Wir trauen uns in die No-go-Area, vor der Trump euch warnt
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Wir trauen uns in die No-go-Area, vor der Trump euch warnt

„Du kannst Rosengård verlassen – aber Rosengård wird Dich niemals verlassen“, sagt Fußballstar Zlatan Ibrahimovic. Das legendäre Großmaul ist in dem Problemviertel von Malmö aufgewachsen, das für Donald Trump ein Beispiel für gescheiterte Einwanderungspolitik ist. Ich habe Rosengård besucht – und muss den US-Präsidenten leider enttäuschen.

Profilbild von Reportage von Maciej Czarnecki

Polizeiblaulicht spiegelt sich in den Pfützen vor einem Hochhaus in Rosengård. Der Stadtteil ist das berüchtigte Problemviertel der südschwedischen Stadt Malmö. Hier ist Rekordtorschütze Zlatan Ibrahimovic aufgewachsen. Vor einer dieser Betonburgen blinken die Lichter der Einsatzwagen, aus den Hauseingängen und Fenstern spähen Menschen. Es gab wieder einen Mord.

„Das ist schon der sechste dieses Jahr. Der sechste“, sagt ein älterer Mann, der neben mir die Szene beobachtet. „Die Polizei sollte endlich etwas unternehmen“, meint er. Heute ist doch erst der 30. März.

Eine Stunde, bevor die Schüsse fielen, war ich in der Nachbarschaft des Tatorts unterwegs. Ich versuche mich an irgendetwas zu erinnern, das im Nachhinein ein Schlüssel für das sein könnte, was passiert ist. Verdächtige Typen. Ich sah nur junge Leute rumstehen und rauchen.

Am nächsten Tag berichtet die Lokalzeitung Sydsvenskan, dass sieben Verdächtige festgenommen worden sind. Das Opfer, ein 23-Jähriger, war polizeibekannt. Vor zwei Monaten soll er Zeuge eines Mordes geworden sein. Danach wurde er bedroht.

Eine Million günstige Wohnungen in Beton-Hochhäusern

In Rosengård trifft man so gut wie keine gebürtigen Schweden. Die größten Gruppen hier sind Iraker, Ex-Jugoslawen, Libanesen, Somalier. In einem Stadtbezirk mit rund 20.000 Einwohner leben Menschen aus mehr als 170 verschiedenen Nationen.

Rosengård ist in den 1960er-Jahren erbaut worden. Es war ein Teil des Programms „Eine Million“ der schwedischen Regierung. Eine Million günstige Wohnungen in Betonhochhäusern, die über Plätze, Geh- und Fahrradwege sowie Schulen und Einkaufszentren miteinander verbunden sind. Es sollten Treffpunkte für alle sein. Heute treffen sich hier nur die Menschen der ärmsten Bevölkerungsschicht.

Vor allem rechte Medien in Europa und den USA wie Russia Today oder Breitbart News und Fox haben prominent über Auseinandersetzungen zwischen multinationalen Straßengangs in Rosengård berichtet und von No-go-Areas gesprochen, von Schlachtfeldern, Scharia-Zonen, von Straßenzügen, in die sich kein gebürtiger Schwede mehr traue.

Als US-Präsident Donald Trump sich so legendär blamierte, als er mit seinem Spruch „Guckt Euch an, was letzte Nacht in Schweden passiert ist“ Angst vor Einwanderern schüren wollte, in Schweden aber gar nichts passiert war, soll er in der Nacht zuvor einen Fernsehbericht über Schwedens Problemviertel gesehen haben – Viertel wie Rosengård in Malmö oder Rinkeby in Stockholm.

In Rosengård treffe ich Gemila al Kuraishi. Sie lebt seit 1989 hier und arbeitet in einem Asyl-Center. Sie war fünf Jahre alt, als sie mit ihren Eltern aus Warschau kam. Ihr Vater stammte aus dem Irak, ihre Mutter aus Polen.

Wir gehen Im Viertel spazieren, vorbei an schmucklosen, gepflegten Fassaden, Bäumen, Fahrradständern, Mülltonnen, Blumenbeeten, an leicht kommunistischem Charme.

Einige Frauen tragen Kopftuch und knöchellange muslimische Kleider. Bei anderen Frauen ist das Haar offen und ihre Jeans sind hauteng. In Gesprächen wechseln die Sprachen oft zwischen Schwedisch und Arabisch hin und her.

„Wenn Malmö so schlimm ist – warum ziehen so viele Leute hier her?“

„Ich lebe seit 28 Jahren hier und ich bin noch nie ausgeraubt oder angegriffen worden. Ich liebe diesen Ort“, sagt Gemila und fragt: „Wenn Malmö so schlimm ist – warum ziehen dann so viele Leute hier her?“

Gemila wuchs mit verschiedenen Traditionen auf. Fast jede Woche gibt es irgendwas zu feiern: das chinesische Neujahrsfest, das iranische Nowruz, die christliche Weihnacht. Gemilas beste Freunde stammen aus Chile, Vietnam und China.

„Guck mal!“, ruft sie, als wir an einem Imbiss-Wagen vorbeilaufen, der unter einer Brücke geparkt ist. „Das war der erste Falafel-Stand der Stadt, hier sind wir immer hergekommen, wenn es in der Schule nicht geschmeckt hat.“

„Für uns war es normal, dass jeder anders ist. Ich weiß noch, wie Mitte der 90er-Jahre eine Menge neuer Kids in der Nachbarschaft auftauchten, quasi über Nacht. Das waren Balkanflüchtlinge. Ein einfaches Hallo genügte und wir fingen an, miteinander zu spielen.“

Ihre ersten Freundschaften mit Schweden knüpfte sie im Gymnasium. „Das ist ein wirkliches Problem, dieses Nebeneinander-her-leben mit den Schweden, die hier geboren wurden. Man lernt die Sprache nicht richtig, wenn man nur zu einem Kurs geht und aus Büchern lernt. Man braucht echte Kontakte.“ Ihren Sohn schickt Gemila deshalb auf eine Schule in einem anderen Stadtteil. Und zu einem Fußballverein in einem dritten Stadtteil.

Die Bürger wehren sich gegen die Gewalt der Gangs

„Zlatan hat hier gewohnt“, sagt Gemila und zeigt auf einen Wohnblock. „Seine Mom stand dort oft am Fenster und hat ihn zum Abendessen gerufen. Aber der Junge wollte immer lieber weiter den Ball rumkicken.“ Zlatan Ibrahimovic ist der Star der schwedischen Nationalmannschaft, er spielte für den FC Barcelona und Inter Mailand. In Rosengård ist er eine Legende.

Vor einigen Jahren ließ er hier (finanziell unterstützt von Nike und einem kommunalen Unternehmen) den „Zlatan Court“ errichten, einen Fußballkäfig mit Betonboden und Metalltoren. „Du kannst Rosengård verlassen – aber Rosengård wird dich niemals verlassen“, steht in großen Lettern an einer nahegelegenen Brücke. Ein Zlatan-Zitat, das so etwas wie das Motto des Stadtteils geworden ist.

Die Brücke mit dem Zlatan-Zitat

Die Brücke mit dem Zlatan-Zitat Foto: Wikimedia (gemeinfrei)

Wir laufen an einer weiteren Brücke vorbei. Dort steht: „Your home is where your heart is.“ Daneben ein Gedenkstein mit Blumen und Kerzen. Hier fand einer der Morde in diesem Jahr statt.

Ahmed, ein 16-Jähriger, wurde mit sechs Kugeln aus nächster Nähe in den Rücken geschossen. Am nächsten Tag gingen die Menschen auf die Straßen, um zu trauern und gegen Gewalt zu demonstrieren.

In einem Büro in einem Keller treffe ich mich mit Housam Abbas. Er ist der Cousin des getöteten Ahmed. „Er war ein guter Junge, hatte gute Noten in der Schule, viele Freunde. Er wollte Arzt werden“, sagt Housam. Bis jetzt gebe es keine Erklärung für den Mord, kein Motiv.

Ahmed kam mit weiteren Familienmitgliedern 2009 als Flüchtling aus dem Irak, über die gleiche Route, die Housam bereits ein paar Jahre zuvor gewählt hatte. Er ist Ingenieur und arbeitet ehrenamtlich in einem Sozialzentrum mit Jugendlichen.

Der Cousin fordert Gefängnisstrafe auch für unter 15-Jährige

„Viele Menschen reagierten sehr emotional auf Ahmeds Tod, weil er keiner Gang angehörte“, sagt Housam. Bis zu diesem Mord stammten die Opfer so gut wie immer aus den Reihen sich bekriegender krimineller Banden.

„Ich habe Angst, dass wieder etwas passiert. Vor Kurzem wurde jemand kaum 50 Meter entfernt vom Kindergarten meiner Tochter ermordet. Meine Frau hatte eine Panikattacke, ich wusste nicht, wie ich sie beruhigen kann“, sagt Housam.

Sie beantragten, Sicherheitskameras auf ihrer Straße zu installieren. Das genehmigte die lokale Polizeibehörde aber nicht.

Gemeinsam mit der Schwester eines anderen ermordeten Jugendlichen und weiteren Aktivisten war Houmas vor kurzer Zeit zu Gast im Justizministerium in Stockholm. Dort forderte er unter anderem, dass auch Haftstrafen für Jugendliche unter 15 Jahren zulässig werden sollen.

„Diese Teenager wissen ganz genau, dass ihnen der Staat nichts kann. Ein 13-Jähriger sagt kürzlich zu mir: ‘Brauchst du eine Waffe? Ich besorg dir eine, kostet dich 3.000 Kronen.’“

Ich treffe Anders Wiberg, den stellvertretenden Leiter der Polizei in Malmö, am 30. März – nur wenige Stunden vor dem sechsten Rosengård-Mord des Jahres. Er sagt, die Mehrzahl der Straftaten hier werde von einer Gruppe junger Männer zwischen 15 und 25 Jahren begangen, sogenannten Intensivtätern, und aus ihren Reihen stammten in der Regel auch die Opfer der Gewaltverbrechen. „Rund 1.700 Urteile in Strafverfahren verteilen sich auf 205 Leute. Wir sprechen hier nicht wirklich von Gangs, eher von lose verbundenen lokalen kriminellen Gruppen“, sagt Wiberg.

Ich erwähne, dass ich in den paar Tagen, die ich bisher in Rosengård verbracht habe, keinen einzigen Streifenwagen der Polizei gesehen habe.

Es gibt eine „allgemeine Zurückhaltung, die schwedische Rechtsprechung anzuerkennen“

„Ich versichere Ihnen, dass wir präsent sind. Wir sind dann sichtbar, wenn es notwendig ist“, sagt Wiberg. No-go-Areas gebe es in Schweden nicht, nur in den Berichten ausländischer Medien. Dennoch gebe es Gebiete, in denen „parallele soziale Strukturen“ entstanden seien; in denen zum Beispiel mit geschmuggelten oder gefälschten Waren wie Alkohol und Zigaretten gehandelt wird; in denen es ein System informeller finanzieller Verflechtungen zwischen Anwohnern gebe; in denen lokale Autoritäten bei Streitigkeiten schlichten und in denen die Familien Verhafteter aus Gemeinschaftskassen krimineller Gruppen unterstützt werden. Insgesamt 15 solcher Zonen identifiziert ein Polizeibericht für ganz Schweden, Rosengård ist eine davon.

Hier gebe es eine „allgemeine Zurückhaltung, die schwedische Rechtsprechung anzuerkennen“ und eine Neigung zu religiösem Extremismus, die die Polizeiarbeit schwierig machen, heißt es im Polizeibericht.

Aber Wiberg ist überzeugt, dass die Polizei die Lage in den Griff bekommt. „Wir arbeiten gemeinsam mit der Politik. Bald tritt ein neues Gesetz in Kraft: Ab dann geht jeder, den wir mit einer Waffe erwischen, direkt ins Gefängnis.“

Foto: Flickr / Ulf Liljankoski

Gemilas Schwester Paulina arbeitete fünf Jahre in einem Krankenhaus in Malmö. „Es gab jedes Jahr ein paar junge Männer, die mit Schussverletzungen eingeliefert wurden“, erinnert sie sich. Wenn diese Jungs Besuch von ihren Freunden und Familien bekamen, habe die Station oft Kopf gestanden. „Aber ich habe ihnen beigebracht, sich zu benehmen, mit Disziplin und mit Liebe. Vielleicht ist es das, was ihnen fehlt. In Schweden kümmert man sich oft nur um sich selbst.“

Ich frage Pauline, ob sie denn keine Angst hat, wenn sie solchen Jugendlichen über den Mund fährt. „Nein, nie. Und ich bin schon oft auf der Straße angesprochen worden: ‘Hey, du bist doch die Krankenschwester! Kennst du mich noch? Du hast mich mal rausgeschmissen, weil ich zu laut war.’“

„Ich sah durchs Schlüsselloch und sah einen schwarzen Mann“

Trotzdem hat sie sich auch schon verunsichern lassen. “Einmal hatte ich Besuch von einem Freund aus Stockholm. Er war halb panisch wegen all der Zeitungsberichte, die er über Rosengård kannte. Abends klopfte es an meine Tür. Es war schon nach 22 Uhr, ich erwartete niemanden, schaute durchs Schlüsselloch und sah einen schwarzen Mann.

Mein Freund hatte mich inzwischen so nervös gemacht, dass ich mich nicht traute, die Tür zu öffnen. Eine halbe Stunde später klopfte es wieder. Wir taten so, als wären wir nicht da. Am nächsten Tag stellte sich heraus, dass ich meinen Schlüssel außen an der Tür steckengelassen hatte. Ein Nachbar hatte ihn zur Polizei gebracht.”

Finnur Sverrisson ist vor 15 Jahren aus Reykjavik nach Malmö gezogen. Der studierte Kinderpädagoge hat das Projekt „Little Big Malmö“ gestartet. „193 Länder haben einen Repräsentanten bei den Vereinten Nationen. Als ich erfuhr, dass in Malmö Menschen aus 170 Ländern leben, ähnlich wie in Weltmetropolen wie New York und London, dachte ich: Es wäre doch cool, wenn wir tatsächlich alle Länder bei uns vertreten hätten. Malmö, eine globale Stadt im wahrsten Sinne des Wortes.“

Das Projekt „Little Big Malmö“ versucht nun, Menschen aus den Ländern, die noch fehlen, wie Tonga, Kiribati oder Andorra, den Umzug nach Malmö schmackhaft zu machen. Geboten werden Flugtickets, Miethilfe, sogar ein Fahrrad.

Einzige Bedingung ist, dass der Anwärter einen Job finden muss. Drei Menschen konnte Sverrisson auf diesem Weg schon nach Malmö locken. Die neuen Einwohner stammen aus Bhutan, von den Malediven und der Karibikinsel St. Vincent.

Die Kriminalitätsrate in Schweden ist niedriger als in den 1980er-Jahren

„In der ersten Woche haben wir 400 Bewerbungen erhalten. Das überrascht mich nicht. Es ist eine tolle Stadt zum Leben und Kinder großziehen. Es gibt großartige Möglichkeiten, viele internationale Unternehmen, aber auch kleine Start-ups. Es ist eine grüne Stadt und mit dem Zug sind es nur 25 Minuten bis nach Kopenhagen.“

Früher habe er den Trip in die nahe dänische Hauptstadt öfter unternommen, vor allem wegen des Nachtlebens. „Aber mittlerweile kann man auch in Malmö ganz gut ausgehen.“

Professor Jerzy Sarnecki, Kriminologe an der Universität Stockholm, erklärt mir, dass die Kriminalitätsrate in Schweden insgesamt niedriger sei als in den 1980er-Jahren, als es wesentlich weniger Migranten gab.

Ja, Migranten tauchen häufiger in den Kriminalstatistiken auf, aber die Überrepräsentation verschwindet, wenn man genauer betrachtet, aus welchen Stadtteilen die Straftäter stammen. „Wenn wir gebürtige Schweden und Migranten vergleichen, die unter den gleichen sozialen und ökonomischen Bedingungen aufgewachsen sind, gibt es so gut wie keine Differenz. Einwanderer gehören häufig zu den Ärmsten der Bevölkerung. Die Ärmsten leben häufig in den preislich günstigsten Wohngegenden. Die günstigsten Wohngegenden sind häufig die mit der höchsten Kriminalitätsrate“, sagt Sarnecki.

Geben wir das letzte Wort Zlatan Ibrahimovic, der Rosengård-Legende, die einmal über sich selbst sagte: „Zlatan ist auch nur ein Mensch. So wie ein weißer Hai auch nur ein Fisch ist.“


Dieser Artikel von Maciej Czarnecki ist zunächst auf Polnisch und auf Englisch in der Gazeta Wyborcza erschienen. Übersetzt hat ihn Christian Gesellmann; Vera Fröhlich hat ihn gegengelesen; Martin Gommel hat das Aufmacherbild ausgesucht: Wikimedia / CC-BY-SA-3.0