Der Mann, den zu hassen sie lieben
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Der Mann, den zu hassen sie lieben

Jeremy Corbyn hat sich nicht groß verändert. Er galt schon immer als Rebell, auch innerhalb der Labour-Partei. Aber seine Ideen sind plötzlich für die Briten akzeptabel geworden. Bei einem Picknick im Hyde Park erfuhr ich, wieso Corbyn bei der Wahl gewinnt, selbst wenn er nicht Premier wird.

Profilbild von Charlotte Dorneich

Hyde Park, Sommer und – ausnahmsweise – Sonne: perfekte Voraussetzungen für ein Picknick. Ich habe mit meiner Familie fünf Jahre in England gewohnt und wir versuchen, so oft wie möglich unsere englischen Freunde wiederzusehen. Diesmal sind wir zusammen im Hyde Park, essen Sandwiches unter den ausladenden Platanen, fahren Boot und unterhalten uns. Und wie so oft dauert es nicht lang, bis wir auf Politik und damit die Wahlen in Großbritannien zu sprechen kommen.

„Jeremy hat sich ganz schön verändert“, sagt ein Freund, der zu allem eine Meinung hat. Der Kommunist sei kaum wiederzukennen. Das ruft Protest von einem langjährigen Labour-Wähler hervor: „Corbyn war doch noch nie ein Extremist!“, empört er sich.

Viele wissen nicht, was sie von Corbyn, dem 68-jährigen, umstrittenen Labour-Spitzenkandidaten und Oppositionsführer, halten sollen. Durch den Wahlkampf ist das Verhältnis der Briten zu ihm aber noch komplexer geworden. Wer ist dieser Mann, der als totaler Außenseiter nun im Zentrum der politischen Debatte in Großbritannien steht? Corbyns Aufstieg zeigt, wie sich die politische Gesellschaft in dem Inselstaat seit dem Brexit-Referendum vor knapp einem Jahr verändert hat.

Die Parteibasis verehrt ihn, die eigenen Abgeordneten mögen ihn nicht

Als Parteivorsitzender hat Jeremy Corbyn es nicht leicht gehabt. Als er 2015 in einer Urabstimmung gewählt wurde, hatte die Labour Party gerade die zweite große Wahlniederlage hinter sich. David Cameron war zum zweiten Mal Premierminister geworden, und Labour hatte erneut Sitze im Unterhaus eingebüßt.

Nach den 13 Jahren Labour-Regierung mit den unglücklichen Premierministern Tony Blair und Gordon Brown hatte die Partei an Profil verloren. Corbyn erschien vielen wie ein Heilsbringer, er löste einen ähnlichen Hype aus wie Martin Schulz bei der SPD in Deutschland Anfang dieses Jahres. Doch nur ein Jahr nach seiner Wahl hatte er bereits ein Misstrauensvotum am Hals. Die Kritik: ein lascher Brexit-Wahlkampf. Besonders als er mitten in der Kampagne in den Urlaub ging, geriet er unter Beschuss.

Fast drei Viertel seines Schattenkabinettes traten zurück, und die Abgeordneten hielten ein parteiinternes Misstrauensvotum ab. 172 Labour-Abgeordnete stimmten gegen ihn, nur 40 für ihn. Corbyn aber erklärte dieses Votum für unzulässig, wandte sich an die Parteibasis und stellte sich erneut zur Wahl. Zur Verzweiflung seiner Abgeordneten behielt er den Posten mit 61,8 Prozent der Stimmen.

Diese Episode zeigt das gespaltene Verhältnis von Corbyn zu seiner Partei: Während die Basis ihn bestärkt – die Mitgliederzahl stieg in den ersten Monaten nach seiner Wahl um fast 90 Prozent –, stehen die Labour-Abgeordneten nicht hinter ihm. Auch in der Öffentlichkeit galt Corbyn weiterhin als hoffnungsloser Fall und jede Wahl von vornherein als verloren.

Corbyn als Abschreckung funktionierte nicht

Neulich habe ich ein Interview mit Emma Thompson gesehen, die ich sowohl als Schauspielerin als auch als Person sehr schätze. Die Journalistin fragte todernst: „Glauben Sie, dass Labour mit Jeremy Corbyn an die Macht kommen könnte?“ Emma Thompson zögerte erst, dann schaute sie die Journalistin an und sagte mit einem Strahlen im Gesicht: „Yeah!“ Noch im April hätte man diese Aussage für verrückt gehalten. Aber seitdem hat sich viel verändert.

Dass Labour seit der Ankündigung einer vorgezogenen Wahl im April den Vorsprung der Conservative Party immer mehr abgebaut hat, kam als eine Überraschung. Die Wahl, die eigentlich dazu gedacht war, Theresa Mays Vorsprung auszubauen und das Vertrauen des Volkes in messbaren Zahlen zu zeigen, ist für May eindeutig nach hinten losgegangen, so viel steht schon vor dem Wahlergebnis fest.

Corbyn als Premierminister taugte nicht als das Schreckensbild, auf das sich Mays Kampagne stützen kann. Stattdessen ist die Zahl der Menschen, die Corbyn „sehr mögen“, laut Meinungsforschungsinstitut YouGov seit der Ankündigung der Wahl auf 50 Prozent gestiegen und die Zahl der Menschen, die ihn „überhaupt gar nicht mögen“, auf 20 Prozent gefallen. Durch seine Kampagne konnten die Briten Corbyn kennenlernen, und offensichtlich hat er keinen allzu schlechten Eindruck gemacht.

Auch innerhalb der Partei galt Corbyn schon immer als Rebell

Schon von seinen Eltern wurden Jeremy Corbyn politische Werte vermittelt: Naomi und David Corbyn lernten sich bei einem Treffen der Friedensbewegung kennen. Die politische Aktivität und das Gegen-den-Strom-Schwimmen sollten Corbyn sein ganzes Leben prägen. Schon als Schüler trat er der „Campaign for Nuclear Disarmament“ bei.

Sein Studium der Gewerkschaftswissenschaften brach er ab, weil er sich mit den Lehrern über den Lehrplan stritt. Bei einer Demonstration gegen Apartheid wurde er in Südafrika verhaftet. Als er für die Labour Party ins Unterhaus gewählt wurde, war er dafür bekannt, sich über die Fraktionsdisziplin hinwegzusetzen, was ihm mehrmals den Titel des „Rebellischsten Labour-Abgeordneten“ einbrachte. Bis heute zählen sozialer Ausgleich und nukleare Abrüstung zu seinen Themen.

Jeremy Corbyn hat sich nicht groß verändert. Aber seine Ideen sind plötzlich für die Briten akzeptabel geworden. Während man vor einem Jahr noch zittern musste, dass der nächste Wahlkampf in Großbritannien von der rechtspopulistischen UKIP bestimmt werden würde, ist die britische Politik mit Jeremy Corbyn wieder eindeutig nach links gerutscht.

Corbyn profitierte von Theresa Mays Fehlern

Zusätzlich haben grobe Fehler Mays die Umfrageergebnisse beeinflusst. Als zum Beispiel das Vorhaben (das im Wahlprogramm festgeschrieben war), Senioren mehr für soziale Dienste zahlen zu lassen, auf Proteste stieß, behauptete May kurzerhand, es sei schon immer klar gewesen, dass es eine Obergrenze für die Beiträge von Senioren geben würde. Diese plötzliche Kehrtwende war wenig überzeugend und führte den Wahlspruch „strong and stable leadership“ ad absurdum.

Außerdem muss man bedenken, wo die beiden Kandidaten jeweils angefangen haben. Die Erwartungen der Öffentlichkeit an Corbyn hätten kaum tiefer sein können, während von May erwartet wurde, dass sie ihre ohnehin guten Zahlen noch steigern würde.

Anders gesagt: Corbyn konnte gar nicht enttäuschen, während bei May ordentlich Luft nach unten war. Die erstaunlich guten Umfrageergebnisse der Labour Party sind also nicht allein auf Jeremy Corbyn zurückzuführen.

Aber langsam: Auch in den optimistischsten Umfragen hat die Labour Party die Conservatives nicht überholt. Es stellt sich also die Frage: Warum die große Aufregung, wenn Theresa Mays Partei aller Wahrscheinlichkeit nach am Freitag immer noch stärkste Partei sein wird?

May kann nur verlieren – Corbyn nur gewinnen

Auch wenn Theresa May Premierministerin bleibt, wird sich was verändert haben, sowohl für Corbyn als auch für May. Corbyn kann mit einem sichereren Gefühl an die Arbeit gehen: Nach diesem Gewinn an Stimmen werden ihn seine stärker in der Mitte liegenden Parteikollegen nicht so schnell abwählen können.

May wird mit einem angekratzten Selbstvertrauen davonkommen. Sie wird dazugelernt haben, dass nichts in der Politik selbstverständlich ist, auch nicht ein Vorsprung von 19 Punkten. Sie wird auch, bleibt der anfangs erhoffte „landslide“ aus, mit mehr Opposition zu ihrem „harten-Brexit“-Programm rechnen müssen, sowohl von einer gestärkten Labour Party, als auch von innerhalb ihrer eigenen Partei.

Zurück in den Hyde Park: Nach langer Diskussion einigen sich meine englischen Freunde darauf, dass Corbyn der linkeste Labour-Kandidat seit Langem ist. Auch wenn man sich über die Vergangenheit nicht ganz einig ist, sind wir uns doch einer Meinung, dass Corbyns Wahlkampf überrascht hat. Corbyn ist für viele eine durchaus wählbare Alternative zu May, ihrem ‘harten Brexit’ und ihrer chaotischen Wahlkampagne geworden. Und sollte Jeremy Corbyn tatsächlich Premierminister werden, dann wäre es eine Kehrtwende, wie sie inzwischen in Großbritannien fast zur Normalität geworden ist.


Christian Gesellmann hat beim Erarbeiten des Textes geholfen; Vera Fröhlich hat ihn gegengelesen; Aufmacherbild: flickr / Garry Knight