Der Wahlsonntag ist für Matthias Jung der Tag der Wahrheit. Dann zeigt sich, ob das Instrumentarium des Mister Wahlen im ZDF richtig kalibriert ist und er wieder einmal – wie bei der Wahl in Nordrhein-Westfalen – die beste Umfrage geliefert hat. Doch bis dahin herrscht Anspannung und die Angst, auf der falschen Seite der Fünf-Prozent-Hürde zu landen. Das Interview mit dem Wahlforscher ist Teil des Zusammenhangs „Die Macht der Umfragen“, der bis zur Bundestagswahl die Rolle der Demoskopie in unserer Demokratie beleuchtet.
Wenn ich mich in meinem Freundeskreis umhöre, dann hat Ihr Job durch Brexit und Trump ein echtes Imageproblem. Woher kommen diese Fehler? Lässt sich heute die politische Stimmung schwieriger messen als früher?
Nein, die politische Stimmung war früher schon schwierig zu messen. Dass sich das nicht so arg verschlimmert hat, kann man ja daran sehen, dass die Ergebnisse, die wir drei oder vier Tage vor einem Wahltermin in der Umfrage ermitteln, doch durchaus eine Ähnlichkeit mit dem Wahlergebnis haben. Das ist früher sicherlich nicht besser gewesen, eher im Gegenteil.
Okay, aber wer macht dann den schlechteren Job: Wir als Journalisten, die über Umfragen berichten, oder die Meinungsforscher, die Umfragen erstellen?
Wie immer im Leben muss man das differenziert sehen. Es gibt in allen Bereichen welche, die ihre Sache besser und schlechter machen. Aber es gibt strukturelle Veränderungen in den Medien. Wir haben heute immer kürzere Meldungen und kommunizieren sehr viel über die Agenturen. Mit Copy-and-paste werden immer häufiger nur Teile aus Pressemeldungen rausgeschnitten und methodische Relativierungen werden nicht mit abgedruckt.
Dann bitte: Sie haben einen Wunsch an die Medien oder Journalisten frei. Was darf es sein?
Dass der Charakter der Umfrage präziser dargestellt wird. Es handelt sich nicht um eine Prognose des zukünftigen Wahlverhaltens. Das wäre schlicht und ergreifend eine unseriöse Anmaßung. Wir können ja immer nur ein Bild der politischen Lage zum Zeitpunkt der Durchführung der Umfrage ermitteln. Zwischen dieser Feldzeit der Umfrage und der Wahl liegen selbst im besten Fall ein paar Tage des Schlusswahlkampfs. Viele, die sich erst spät festlegen oder mehrere Optionen haben, entscheiden sich da.
Und wenn der Abstand zwischen Befragung und Wahl noch größer ist?
Dann findet natürlich noch Politik statt oder Ereignisse kommen dazwischen. Denken Sie an die Elbe-Flut 2002, die statt einem sicher geglaubten Bundeskanzler Stoiber noch ein ganz anderes Ergebnis hervorgebracht hat. Und natürlich sind die Bindungen der Wählerinnen und Wähler an die Parteien wesentlich lockerer als wir das vor 20, 30 Jahren noch beobachten konnten. Damals hatten wir eine stärker ideologisierte Welt mit der antikommunistischen Bindung, der religiösen Orientierung oder der Gewerkschaftsnähe.
Hat diese Bindungslosigkeit dann wiederum auch die Politik beeinflusst?
Die Parteien haben programmatisch darauf reagiert und sind alle stärker in die Mitte gerückt, so dass es auch für den einzelnen Wähler viel leichter geworden ist, von der einen Partei zur anderen Partei zu switchen. Deshalb können kurzfristig die Schwankungen in schnellen Abständen auch immer heftiger ausfallen.
Sie arbeiten seit 1987 für der Forschungsgruppe Wahlen, sie machen das schon lange. Hat ihr Beruf als Demoskop Ihren Blick auf die Performance von Politikern verändert?
Meine Erfahrung mit Politikern unterschiedlicher Couleur ab einem bestimmten Niveau ist eigentlich, dass die wesentlich weniger abhängig auf Meinungsumfragen reagieren, als es gerne im journalistischen Bereich vermutet wird. Ich sag mal, ein Gerhard Schröder, eine Angela Merkel oder auch einzelne Ministerpräsidenten, die haben so viel eigene Meinung, das sind solche Schwergewichte, dass sie niemals auf die Idee kämen, eine bestimmte Politik zu machen, nur weil eine Meinungsumfrage dafür eine Mehrheit liefert. Wenn sie so wendige Gestalten wären, wären sie in ihrem Geschäft mit Sicherheit nicht so weit gekommen.
Mit Ihrer letzten Umfrage vor der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen lagen Sie sehr nah am letztlichen Wahlergebnis, obwohl da noch mehr als ein Drittel der Wähler in ihrer Entscheidung unsicher war. Macht Sie das stolz?
Es gibt ja eine kontinuierliche Justierung des Instrumentariums. Durch den Vergleich von zeitlich nahe zum Wahltag gelegenen Umfragen mit dem Wahlergebnis gewinnen wir Erfahrungen, die zu Veränderungen bei den Gewichtungsfaktoren führen können. Ein gutes Beispiel dafür war die Dreifachwahl im März 2016 in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt. Mit den Erfahrungswerten, die wir bei der AfD damals benutzt hatten, lagen wir ein Stück weit daneben. Wir haben nicht richtig eingeschätzt, dass aus Sicht der Bevölkerung durch die 2015 erfolgte Spaltung der AfD eine radikalere Partei mit entsprechend höherer Verschweigequote entstanden war. Wir mussten deshalb die Dunkelziffern anpassen auf ein Niveau, das wir auch bei extremeren Parteien wie der NPD oder den Republikanern in der Vergangenheit verwendet haben. Seit wir dies geändert haben, sind wir bei den fünf Wahlen danach im Hinblick auf die AfD-Ergebnisse sehr gut gefahren.
Ist es denn für die Meinungsforschung gleich schwierig, den Aufstieg der AfD oder den von anderen Parteien wie beispielsweise den Piraten zu messen?
Zu einem Großteil ist es das gleiche Phänomen. Wir haben natürlich einen harten Kern von Wählern, die ideologisch an eine bestimmte Programmatik gebunden sind. Aber nicht nur internetaffine Wählerinnen und Wähler haben zum Beispiel den Piraten 2011 und 2012 zu den guten Ergebnissen verholfen, sondern unzufriedene Wähler haben die Piraten als Protestplattform genutzt, um ihre Unzufriedenheit auszudrücken.
Damit ist es die gleiche Klientel, die die Linke im Osten so stark gemacht hatte, die Statt-Partei in Hamburg, die Republikaner oder jetzt halt die AfD. Wenn eine solche Partei die Protestwähler kanalisieren kann, dann zeigt sich immer ein vergleichbares Muster. Besonders intensiv reagieren da zum Beispiel die jungen und mittelalten Männer. Das geht auch oft mit einer Zunahme der Wahlbeteiligung einher. Um das richtig einzuschätzen, darf man sich für die Masse der Protestwähler nicht zu stark an den Inhalten der jeweiligen Parteien orientieren.
Die Forschungsgruppe Wahlen ist mit Ihrem transparenten Gewichtungsmodell die löbliche Ausnahme. Das veröffentlicht außer Ihnen niemand oder zumindest niemand so ausgiebig wie Sie. Manchmal hat man das Gefühl, die Gewichtung der Rohdaten funktioniert sonst eher nach dem Prinzip „Pi mal Daumen”. Geht Ihnen das auch so?
Alle Institute gewichten und müssen das auch machen, da man nur mit einer entsprechenden Gewichtung zu realistischen Größenordnungen kommt. Wir wissen natürlich zum Beispiel bei der AfD, dass es da eine Verweigerung der Teilnahme an Umfragen gibt, weil wir zur Lügenpresse gerechnet werden, weil wegen sozialer Erwünschtheit sich manche Leute nicht trauen, sich zu einer Partei mit radikaleren Ansichten zu bekennen. Wenn wir diese Gewichtung nicht vornehmen würden, würden wir explizite Irreführung der Bevölkerung betreiben. Dann würden wir ja wider besseren Wissens den höheren Wert für die AfD nicht publizieren.
Welche anderen Parteien müssen noch für die Projektion rauf oder runter gewichtet werden?
In der Regel haben wir auch eine leichte Überschätzung bei den Grünen, weil wir da eine zu große Bekenntnisbereitschaft haben.
Haben Sie als Demoskop manchmal Angst, völlig daneben zu liegen?
Jeder, der professionell arbeitet, sollte keine Angst haben müssen. Ich habe jetzt schon über 100 Wahlen hinter mir und natürlich gibt es da immer auch große Unsicherheit. Wenn wir zum Beispiel so eine Situation haben wie beim Wahlsonntag in Nordrhein-Westfalen, bei der die Umfrage am Wahltag ein Ergebnis lieferte von 4,8 Prozent für Die Linke, dann hat man eine schwierige Entscheidung zu treffen. Man weiß um die statistischen Fehlerbereiche und muss sich für die ZDF-Prognose um 18 Uhr festlegen: 4,9 oder 5,0 Prozent. Wir haben uns für 5,0 entschieden und gesagt, das ist auf der Kippe. Aber in dem Zehntelbereich kann natürlich kein Mensch mit einem zufallsbasierten, statistischen Verfahren eine zwingende und unwiderrufliche Präzision schaffen. Deshalb hat man da dann eine gewisse Beklemmung und es ist ein Punkt, wo man sehr, sehr genau hinguckt. Man hofft, dass es dann irgendwie so aufgeht, wie man es um 18 Uhr festgezurrt hatte.
Am Wahlsonntag um 18 Uhr: Wie schaffen Sie es da schon Ergebnisse im Fernsehen zu präsentieren?
Wir machen Exit Polls. Das heißt, vor Wahllokalen in zufällig ausgewählten Stimmbezirken sind Interviewer positioniert und befragen die Menschen über ihr gerade getätigtes Wahlverhalten. Bei den telefonischen Umfragen im Vorfeld der Wahl fragen wir ja nach einer Wahlabsicht. Bei Exit Polls fragen wir ja nach dem gerade getätigten Wahlverhalten. Daher ist die Unsicherheit über die Entscheidung kein Thema. Das, was man vor einer Minute tatsächlich gemacht hat, weiß man da ja noch. Auch wegen der sehr viel größeren Stichprobe kommen wir dabei zu einem wesentlich präziseren Ergebnis. Das nennen wir dann auch als einziges „Prognose“. Sonst wehren wir uns ja ganz entschieden und zurecht gegen diesen Begriff.
Bei all dem Demoskopen-Bashing: Machen Sie Ihren Job noch gerne, wenn man so durch den Kakao gezogen wird?
Das mag natürlich keiner, aber es ist ja auch kein neues Phänomen. Seit längerem wird im ganzen Mediengeschäft alles ein bisschen reißerischer. Also auch das Bashing der Demoskopen wird immer heftiger und man muss halt auch ein bisschen etwas dagegensetzen und dann auch mal ein bisschen entschiedener widersprechen. Bei der Saarlandwahl haben wir als einziges Institut einen deutlichen Vorsprung der CDU vor der SPD gesehen. Aber wenn dann am Montag nach der Wahl mehr oder minder in allen Medien davon die Rede ist, dass die Demoskopen alle ein Kopf-an-Kopf-Rennen hatten, da wird man dann einfach in einen Topf geworfen, obwohl man ein paar Tage vorher noch stark in der Kritik stand, weil man eine abweichende Tendenz vermeldet hatte. Das macht natürlich keinen Spaß, dagegen muss man sich wehren. Aber auch das gehört zum Geschäft.
Wie die Umfragen stehen:
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Mit diesem Interview habe ich versucht, ein klein wenig Licht ins Dunkel der Wahlumfragen zu bringen. Ob mir das gelungen ist, musst Du entscheiden. Teile den Artikel mit Freunden, wenn Du glaubst, dass es wichtig ist zu beleuchten, wieso die Macht der Meinungsforscher nie größer war aber gleichzeitig ihr Ruf so schlecht ist.
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Dein Dominik Wurnig
Christian Fahrenbach hat beim Erarbeiten des Textes geholfen; gegengelesen hat ihn Vera Fröhlich; das Aufmacher-Bild hat Martin Gommel herausgesucht (istock /MACIEJ NOSKOWSKI).