschichte mit der Hundefütterung erfunden hatte, mit Jan Böhmermann verglichen!

Ganz genau. Böhmermann hatte mit dem „Varoufake“ einer ganzen Nation gezeigt, dass selbst die bekanntesten Journalisten des Landes bereit sind, alles zu glauben, wenn es in ein bestimmtes Narrativ passt. Das passiert bei Nordkorea auch immer wieder.

https://www.instagram.com/p/BFMV1oTh8kF/?taken-by=everydaydprk

Kommen wir nochmal zurück auf die Atomwaffen. Es ist ja in Ordnung, dass ein Land gerne souverän und autark sein möchte. Aber wieso gibt Nordkorea Milliarden Dollar aus, um diese Waffen zu bauen? Wäre das Geld nicht woanders besser angelegt, um das gleiche Ziel zu erreichen?

Atomwaffen sind Waffen wie jeder andere. Sie töten Menschen. So sehen das immer mehr Menschen. Aber die vorherrschende Auffassung ist eine andere: Atomwaffen sind keine normalen Waffen. Sie könnten zwar Menschen töten, aber man schafft sie sich angeblich nur an, um sie niemals einzusetzen und zu verhindern, dass die eigenen Bürger in einem Atomkrieg sterben müssen.

Ähh … Ich brauche also Atomwaffen, um den Einsatz von Atomwaffen zu verhindern?

Ja, das behaupten viele. Das ist die Logik der Abschreckung oder auch Gleichgewicht des Schreckens genannt. Hier habe ich dieses Gleichgewicht Stück für Stück aufgedröselt.

„Logik“ ist ja hier auch eine eher gewagte Wortwahl …

Tatsächlich könnten sich in dieser Logik fatale Fehlschlüsse verbergen. Der Historiker Ward Wilson hat mir in einem aufschlussreichen Interview gesagt: „Wenn die nukleare Abschreckung so perfekt funktionieren würde, wie die Befürworter beanspruchen, warum blockierte Stalin dann Berlin im Jahr 1948, als die USA ein Atommonopol hatten? Wenn Abschreckung perfekt funktionieren würde, warum sind dann die Chinesen in den Koreakrieg eingetreten, nachdem die Amerikaner atomwaffenfähige Bomber aus den USA nach Guam und damit näher an Korea heran verlegt hatten und diese Nachricht absichtlich an die Presse durchsickern ließen? Warum wurden die Chinesen nicht davon abgeschreckt? Warum stationierten die Russen Raketen in Kuba?“

Aber, ob die Abschreckungs-Logik nun sinnvoll ist oder nicht, ist grundsätzlich erstmal egal. Wichtig ist, dass sie die vorherrschende Logik ist und damit eine ganz bestimmte Dynamik in Gang setzt, die den Nordkorea-Konflikt bestimmt. Sie gilt, weil genügend einflussreiche Menschen glauben, dass sie gilt.

Wie bei einer Religion.

Das hast du gesagt.

Jedenfalls: Im Oktober 2001 äußerte der damalige US-Präsident George W. Bush die Absicht, die Regierung in Nordkorea stürzen zu wollen. Am 29. Januar 2002 trat er im Kongress ans Rednerpult, um seine jährliche Rede zur Lage der Nation zu halten. Die Anschläge des 11. September waren nur wenige Monate her, und schon im Vorfeld der Rede hatte es geheißen, dass der Präsident Neues zur Außenpolitik, insbesondere zu einem drohenden Krieg mit dem Irak sagen werde. Was er dann auch tat. Er sah das Land auf einer Achse, einer „Achse des Bösen“, zusammen mit dem Iran und Nordkorea. Alle drei Länder hätten Massenvernichtungswaffen, alle drei Länder sollen Terrorismus unterstützen. Ein Jahr später trat Nordkorea offiziell aus dem Atomwaffensperrvertrag aus und am 9. Oktober 2006 bebte um 10.36 Uhr im nordkoreanischen Hwadaeri die Erde. Danach konnten Messgeräte eine erhöhte Konzentration radioaktiver Partikel feststellen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit war an diesem Tag die erste nordkoreanische Atombombe explodiert. In den Augen von Nordkorea änderte das alles.

Warum?

Zwar wusste niemand genau, wie weit fortgeschritten das Atomprogramm war, aber von diesem Moment an mussten alle Akteure davon ausgehen, dass Nordkorea Atomwaffen hatte und sie auch einsetzen konnte. Nordkorea setzte darauf, so alle etwaigen Invasionspläne abschrecken zu können. Das Regime hatte gesehen, wie es Saddam Hussein im Irak ergangen war: seine Regierung gestürzt, er selbst aufgelesen in einem Gully und später hingerichtet. Die Atomwaffe war die Lebensversicherung der Kim-Familie und gleichzeitig der bisher deutlichste Ausdruck der Chuch’e-Ideologie, die das Land zu Selbstverteidigung und Unabhängigkeit mahnte. Man kann in den ganzen Raketen- und Nukleartests der letzten Jahre Provokationen sehen, die von außen betrachtet, an Wahnwitz grenzen. Schließlich zieht Nordkorea damit den Zorn der größten Militärmacht des Planeten auf sich. Aus Sicht Nordkoreas sind das aber keine Provokationen, sondern wichtige, technisch begründbare Versuche, um die eine Waffe zu entwickeln, die das Land vor der dritten Besatzung in einhundert Jahren schützt.

Also sind die USA schuld an dem Konflikt?

Nein. So einfach können wir es uns wiederum auch nicht machen. Nordkorea hatte 1950 den Süden überfallen, wo eben auch amerikanische Soldaten stationiert waren. Da konnten sich die USA nicht mehr raushalten. Nordkorea wiederum hatte eigenständig begonnen, Atomwaffen zu entwickeln, obwohl es sich in mehreren Verträgen verpflichtet hatte, genau das nicht zu tun. Die ersten Anzeichen für ein nordkoreanisches Atomprogramm gab es schon in den frühen 1990er Jahren, lange bevor George W. Bush von regime change sprach. Es gäbe andere Wege für Nordkorea, um seine Eigenständigkeit und Unabhängigkeit zu wahren. Aber dafür müsste sich das Land der Welt öffnen, Verträge schließen, Handel treiben, Verträge einhalten – und das würde letztlich die Diktatur der Kims gefährden.

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Woher hat Nordkorea eigentlich die Technologie für die Raketen und Atomwaffen?

Eines vorneweg: Atomwaffen sind eine 70 Jahre alte Technologie. Wie sie funktionieren und aufgebaut sind, steht auf Wikipedia. Um sie aber einsatzfähig zu machen, braucht es waffenfähiges Plutonium, Nuklearanreicherungsanlagen und Trägersysteme, also Bomber oder Raketen. Von Anfang der 1990er Jahr bis 2001 soll Pakistan Nordkorea geholfen haben, seine Atomwaffentechnik mit Zentrifugen weiterzuentwickeln – im Gegenzug erhielt das Land Raketen, mit denen das Land das eigene Nuklearwaffenprogramm stärken konnte. Die Zentrifugen wurden übrigens mit Materialien aus der Schweiz, Spanien, den Niederlanden, Malaysia und anderen Ländern zusammengebaut. Als gesichert gilt auch, dass Nordkorea und der Iran bei Raketen- und Anreicherungstechnik zusammenarbeiten, aber wie weitreichend und stabil diese Kooperation ist, kann niemand seriös sagen. Im August 2017 häuften sich außerdem die Indizien, dass ukrainische Raketen entweder zum Teil oder sogar komplett in nordkoreanische Hände gelangt sind. Die dortigen Raketenbauer streiten das ab, die Regierung sowieso.

Aber um zum Thema zurückzukommen: Selbst wenn die USA sich völlig aus der Region zurückziehen würden, wäre das immer noch keine Garantie, dass das Atomprogramm beendet wird. Denn Experten glauben, dass sich Nordkorea nicht nur vor der einen Weltmacht jenseits des Pazifiks schützen will, sondern auch vor der anderen diesseits des Pazifiks. Die nordkoreanischen Atomwaffen sind auch ein Faustpfand in allen Verhandlungen mit China.

Aber China ist doch ein Verbündeter von Nordkorea?

Ja und nein. Ja, es gibt einen Freundschaftsvertrag aus dem Jahr 1961, in dem festgelegt wird, dass das eine Land dem anderen im Falle eines Angriffs beistehen sollte. Und ja, China hat im Sicherheitsrat immer wieder Sanktionen gegen das Land verhindert, und ja, das Land ist der wichtigste Handelspartner Nordkoreas und beide sind dem Namen nach sozialistische Staaten. Aber das Wohl der eigenen Nation ist beiden im Zweifel wichtiger. Wenn es um Nordkorea geht, hat China hauptsächlich drei Interessen: Stabilität, Stabilität, Stabilität.

Käme es zu einem nordkoreanisch-US-amerikanischen Krieg, würde China sehr wahrscheinlich nicht nur seinen Pufferstaat im Süden verlieren, sondern müsste mit mehreren Millionen Flüchtlingen rechnen, mit dem Einsatz von ABC-Waffen direkt an seiner Grenze, vielleicht sogar mit Angriffen auf seine eigenen Städte. Um das zu verhindern, zeigt sich China in der Nordkorea-Frage deutlich flexibler, als man das vermuten würde. Seit Jahrzehnten versucht es zusammen mit den USA, Nordkorea davon abzubringen, sein Atomwaffenprogramm weiterzuverfolgen. In zum Teil sehr deutlicher Manier verurteilen führende chinesische Politiker Nordkorea für seine Waffentests. Im Zuge der jüngsten Krise begann China sogar, UN-Sanktionen umzusetzen, die Nordkorea bändigen sollten. Das war bisher nicht immer der Fall, obwohl das Land sie mitgetragen hatte.

Bringen solche Sanktionen denn irgendetwas?

Wahrscheinlich nicht. Dafür sprechen zwei Gründe: Erstens gibt es Sanktionen gegen Nordkorea seit elf Jahren. Wer solange durchgehalten hat, kippt jetzt nicht um, weil China keine Meeresfrüchte mehr abkauft. Zweitens ist es generell sehr schwierig, ein Land, das seine eigene Autarkie preist, damit zu bestrafen, es von der Welt noch stärker abzuschneiden. Viele Iraner zum Beispiel sehnen sich danach, endlich wieder ein vollwertiges Mitglied der Weltgemeinschaft zu werden, außerdem handelt das Land traditionell sehr viel mit der Welt. Da ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass Sanktionen etwas bewirken.

Also kann die Welt wirklich nichts tun?

Es gibt eine einzige Sanktion, die vielleicht und unter bestimmten Umständen etwas bewirken könnte: Wenn China aufhört, das Land mit Öl zu beliefern. China ist die wichtigste Quelle, 500.000 Tonnen verkauft es jedes Jahr an den Norden Koreas, eine Pipeline verläuft direkt über die Grenze der beiden Länder. Aber: „Sollte China die Öl-Lieferungen einstellen, könnte Nordkorea keine drei Monate allein überleben“, sagt ein Experte für die nordkoreanische Wirtschaft der Nachrichtenagentur Reuters. Das wird China nicht riskieren. Es arbeitet zwar manchmal mit dem Westen zusammen, aber es ist kein Partner, auf den man sich verlassen kann.

Wenn China nicht eingreifen will oder kann, was bleibt dann als Alternative, um den Konflikt zu beenden?

Das US-amerikanische Magazin The Atlantic hat vier Wege aufgezeigt, die die USA nun gehen könnten:

1. Prävention

Ein großer, richtiger Krieg, um die Kim-Dynastie und ihre Atomwaffen auszuschalten. Auf dem Papier ist dieser Krieg für die USA und Südkorea leicht zu gewinnen. Aber der Vietnamkrieg war auf dem Papier für die USA auch leicht zu gewinnen. Nordkorea ist ein bergiges Land, die Ingenieure haben in den letzten Jahrzehnten viele Tunnel gegraben. Es wäre unmöglich, das ganze Atomwaffenarsenal schon am ersten Tag auszuschalten.

Selbst wenn das gelingen würde: Erinnerst du dich an die Karte vom Anfang? Erinnerst du dich daran, wie nah die südkoreanische Millionenmetropole Seoul an der Grenze liegt? Nun, Nordkorea hat die größte Artilleriestreitkraft der Erde. Glaubt man der Aussage eines US-Generals könnte es damit jeden Flecken Seouls innerhalb von 24 Stunden bis zu dreimal treffen. Hundertausende Tote sind zu befürchten. Denn sind die Granaten einmal in der Luft, ist Gegenwehr unmöglich. Und die Berge bieten den Geschützen natürliche Deckung. Ein Angriff auf Seoul wäre verheerend für Südkorea und die Weltwirtschaft und würde wohl wiederum eine starke Reaktion erfordern. Am Ende wäre Kim vielleicht gestürzt, aber die koreanische Halbinsel stünde in Flammen. „‘Erfolg’ bedeutete, die größte humanitäre Katastrophe der jüngeren Geschichte einzuleiten“, schreibt The Atlantic.

2. „Die Schrauben anziehen“

Mit einem kleinen, zeitlich und räumlich limitierten Militärschlag könnte den Nordkoreanern ein Signal gesendet werden. Dabei gibt es nur ein Problem: Woher wissen die Nordkoreaner, dass es sich um einen kleinen, zeitlich und räumlich limitierten Angriff handelt? Am Ende könnte das gleiche Ergebnis wie bei einem vollen Krieg stehen.

3. Enthauptung

Wiederum ein gezielter Schlag. Dieses Mal aber „nur“ gegen die politische Führung. Diese Strategie hat drei entscheidende Schwachstellen: Woher wüssten die Angreifer, wo sie Kim Jong-un finden können? Sie bräuchten Spione im inneren Zirkel der Führungselite. Schwierig. Noch schwieriger zu beantworten: Wer käme danach? Woher wüssten die Angreifer, dass die Alternative nicht schlimmer ist? Letzte Frage, du kennst sie schon: Woher weiß Nordkorea, dass der Enthauptungsschlag nicht der Beginn einer Invasion ist? Im Irak-Krieg wollten die USA auch gleich am ersten Tag die Führungselite töten. Womit wir wieder bei Szenario eins wären.

Du redest nur von Krieg und Militär! Mann, Mann. Man muss die Situation doch deeskalieren und nicht anheizen!

In den letzten drei Jahrzehnten hat die Welt mit verschiedenen Verträgen und Abkommen immer wieder versucht, Nordkorea in das internationale System einzubinden. Im Gegenzug wurden dem Land 1994 technische und wirtschaftliche Hilfe versprochen und sogar zwei Leichtwasserreaktoren, mit denen Energie erzeugt werden kann, aber kein waffenfähiges Plutonium. Obwohl Südkorea mit dem Bau dieser Reaktoren, wenn auch verzögert, tatsächlich begonnen hatte, reicherte Nordkorea weiter Uran an, um waffenfähiges Material zu bekommen. Die Vereinbarung war damit hinfällig. Was bleibt?

4. Akzeptanz

Neu an der jetzigen Krise ist, dass Nordkorea das Festland der USA mit Atomwaffen angreifen könnte. Seine Nachbarländer, insbesondere Südkorea und Japan, sind schon viel länger gefährdet. Die Hauptstadt Seoul lebt mit dem Risiko eines massiven Artillerieangriffs, seit die beiden Koreas entstanden sind, und sie konnte sich nur sicher fühlen, weil Nordkorea wusste, dass es einen Krieg niemals nur gegen den Süden führen würde, sondern auch gegen die atomar bewaffnete USA. Die Logik der Abschreckung greift also schon seit 1950.

Der vierte Weg wäre also, die atomare Aufrüstung Nordkoreas zu akzeptieren und wie bisher mit verdeckten Operationen zu verlangsamen. Parallel kann weiterhin diplomatischer Druck ausgeübt werden, in der Hoffnung, dass sich irgendwann mal eine Gelegenheit gibt, an den Verhandlungstisch zurückzukehren.

Aber man kann den Kim doch nicht gewähren lassen. Es sollten nicht noch mehr Staaten Atomwaffen bekommen.

Da gebe ich dir recht. Das Schlimme ist: In diesem Akzeptanz-Szenario steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sich andere Staaten nuklear bewaffnen. Sowohl in Japan als auch in Südkorea gibt es Politiker, die genau das fordern. Seitdem Donald Trump in den USA regiert, sind diese Stimmen sogar noch ein bisschen lauter geworden, weil sich Japan und Südkorea nicht mehr 100 Prozent darauf verlassen können, dass die Vereinigten Staaten ihnen im Falle eines Falles zu Hilfe eilen.

Aber könnten die beiden Länder denn so schnell Atomwaffen bauen? Bei Nordkorea hat das ja auch ewig gedauert.

Ja, sie haben alles, was sie dazu brauchen: spaltbares Material, Zentrifugen, Trägersysteme. Sie gelten, übrigens wie auch Deutschland, als Schattenatommächte, die in sehr kurzer Zeit einsatzfähige Waffen herstellen könnten. Allerdings gibt es in beiden Ländern eine große Opposition gegen eine Atomaufrüstung. Außerdem haben sich Japan und Südkorea dazu verpflichtet, keine Atombomben zu bauen. Würden sie diese Verträge verlassen, wären sie plötzlich, was Nordkorea und Iran heute sind: rogue states, Schurkenstaaten.

Gibt es nichts, wirklich gar nichts, was man den Nordkoreaner anbieten könnte?

Bisher hat Nordkorea immer verlangt, dass die USA sich aus Korea zurückziehen, und die Führung der ganzen Halbinsel für sich beansprucht. Aber durch die Atomwaffen, die Nordkorea hat und die Entspannungssignale, die seit dem April 2018 aus beiden Koreas kommen, könnte sich eine neue Situation ergeben haben. Kim geht es vor allem um das Überleben seines Regimes. Das hängt an außenpolitischen Garantien und innenpolitischer Stabilität.

Zuerst die Außenpolitik: Wenn die USA bereit sind, auch offiziell Frieden mit Nordkorea zu schließen und diplomatische Beziehungen aufzunehmen, könnte das Land vielleicht abrüsten. Allerdings würde Kim dann genau das aus der Hand geben, was diesen Frieden in seinen Augen sicher erst ermöglicht hat: die Atomwaffen. Es werden schwierige Verhandlungen.

Dabei kann aber auch die innenpolitische Situation helfen. Denn wenn Kim seinem Volk und insbesondere der schmalen neuen Händlerschicht versprechen könnte, dass der Mini-Boom anhält und es dem Land absehbar besser gehen wird – dann könnte er sich auf einen Deal einlassen. Wenn die Sanktionen gegen das Land aufgehoben werden, wäre so ein Versprechen glaubwürdiger.

Okay, aber was ist mit einer friedlichen Wiedervereinigung der beiden Koreas? Das hat bei Deutschland geklappt, es kann doch auch hier klappen!

Das stimmt! Wenn uns die Wiedervereinigung etwas gelehrt hat, dann doch genau das: Alles ist möglich. Wir sollten uns trauen, eine friedliche, einvernehmliche Wiedervereinigung nicht völlig abzuschreiben. Gerade weil sie im Moment so unwahrscheinlich ist.

Welche Konsequenzen hätte ein Konflikt in Korea für uns in Europa?

Wenn Nordkorea die USA in irgendeiner Form zuerst angreifen würde, müssten die NATO-Staaten entsprechend ihrer Verpflichtungen zu Hilfe eilen. Auch Deutschland, auch die Bundeswehr. Tun die NATO-Partner das nicht, wäre das sowieso schon fragile Bündnis am Ende und eine neue geopolitische Krise könnte in Europa beginnen. Tun sie es, befände sich die NATO im Krieg, die Weltwirtschaft würde dann wohl in eine neue Krise taumeln, was in Deutschland Hunderttausende Arbeitsplätze kosten würde. Und: China müsste irgendwie reagieren.

Hoffen wir einfach, dass es nicht zu einem Krieg kommt.

Ja.

Ich persönlich glaube nicht, dass es zu einem Krieg kommt. Die USA und China haben kein Interesse daran, Korea zu destabilisieren. Sie werden weiter drohen und warnen und sabotieren, aber am Ende wird Nordkorea Atommacht bleiben. Ich habe die Hoffnung, dass Kim Jong-un dann seine Paranoia aufgeben könnte und den vorsichtigen Schritten der wirtschaftlichen Reform und Öffnung weitere folgen. Nordkorea wäre dann immer noch eine Diktatur, aber immerhin eine, die stärker in die Staatengemeinschaft eingebunden ist und vielleicht eher bereit ist, minimale Kompromisse zu schließen.

Aber: Das kann nur gelingen, wenn alle weiterhin an die Logik der Abschreckung glauben und sich ihr fügen. Dabei kommt es darauf an, die richtigen Signale zu senden und die richtigen Worte zu finden, selbst in angespannten Situationen. Es braucht Fingerspitzengefühl. Aber Nordkoreas Mitteilungen zeichnen sich bisher nicht gerade durch Zurückhaltung aus, und im Weißen Haus sitzt gerade einer, der sehr impulsiv ist und nur sein Handy zu zücken braucht, um der Welt und Nordkorea mitzuteilen, was er wirklich denkt.


Redaktion Vera Fröhlich, Bildredaktion Martin Gommel (Fotos KCNA). Vielen Dank an die vielen, vielen KR-Mitglieder, die mich mit ihren guten Fragen zu Nordkorea auf neue Ideen gebracht und mir sehr dabei geholfen haben, hier die richtigen Schwerpunkte zu setzen.