„Ooor, jetzt weint sie“, sagt Torsten G., und klingt dabei ein bisschen wie Pittiplatsch auf Steroiden. Er sagt es leise, aber seine bassige Stimme dröhnt laut genug durch den kleinen sächsischen Amtsgerichtssaal, um unter den Zuschauern Kichern und gehässige Hä-häs auszulösen. G. nickt ins Publikum, lehnt sich in seinem Drehstuhl zurück und grinst.
Die da weint, das ist die Oberbürgermeisterin der Stadt Zwickau, Pia Findeiß. Sie hat Torsten G. vor fast einem Jahr angezeigt, weil er behauptete, dass sie Kommandeure der islamistischen Terrormiliz IS in ihrem Wohnhaus beherbergt.
Die Oberbürgermeisterin ist an diesem heißen Julimorgen als Zeugin geladen. Aber je brüchiger ihre Stimme, je verächtlicher das Gelächter in ihrem Rücken wird, umso mehr könnte man den Eindruck bekommen, dass eigentlich sie es ist, die hier auf der Anklagebank sitzt.
Seit 23 Jahren führt Findeiß die Geschäfte von Zwickau, erst als Bürgermeisterin und seit neun Jahren als Oberbürgermeisterin. Unter ihrer Regie baute die 93.000-Einwohner-Stadt Schulden ab und Schulen aus. Mit einem Hechtsprung weihte sie die neue Schwimmhalle ein.
Normalerweise bringt diese Frau so schnell nichts aus der Fassung. Aber Torsten G. und seinen Mitstreitern gelingt es immer wieder.
Dieser Prozess und seine mit Anschlägen gespickte Vorgeschichte zeigen, wie wehrlos eine Oberbürgermeisterin in Sachsen sein kann, selbst wenn sie sich mit allem wehrt, was ihr zur Verfügung steht. In der stickigen, heißen Luft des Zwickauer Gerichtssaals verwischen die Grenzen zwischen Prozess und Vorführung. Das Amtsgericht wird zum Schauplatz des persönlichen Rachefeldzuges wütender Bürger gegen die deutsche Flüchtlingspolitik.
Es begann mit Mohammad Zatareyh, der am 4. September 2015 eine Entscheidung traf, die Europas Flüchtlingspolitik und das öffentliche Leben von Zwickau für immer veränderten. Natürlich konnte der 27-jährige Syrer das nicht wissen, als er damals in Budapest losmarschierte. Er war das „Yallah“ hinter Angela Merkels „Wir schaffen das“.
Ein Syrer schreibt in Budapest Weltgeschichte und landet in Zwickau
Zatareyh stammt aus Damaskus. Von Istanbul aus machte er sich im März 2015 über das Mittelmeer und die Balkanroute auf den Weg Richtung Westeuropa.
Am 1. September strandete er mit rund 3.500 anderen Flüchtlingen vor dem Ostbahnhof von Budapest. Nach drei Tagen ohne Unterkunft und ausreichende Verpflegung organisiert Zatareyh den „March of Hope“. Er stellt die Flüchtlinge in Fünferreihen auf, gibt Anweisungen über ein Megafon, kommuniziert das Vorhaben an internationale Journalisten. Sie wollen Ungarn um jeden Preis verlassen. Zur Not eben zu Fuß.
Die Bilder der kilometerlangen Menschenkolonne, die nachts zu Fuß über die Autobahn Richtung Wien marschiert, bringen eine Kettenreaktion in Gang. Deutschland und Österreich erlauben in der Folge die unkontrollierte Einreise Hunderttausender Flüchtlinge.
In den Bahnhöfen von Wien, München und Berlin werden sie mit Applaus empfangen. Zatareyh stellt seinen Asylantrag und wird schließlich in eine Notunterkunft für Flüchtlinge in Zwickau verwiesen.
Genau eine Woche, nachdem der Syrer in Budapest aufgebrochen ist, postet ein Nutzer mit dem Namen „Räderwirbel“ diesen Diskussionsbeitrag in dem lokalen sozialen Netzwerk zwigge.de:
(…) In naher Zukunft, werden die staatlichen Behörden – die schon jetzt nicht mehr in der Lage bzw. Willens sind – nicht länger die Einheimische Bevölkerung schützen können. Das bedeutet, das das Volk selbst sich vor den anschwellenden Bedrohungen schützen MUSS (…) Um dies rechtzeitig vorzubereiten schlage ich vor, dass im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten und Ordnungen die deutsche Bevölkerung anfängt sich in Milizen, Sicherheitsdiensten und “Wehrsportgruppen” regional zu organisieren.
51 Minuten später antwortet „Jochaan“:
Hieran erkennt man nicht nur, dass die Invasion fortgesetzt wird, sondern dass sich deren Ausmaß in einem sich permanent beschleunigenden Wachstum befindet. Jeder, der sich schon mal mit exponentiellem Wachstum beschäftigt hat, weiß, was das zu bedeuten hat. Und zwar bereits in Kürze.
Hinter „Jochaan” verbirgt sich Torsten G. Hinter „Räderwirbel“ steckt Benjamin Przybylla (sprich: Schibylla). Drei Wochen später gehen sie erstmals zusammen zu einer Einwohnerversammlung in Zwickau, bei der Pia Findeiß über die Unterbringung von Flüchtlingen in der Stadt informiert.
Torsten G. ist 41 Jahre alt, ein stadtbekannter Rechtsextremer und arbeitsloser Koch, vorbestraft wegen gefährlicher Körperverletzung. Benjamin Przybylla ist 36 Jahre alt und der Bundestagskandidat der AfD in Zwickau. Sein Slogan: „Toleranz hat Grenzen.”
Przybylla und G. sind überzeugt, dass es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis in Deutschland ein Bürgerkrieg ausbricht. Sie wollen etwas unternehmen. Zusammen mit dem arbeitslosen Küchenplaner Andreas L. gründen sie eine Bewegung, die die OB und andere Lokalpolitiker seit mehr als eineinhalb Jahren beleidigt, verleumdet, bedroht und Videos davon ins Internet stellt. Sie nennen sich „Kara Ben Nemsi TV”, nach einer Figur aus den Orient-Romanen von Karl May.
Die Polizei greift nicht ein
Drei Monate, nachdem Zatareyh in Budapest losmarschiert ist, produzieren die Männer ihr erstes Video. Im Gemeinderat von Mülsen, einem Nachbarort von Zwickau, wird an jenem Abend über die Unterbringung von Flüchtlingen diskutiert. Die Männer filmen die Gemeinderäte ohne Erlaubnis und stören die Sitzung durch Zwischenrufe.
„Sie sind sehr aggressiv aufgetreten“, erinnert sich Bürgermeister Hendric Freund später im Fernsehsender MDR. Er machte sein Hausrecht geltend. Doch die Männer von Kara Ben Nemsi TV gingen nicht. Freund rief die Polizei. Die nahm die Personalien auf und zog wieder ab. „Demokratie hat Regeln. Ich hätte erwartet, dass die Polizei konsequent handelt. Wenn sie das nicht tut, braucht man sich nicht wundern, wenn die Leute immer dreister werden“, so Freund.
Der Mülsener Bürgermeister wird Recht behalten. Von nun an geht fast keine Sitzung eines Gemeinderates, Stadtrates oder des Kreistages, keine Einwohnerversammlung oder Kundgebung zum Thema Asyl im Landkreis Zwickau mehr zu Ende, ohne dass die Männer von Kara Ben Nemsi TV dabei sind. Mehrmals wird die Polizei hinzugerufen, greift aber nicht ein. Bald nehmen sich die Hobbyjournalisten auch das Privatleben der Lokalpolitiker vor.
„Eine Gruppe rechter Störer verfolgt Kommunalpolitiker bis in ihre Privatwohnungen und stellt verächtliche Videos darüber ins Netz. Es ist normal geworden, in der Öffentlichkeit bei privaten Besorgungen in der Stadt angepöbelt zu werden“, berichtet der Zwickauer Bundestagskandidat der Grünen, Wolfgang Wetzel.
Für die Angeklagten ist es der „Prozess des Jahrhunderts”
Die Oberbürgermeisterin im Zeugenstand – für die Macher von Kara Ben Nemsi TV ist es der „Prozess des Jahrhunderts“, der vorläufige Höhepunkt ihrer Tätigkeit, wie sie vor dem zweiten Verhandlungstag auf ihrer Facebook-Seite schreiben:
Der von Funk und Fernsehen mit viel Interesse verfolgte Prozess gegen drei alternative Medienmacher, die behauptet haben sollen, Frau Genossin Pia Findeiß („Oberbürgermeisterin in Zwickau“) beherberge IS-Terroristen in ihrem Hause (wir berichteten) geht morgen in die zweite Runde. Mit Sicherheit werden auch morgen wieder hochinteressante Zeugendarsteller für ein buntes Unterhaltungsprogramm und tiefe Einblicke in die trübe Suppe hiesiger Kommunalpolitik bieten. An dieser Stelle auch ein Gruß an alle interessierten Zeitgenossen, die sich bereits Teil 1 der großen Show am vergangenen Mittwoch nicht nehmen ließen.
Wir wünschen auch diesmal viel Vergnügen!
Ort: Amtsgericht Zwickau, Sitzungssaal 2 (EG)
Zeit: 12.7.2017, 9.00 Uhr
Eintritt: frei
Das Thermometer neben der Saaltür zeigt 27 Grad Celsius. Die 27 Stühle für die Zuschauer sind alle besetzt, viele waren schon eine Stunde vor Prozessbeginn da, um sich Plätze zu sichern. Etliche mussten draußenbleiben. Das Gericht lehnt es ab, einen größeren Saal zur Verfügung zu stellen.
Der Holocaust-Leugner Guntram P., der sich selbst als Reichsdeutscher bezeichnet und in der Vergangenheit von diesem Gericht bereits wegen Volksverhetzung zu einer Haftstrafe verurteilt wurde, trägt das lindgrüne Hemd eines Volkspolizisten der DDR, inklusive Schulterklappen. „Sie fürchten die Sympathie des Volkes“, sagt er über die doppelte Sicherheitsschleuse im Gerichtsfoyer.
Der Gerichtssaal wirkt wie eine Arche Noah der Ideologien
Ein anderer Mann hält sich ein kleines Schild vor das Gesicht, auf das er mit Kugelschreiber „Lügenpresse“ geschrieben hat. „Nazijäger“, ruft der Angeklagte Andreas L., der eine Sonnenbrille in Form eines Zensurbalkens trägt, einem der Pressefotografen zu. Eine junge Frau mit blonden Zöpfen, die verkleidet als Sträfling oder in einer Burka in Videos von Kara Ben Nemsi TV zu erkennen ist, wird am Wochenende nach diesem Verhandlungstag an einem der größten Neonazi-Treffen der deutschen Nachkriegsgeschichte in Themar teilnehmen.
Zwischen dem Tisch der Angeklagten und dem Zuschauerbereich stehen zwei Polizisten in schwarzen Overalls, mit Funkgeräten, Handschellen und Pistolenhalftern. Am ersten Verhandlungstag hatte es Auseinandersetzungen auf dem Gang gegeben, ein muskulöser, glatzköpfiger Mitstreiter der Angeklagten attackierte einen Kameramann.
Stadträte der CDU, der Grünen, der Linken, Medienvertreter, Antifaschisten und Rechtsextreme sitzen dicht gedrängt auf harten Holzstühlen ohne Armlehnen. Es wirkt ein bisschen wie eine Arche Noah der Ideologien oder ein Modell-Projekt der UNO, ein Sitz für jeden Stamm Sachsens.
Nur die Rechtsanwälte fehlen. Die drei Angeklagten verteidigen sich selbst. Das heißt, sie dürfen auch die Zeugen befragen. Die mutmaßlichen Täter müssen nicht aussagen. Die Opfer müssen ihnen hingegen antworten, vor Publikum, so sieht es in diesem Fall die deutsche Strafprozessordnung vor.
Richter Andreas Nahrendorf gibt Torsten G. das Wort:
„Haben Sie Alkohol getrunken?“, fragt er Findeiß.
„Hat Sie der BND kontaktiert?“
„Sie wissen, dass Sie hier die Wahrheit sagen müssen?“
„Wie lange waren Sie in der SED?“
Kannte Torsten G. das NSU-Trio?
Torsten G. ist 41 Jahre alt und wurde in Zwickau geboren. Ende der 90er Jahre arbeitete er in dem Szenegeschäft „The Last Resort Shop”, ein Treffpunkt der damals dominierenden Jugendkultur Westsachsens: Neonazis.
Der Laden-Inhaber stand zwischen 1992 und 2002 als V-Mann für die rechtsextreme Szene im Dienst des Bundesverfassungsschutzes. Laut Zeugenaussagen soll er Beate Zschäpe als Verkäuferin beschäftigt haben – ungefähr zur selben Zeit, als auch Torsten G. dort arbeitete. Unter dem Spitznamen „Torte“ ist Torsten G.’s Handynummer auch auf der Telefonliste von André Eminger verzeichnet, der als engster Untersützer des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) gilt und gemeinsam mit Beate Zschäpe vor dem Münchner Oberlandesgericht angeklagt ist.
Laut Kara Ben Nemsi TV hat es den NSU nie gegeben.
An diesem Mittwochmorgen im Juli 2017 hat „Torte“ noch viel Fragen an die Oberbürgermeisterin der Stadt, deren Wappen er auf den Unterarm tätowiert hat. Er darf sie alle stellen.
Ein Flüchtling zieht in das Haus der Oberbürgermeisterin ein
Im Herbst 2015 findet die lange Reise des Mohammad Zatareyh schließlich ihr vorläufiges Ende in Zwickau. In der Turnhalle einer Grundschule wird ihm ein Bett zugewiesen. Anfang November 2015 beginnt er mit dem Einstiegskurs Deutsch für Asylbewerber. Anfang Januar fängt er an, in einem Club in der Innenstadt als Barkeeper zu arbeiten. Seine Geschichte hat sich inzwischen in Zwickau herumgesprochen und das „Bündnis für Demokratie und Toleranz“ lädt den Syrer ein, in Schulen über den Bürgerkrieg in seinem Heimatland und die Umstände seiner Flucht zu berichten.
„Ich klag dich an, wenn ihr den weiter vor unseren Kindern Lügen verbreiten lasst“, sagt der 53-jährige Mitangeklagte Maik K. damals zu einem der Bündnis-Organisatoren. In Zatareyhs Notunterkunft engagiert sich auch der Sohn der Oberbürgermeisterin ehrenamtlich. Er freundet sich mit dem Syrer an und stellt ihn seiner Familie vor.
Gleichzeitig spitzt sich die Lage in der Region zu. In einem Nachbarort fliegen Molotowcocktails auf eine Asylunterkunft. In einem anderen versperren Asylgegner Bussen mit Flüchtlingen die Zufahrt und attackieren Polizisten mit Feuerwerkskörpern.
In Zwickau selbst wird eine Bombenattrappe vor einer geplanten Notunterkunft gefunden, und gegen das Wohnhaus von Pia Findeiß fliegen zunächst Farbbeutel. Nachts stehen nun ab und zu Grüppchen von Männern vor ihrem Haus. Im Januar 2016 schmeißt jemand einen Stein durch das Fenster in die Wohnung. Und Woche für Woche treffen sich bis zu 3.000 Menschen zu Anti-Asyl-Kundgebungen in der Innenstadt.
Immer mittendrin: Torsten G., Benjamin Przybylla, Maik K. und Andreas L., die inzwischen Dutzende Hetz-Videos über Findeiß, ihr Wohnhaus und ihre Familie gedreht und bei Youtube und Facebook veröffentlicht haben. Einige werden mehrere tausendmal angeklickt.
Findeiß stellt sich der größten Herausforderung ihrer Amtszeit beherzt, lädt Kritiker immer wieder zum Gespräch ein. In ihrer Weihnachtsansprache erklärt sie: „Die Flüchtlinge, die zu uns kommen, sind Menschen, die Hilfe brauchen – unsere Hilfe. Und es sind Menschen, von denen wir viel lernen können.“
Etwa zur gleichen Zeit bittet sie die Reporter einer Regionalzeitung, sie sollen nicht über das Gerücht schreiben, das seit einigen Tagen durch die Stadt wabert: Mohammad Zatareyh ist als Untermieter in eine Einliegerwohnung ihres Hauses gezogen, die seit dem Tod der Mutter der Oberbürgermeisterin leerstand.
Seit Beginn der Flüchtlingskrise im Herbst 2015 hat Findeiß etwa ein Dutzend Strafanzeigen gestellt. Nun, im Juli 2017, kommt es zum ersten Mal zu einem Prozess. Die drei Angeklagten kenne sie zur Genüge, erklärt sie dem Richter. „Sie sind ja ständig bei uns in der Stadtverwaltung zu Gange.“
Ein Gerücht geht um: Zwickaus OB beherbergt IS-Terroristen
Im Mittelpunkt des dritten Verhandlungstages steht eines jener Hetz-Videos. Es ist im August 2016 entstanden und bis heute abrufbar. Angeführt von der Oberbürgermeisterin und Mitarbeitern der Stadtverwaltung laufen darin etwa 30 Bürger durch einen Zwickauer Stadtteil.
„Stadtspaziergang” nennt Findeiß das. Es ist ein regelmäßiger Termin, bei dem sich Anwohner vor Ort und im direkten Gespräch mit den zuständigen Beamten über Bauarbeiten und Veränderungen in ihrer Umgebung informieren können.
Rund um die Gruppe schwirren Andreas L., Maik K., Torsten G. und Benjamin Przybylla mit ihren Kameras wie Schäferhunde, die bellend und zähnefletschend ihre Herde zusammenhalten wollen.
Die Hobbyjournalisten haben zudem Statisten für ihr neuestes Video mitgebracht. Zwei in Burkas gekleidete Frauen, die hinter der OB hinterherlaufen, ein Mann, der eine Kasperlepuppe mit dem Namen PiFi (wie die Anfangsbuchstaben in Pia Findeiß) vor sich herträgt, und ein Mann, der durch eine Schweißermaske vermummt ist, gehören dazu.
„Die Oberbürgermeisterin erzählt hier was vom Pferd und wir filmen das”, erklärt Torsten G. einem erstaunten Anwohner. Andreas L. ruft immer wieder: „Frau Findeiß, Sie beherbergen IS-Kommandeure in Ihrem Wohnhaus.”
Rund 20-mal wiederholt er diesen Ausspruch, wie in dem 38 Minuten langen Video zu sehen ist, das drei Tage später bei Youtube veröffentlicht wird.
Als Richter Andreas Nahrendorf das Video vorführen lässt, sitzen auch die Burka-Frauen, der Mann mit der Schweißermaske und das Kasperle im Publikum. Sie lachen, wenn sich selbst im Video erkennen. „Wär ja schade, wenn hier jemandem was passiert”, sagt Torsten G. im Video. Der Torsten G. im Gerichtssaal grinst.
Ein Jesus-Freak, ein Kommunist und ein Neonazi finden sich zusammen
Kurz bevor dieses Video aufgeführt wird, treffe ich die Angeklagten Andreas L. und Maik K. vor dem Gerichtsgebäude. „Von Ihnen hab ich mir einen Artikel ausgeschnitten. Da haben sie die Band Feine Sahne Fischfilet als demokratisch bezeichnet“, sagt Maik K. zu mir zur Begrüßung. Der Artikel ist aus dem Jahr 2014. Wie über andere Journalisten hat Kara Ben Nemsi TV auch über mich schon Beiträge auf Facebook veröffentlicht.
Zwei junge blonde Frauen mit schlechten Zähnen und Red-Bull-Dosen in der Hand kommen die Treppen herunter. Sie haben ihren Prozess für heute schon hinter sich. Sie laufen auf uns zu und fragen: „Ey, was ist denn hier los? Sind die wegen euch alle hier, Kameras und so?“
„Klar, wir sind die Angeklagten. Was wollt ihr denn wissen?“, sagt Maik K.
„Was habt ihr denn gemacht, hä?“
„Die Bürgermeisterin beleidigt“, sagt Andreas L. und lächelt.
„Habt ihr richtig gemacht“, antwortet eine der Frauen, und dann verschwinden die beiden winkend in den sich aufheizenden Julimorgen.
Kurz darauf fährt ein Golf Variant mit hoher Geschwindigkeit am Gericht vorbei. Zwei Männer mit schwarzen Haaren sitzen darin. „Kanaken!“, ruft Maik K. ihnen hinterher. „Die sind doch nicht ganz dicht“, ergänzt Andreas L.
Als ein Justizbeamter vorbeikommt, geht Maik K. auf ihn zu, zeigt auf das Heck des sich entfernenden Wagens. „Das waren zwei mit Migrationshintergrund. Das würden die sich in Berlin-Tiergarten nicht getrauen, wo die arabischen Clans sind.“ Der Justizbeamte geht weiter und sagt: „Erzählen Sie ihren Scheiß woanders.“
Andreas L. erzählt, er sei als 15-Jähriger zweimal von der Stasi verhört worden. „Ich bin doch kein Reichsbürger! Ich bin Kommunist. Ich war schon damals gegen das System. Ist Ihnen mal aufgefallen, wie viele von der SED bei der SPD oder CDU gelandet sind? Die schieben sich die Posten hin und her.”
Andreas L. war lange Jahre Mitglied bei der Links-Partei. Weil er seit zwei Jahren keinen Beitrag mehr gezahlt hatte, schloss ihn der Kreisverband Ende 2016 aber aus. „Die Quittung dafür kriegt ihr auf Youtube”, soll er daraufhin gesagt haben.
Mir gegenüber beklagt er sich darüber, dass er eine Strafe bezahlen musste, weil er vergessen hatte, seinen Personalausweis zu verlängern. „Aber ein Zatareyh, der zum 3.500-fachen illegalen Grenzübertritt anstiftet, der kriegt auch noch Geld vom Staat dafür.“
Dann kommt Benjamin Przybylla vorbei. Er ist an diesem Tag als Zeuge geladen. Ursprünglich ermittelte die Staatsanwaltschaft auch gegen ihn, den Mitgründer von Kara Ben Nemsi TV, fand aber keine Beweise für den Vorwurf der Verleumdung.
Przybylla ist 36 Jahre alt und selbstständiger Gartenbauer. Er beschäftigt laut eigenen Angaben acht Mitarbeiter. Andreas L. und er kennen sich seit etwa zehn Jahren. Aber an diesem Morgen läuft er an ihm vorbei, nur spärlich mit dem Kopf nickend, in das Gerichtsgebäude hinein.
„Kriselt es?“, frage ich Andreas L.
„Nein, nein“, sagt der und blickt auf die hinter Przybylla zufallende Eingangstür.
Przybylla ist in Niedersachsen geboren. 2006 zieht er nach Sachsen. Damals erklärt er einem Freund, er habe „von Gott den Auftrag bekommen, nach Zwickau zu gehen”. Er wird Mitglied bei den Jesus-Freaks, einer sektenähnlichen Bewegung fundamentalistischer, freikirchlicher Christen, und beginnt, missionarisch tätig zu werden in der sächsischen Stadt, in der zu dieser Zeit fast ein Viertel der Einwohner arbeitslos sind.
Der großgewachsene, redegewandte Przybylla macht sich schnell einen Namen. Er verteilt Flyer in Fußgängerzonen, auch Seifenblasenspender, auf denen steht: “Du bist schillernd schön, doch nur bei Jesus sicher. Gruß, Mr. Räderwirbel.”
Er mietet Räume in der ersten Etage eines leerstehenden Fabrikgebäudes und gründet dort den „Jesus-Club”, in dem regelmäßig Punk-Konzerte und Liederabende stattfinden. Die Mietkosten trägt er offenbar allein. Auch der zwölf Jahre ältere Andreas L. ist hier häufig zu Gast.
„Geistig war hier alles tot, und dann kam da einer, der was auf die Beine gestellt hat. Mal abgesehen davon, dass ihn alle für einen Spinner gehalten haben wegen dem ganzen Jesus-Zeug, wurde er geachtet. Mit Rechts hatte er nichts am Hut”, sagt mir ein 35-Jähriger, der mehrmals im Jesus-Club zu Gast war.
In einer Predigt, die Przybylla am 4. Dezember 2010 bei den Jesus-Freaks hielt, berichtet er darüber, wie Gott ihm eine Goldmünze schenkte, aber auch über Probleme mit Satanisten, die in derselben Fabrikhalle Räume im Erdgeschoss gemietet hatten. Diese hätten der Polizei erklärt, Przybylla handelte mit Drogen und ihm seinen Schlüssel geklaut. Zurückgebracht hat ihn, wer sonst, der liebe Gott persönlich. Eine Ausschanklizenz hingegen brachte Gott nicht vorbei. Wegen Problemen mit dem Ordnungsamt muss der Club schließen.
Je größer der Widerstand, desto radikaler werden die Youtuber
In Zwickau eskaliert die Lage im Sommer 2016 immer weiter. Bei der Gewerkschaftskundgebung am 1. Mai jagen Asylgegner Heiko Maas von der Bühne, der Bundesjustizminister flüchtet sich geschützt von Bodyguards in seine Limousine und verlässt die Stadt. Drei Wochen später findet ein Brandanschlag auf das Asylbewerberheim statt.
Youtube reagiert unterdessen auf die Beschwerden von Betroffenen und löscht im Juni 2016 den Kanal von Kara Ben Nemsi TV. Die Hobbyjournalisten kommentieren auf ihrer Facebook-Seite:
Es freut uns nach wie vor sehr, zu sehen, dass wir den Finger in die richtigen Wunden gelegt haben. Aus diesem Grunde werden wir das auch in Zukunft tun. Wir genießen jetzt ein paar Tage Schaffenspause und dann gehts weiter mit alter Kraft und neuen Ideen. Die zunehmenden Repressalien der letzten Zeit haben uns zu dem Entschluss gebracht, dass unsere Form von Basisjournalismus zwar richtig ist, wir jedoch in Zukunft weniger zurückhaltend agieren werden. Diesbezüglich passen wir uns den Gegebenheiten dieser geschichtsträchtigen Gegenwart an. Alles an bisher veröffentlichtem und bisher unveröffentlichtem Material ist mehrfach gesichert und wird in Kürze wieder zugänglich sein. Freiheit ist nicht löschbar!
Eine Woche später beantragt der Grünen-Stadtrat Martin Böttger Hausverbot für Torsten G. im Rathaus. Eine Änderung der Hausordnung wird beschlossen, Sicherheitsvorkehrungen verstärkt, das Filmen im gläsernen Bürgersaal verboten, die Sitzungen von bis zu acht Ordnungsdienstmitarbeitern gesichert. Dennoch kommt es immer wieder zu Zwischenfällen.
Der Angeklagte Andreas L. wird vom Stadtordnungsdienst aus einer Einwohnerversammlung rausgeworfen und zieht sich dabei eine Platzwunde am Kinn zu. Gegen Benjamin Przybylla wird mittlerweile wegen Hausfriedensbruch ermittelt. Der Kreisverband der AfD nominiert ihn trotzdem zum Bundestagskandidaten.
Unter dem neuen Namen IndyPresse TV veröffentlicht Kara Ben Nemsi am 31. Juli auf Youtube ein Video mit dem Titel „Die Islamisierung des Hauses Findeiß. Am 11. August folgt „Der Schoßmusel der Pia Findeiß” und einen Tag später „Villa Bitch und die Sandniggaz“.
Insgesamt 98 Videos haben die Asyl-Kritiker seit dem Youtube-Neuanfang vor etwas mehr als einem Jahr hochgeladen. Im Durchschnitt sind das mehr als zwei Videos pro Woche. „Ich glaube nicht, dass man das so 100 Prozent ernst nehmen muss”, erklärt mir Przybylla am Rande des Prozesses. Kara Ben Nemsi sei ein „Open-Source-Projekt”, das man „mit einem Lächeln sehen muss”.
Der AfD kriegt ihren Bundestagskandidaten nicht mehr los
Am 9. August wird das Verfahren fortgesetzt. „Wir werden uns alle als Zeugen vorladen, denen wir schon lange Mal ein paar Fragen stellen wollten“, sagt Torsten G. Der „Prozess des Jahrhunderts“, er kann ihm gar nicht lang genug gehen.
Andreas L. erklärt mir, er sei eher zornig, dass die Aufnahmen von dem Stadtspaziergang im Netz gelandet sind. „Denken Sie, es gefällt mir, hier angeklagt zu sein?” Der Richter, sagt er, der war früher auch in der SED.
Seit vergangenem Jahr erfasst das Bundeskriminalamt Angriffe gegen Politiker gesondert. Laut vorläufigen Zahlen des BKA kam es 2016 zu 755 rechts-motivierten Übergriffen auf Bundespolitiker, Mitglieder der Landesregierungen und Kommunalpolitiker. 129 solcher Angriffe fanden in Sachsen statt. „Im Fokus dieser Taten steht ganz klar das demokratische System insgesamt”, sagt die Grünen-Innenexpertin Irene Mihalic dem Bayrischen Rundfunk.
Die Zwickauer AfD hat Benjamin Przybylla inzwischen zweimal das Vertrauen entzogen und will nun lieber ohne Direktkandidaten bei der Bundestagswahl antreten, als mit diesem. Przybylla will sich jedoch weiterhin zur Wahl stellen und behauptet, die AfD werde im Auftrag des Bundesnachrichtendienstes durch Rechtsextreme “operativ zersetzt”. Nun steht auch die AfD im Fokus von Kara Ben Nemsi TV.
„Zwickau ist wirklich perfekt und ein schöner Ort mit sehr netten Menschen”, sagt Mohammad Zatareyh, “aber es gibt einige, die Flüchtlinge nicht mögen.”
Rico Grimm hat beim Erarbeiten des Textes geholfen; Vera Fröhlich hat gegengelesen; das Aufmacherfoto stammt von Ralph Köhler und zeigt den Angeklagten Andreas L. im Amtsgericht Zwickau; ausgewählt hat das Foto Martin Gommel.