Aktualisiert am 30. November 2018
Von all den Dingen, die die Menschen vor dem G20-Gipfel in Hamburg gesagt hatten, blieb mir eine Sache besonders in Erinnerung. Es war der offene Brief eines Polizeibeamten, der am Gipfelwochenende mitten in Hamburg Dienst tun muss: „Ich habe durchaus gelernt, auch mal gegen meine Überzeugung zu arbeiten“, schreibt die anonym bleibende Polizeikraft. „Wenn ich zum Beispiel die Ablagerung von Atommüll durchsetze oder verfassungsfeindlichen Organisationen zu ihrem Recht auf Versammlung verhelfe.“ Aber der G20-Gipfel setze all diesen Dingen die Krone auf, hieß es weiter. „Die Kosten sind eine einzige Frechheit. Soll allein die Gefangenensammelstelle tatsächlich über vier Millionen Euro kosten? Ihr Ernst?“
Und wofür das Ganze? „Wir wissen doch alle, dass Ihr milliardenschwerer Ausflug keinen Konflikt der Welt entschärfen, keine Hungerkrise lösen und kein Heilmittel für eine tödliche Krankheit liefern wird“, heißt es in Richtung der Staatschefs.
Allerdings ist dieser Text nicht nur ein Dokument des heiligen Zorns, sondern auch der blinden Wut. Denn die G20-Gipfel sind besser als ihr Ruf. Bei ihnen treffen sich einmal im Jahr die Regierungschefs von 20 Staaten der Welt, die zusammen gut zwei Drittel der Menschheit vertreten. Dazu zählen zum Beispiel die USA, China, Indien, aber auch Deutschland, die Türkei, Südafrika oder Saudi-Arabien. Sie treffen sich seit dem Herbst 2008. Dabei richtet immer ein anderes Land den Gipfel aus. Vor zwei Jahren war es China, 2017 Deutschland, nun ist es Argentinien.
G20-Gipfel erreichten in den vergangenen zehn Jahren viel mehr als die Vereinten Nationen
Würden wir diese Gipfel einfach abschaffen, wie es auch der bekannte Soziologe Jean Ziegler unter großem Applaus fordert, wäre das ein Verlust – den auch der anonyme Verfasser des Polizistentexts spüren würde. G20-Gipfel mögen abgehoben erscheinen, mit ihren bereits vor Beginn fertig ausgearbeiteten Abschlusserklärungen auch ziemlich nutzlos, aber sie sind trotzdem wertvoll.
Denn welche Welt ist uns lieber? Eine, in der sich die Regierungschefs der 20 mächtigsten Staaten der Erde regelmäßig von Angesicht zu Angesicht austauschen? Oder eine, in der sie das nicht tun?
Es ist die banalste und gleichzeitig wichtigste Regel der internationalen Diplomatie: Reden hilft. Nicht umsonst haben die zwei Supermächte USA und Sowjetunion auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges eine direkte Telefonleitung zwischen dem Weißen Haus und dem Kreml eingerichtet. Sie wollten im Atomzeitalter katastrophale Missverständnisse vermeiden.
Heute sind die Konfliktlinien noch eine Spur unübersichtlicher geworden als im Kalten Krieg. Umso wichtiger sind da die G20. Und es würde eben nicht reichen, wenn sich die Politiker einfach in einer langen Telefonkonferenz zusammenschalten würden. Als ich zur Psychologie von Online-Kommentaren recherchiert hatte, habe ich eine Sache herausgefunden, die auch in der Spitzenpolitik gilt: Gespräche gelingen eher, wenn wir sie von Angesicht zu Angesicht führen. Vertrauen wächst eher, wenn ich dem Gegenüber in die Augen schauen kann.
Ich sehe aber, dass dieses Argument nicht überzeugen muss. Denn was würden die guten Gespräche und all dieses Vertrauen bringen, wenn am Ende beim G20-Gipfel wirklich nichts herauskommen würde? Nur weil sich Donald Trump und Xi Jinping einmal tief in die Augen schauen können, verhindert das nicht die nächste Weltkrise. Der Globalisierungskritiker Jean Ziegler sieht es genau so. Er sagt: „Ich glaube, die G20 haben nichts erreicht.“
Aber das stimmt nicht. Sie haben in den vergangenen zehn Jahren sogar mehr erreicht als jede andere internationale Runde, einschließlich der Vereinten Nationen.
Ohne die G20 wären die Folgen der Finanzkrise noch viel verheerender gewesen
Schauen wir zurück: Kurz nachdem die Finanzkrise 2008 ausgebrochen war, lud der damalige US-Präsident George W. Bush die wichtigsten Länder der Welt nach Washington ein, um eine gemeinsame Lösung der Probleme zu entwickeln. Allen Beteiligten war damals klar, dass diese Krise nur eingedämmt werden kann, wenn auch Länder wie China, Brasilien und Indien mit hinzugezogen werden.
Denn diese Länder litten zwar auch unter der Krise, sie lagen aber nicht im Auge des Sturms. Gerade das riesige China hatte noch erhebliche Spielräume, um einzugreifen und den kompletten Absturz der Weltwirtschaft zu verhindern. Bei diesem und den folgenden Gipfeln einigten sich alle Länder auf eine gemeinsame Krisendefinition, schworen, keine nationalen Alleingänge zu unternehmen und der Weltwirtschaft mit billionenschweren Konjunkturprogrammen gleichzeitig unter die Arme zu greifen.
Diese G20-Beschlüsse waren entscheidend, um die größte Finanzkrise seit 70 Jahren einzudämmen. Was-wäre-wenn-Spielchen sind oft schwierig, aber eines ist sicher: Hätten die Länder sich nicht abgesprochen, hätten sie nicht gemeinsam agiert, sondern gegeneinander, wären die Folgen dieser Finanzkrise noch gravierender gewesen. In den 1930er Jahren sprachen sich die Staaten nicht ab, sondern versuchten lieber, sich abzuschotten. Millionen Menschen bezahlten diese Politik mit ihrem Arbeitsplatz. Wäre es vor zehn Jahren genauso gekommen, hätte das auch der anonyme Polizeibeamte von oben gemerkt.
Die G20 machen, was sich ihre Kritiker wünschen: Sie versuchen die Globalisierung zu regeln
Dann ging 2010 dank der G20 ein Wunsch in Erfüllung, von dem gerade die Globalisierungskritiker lange geträumt hatten: dass die armen Länder der Erde mehr Einfluss beim damals noch stramm neoliberalen Internationalen Währungsfonds bekommen. China, Brasilien und Indien, die zu diesem Zeitpunkt drei Milliarden arme Menschen repräsentierten, gewannen an Einfluss. Japan zum Beispiel verlor. Die Reform hatten die Finanzminister der G20-Staaten bei ihrem jährlichen Treffen ausgehandelt.
Zwei Jahre später sprachen die G20 über ein Problem, das entweder auf globaler Ebene gelöst wird oder gar nicht: dass Weltkonzerne ihre Einnahmen so lange von einem Land in ein anderes schieben, bis sie kaum noch Steuern zahlen. Was sie damals beschlossen haben, haben die Länder in den Jahren danach umgesetzt, langsam zwar, aber sie haben es umgesetzt. Sogar die notorische Steueroase Luxemburg hat sich diesen Regeln unterworfen.
Diese drei Beispiele zeigen, dass die Welt nicht so einfach ist, wie sie Jean Ziegler und die anderen Globalisierungskritiker darstellen. Denn ausgerechnet die G20 versuchen, sich nicht einfach der Globalisierung und ihren undurchsichtigen Kräften zu beugen. Wie sie das machen, muss die globale Zivilgesellschaft genau beobachten. Aber dass sie das machen, ist wichtig.
G20 und die Vereinten Nationen können sich ergänzen
Wer die G20 abschafft, nimmt der Weltgemeinschaft ein Werkzeug aus der Hand, um ihre Probleme zu lösen. Das muss nicht schlecht sein, so lange es durch ein Werkzeug ersetzt wird, das mindestens genauso gut funktioniert. Jean Ziegler schlägt da vor: „Die Probleme müssen im Rahmen der Vereinten Nationen (UN) gelöst werden.“ In seinen Augen haben nur die Vereinten Nationen das Recht, Entscheidungen zu treffen, die so weitreichend sind wie die der G20. Denn nur in den UN seien wirklich alle Länder der Erde versammelt und könnten mitsprechen.
Aber auch das stimmt nicht. Im wichtigsten Gremium der Vereinten Nationen sieht es noch immer aus, als wäre Helmut Kohl nicht gestorben, sondern in den Bonner Kanzlerbungalow gezogen. Die fünf Atommächte USA, Russland, China, Frankreich und Großbritannien können jeden Beschluss des Rates ohne nähere Begründung stoppen.
Deswegen gibt es bis heute keinen Beschluss, in dem etwa die Kriegsverbrechen der syrischen Regierung verurteilt werden. Gleichzeitig sitzen zwar in der UN-Generalversammlung fast alle Länder der Erde. Manche von ihnen sind aber so klein und arm, dass Studenten aus anderen Ländern in ihren Teams freiwillig mitarbeiten müssen, um irgendwie das Arbeitspensum bewältigen zu können. Resolutionen arbeitet die UN auch nicht mit allen Ländern gleichzeitig aus; meistens kümmert sich darum eine bestimmte Gruppe von Ländern.
Zuletzt ändern auch die Strukturen der Vereinten Nationen nichts daran, dass es starke und schwache Länder auf der Erde gibt. Im Gegenteil: Immer wieder wird bekannt, wie starke/reiche Länder sich die Stimmen der schwachen/armen einfach kaufen, mit Druck oder Geld, je nachdem. Diejenigen Länder, die das machen können, sind sehr oft auch Länder, die an den G20-Gipfeln teilnehmen.
Es ist bezeichnend, dass auch die Vereinten Nationen im Herbst 2008 einen Versuch starteten, um eine Antwort auf die Finanzkrise zu organisieren. Während in Washington die G20 ihre umfangreichen Maßnahmen bereits beschlossen, war die UN noch dabei, einen Bericht zu organisieren. Allerdings behaupten einige, etwa der Politikprofessor Robert Wade, dass die USA und Großbritannien die UN mit Absicht aufs Abstellgleis geschoben hätten, weil der Westen im G20-Forum mehr Macht hatte. Das hört sich zunächst plausibel an. Aber wenn dem wirklich so wäre, warum hat der Westen dann nicht einfach die G8 einberufen als die Finanzkrise begann? Dort ist er unter sich.
Es gibt außerdem keinen Gegensatz UN – G20. Aldo Caliari, ein Forscher im eher globalisierungskritischen Projekt „Rethinking Bretton Woods“ hat festgestellt, dass die meisten Entscheidungen der G20 nicht umgesetzt werden können, wenn sie nicht auf der Tagesordnung jener Institutionen landen, die dafür sowieso zuständig ist.
Aber die Proteste zum Gipfel sind berechtigt
Sprich: Wenn die G20 beschließen, etwas gegen Steuerhinterziehung zu tun, wird die OECD tätig, ein Club der reichen Länder. Wenn die G20 sich ums Klima kümmern will, steigt die UN ein und so weiter. Im informellen Rahmen der G20 können die Staatschefs Probleme ansprechen, die in den starren und traditionellen Prozessen der anderen Organisationen untergehen würden.
Bestes Beispiel ist der aktuelle Gipfel: Angela Merkel will da den Klimaschutz zum Thema machen, weil Donald Trump mit den USA im Juni 2017 aus dem dafür sehr wichtigen Paris-Abkommen ausgestiegen ist. Deutschland hätte sich auch im Rahmen der UN darüber beschweren und das ansprechen können – aber es ist deutlich effektiver, das zu tun, wenn neben einem 18 andere Staaten sitzen, die für zwei Drittel der weltweiten CO2-Emissionen stehen und den Vertrag schützen wollen.
All das heißt natürlich nicht, dass die Proteste zum Gipfel nicht berechtigt wären. Jeder G20-Gipfel ist eine Bühne der Weltgesellschaft. Die muss genutzt werden. Und natürlich bleibt es eine dumme Idee, den G20-Gipfel 2017 direkt gegenüber Deutschlands linkestem Viertel anzusiedeln. Auch Schlafverbote für Demonstranten und Wasserwerfer-Einsätze gegen Biertrinker sind, zurückhaltend formuliert, nicht die brillantesten Ideen, die die deutsche Justiz und Polizei bisher hatte.
Aber die Proteste gegen den Gipfel selbst gehen in die Irre. Denn im Forum der G20 zeigt sich ein Glaube, den gerade auch Globalisierungskritiker mit Nachdruck vertreten: Eine andere Welt ist möglich. Wir können die Globalisierung bändigen.
Oder folge mir auf Twitter, um keinen meiner Artikel zu verpassen.
Beim Erarbeiten des Artikels hat Christian Gesellmann geholfen; gegengelesen hat ihn Vera Fröhlich; Martin Gommel hat das Aufmacherfoto ausgesucht.