„Meinungsforscher können einpacken“, „Wie die Meinungsforscher versagten“ oder zuletzt „Meinungsforscher lagen bei Saarwahl schon wieder daneben“ – alles Überschriften, die in den vergangenen zwölf Monaten in verschiedenen Medien erschienen sind.
Die Sache scheint klar: Egal, ob in den USA, Großbritannien oder Österreich, bei der Bundestagswahl 2013 oder bei Landtagswahlen wie der im Saarland: Meinungsforscher scheinen den Draht zum Wahlvolk verloren zu haben. Ihnen kann man nicht mehr vertrauen, so der Volksmund. Gleichzeitig waren Umfragen noch nie so wichtig wie heute.
Denn bei jeder Wahl kann man ein wiederkehrendes Szenario beobachten: Vor dem Tag der Entscheidung werden Umfragen als Tatsachen präsentiert, um am Tag danach die Schuldigen zu suchen, weil die Prognosen nicht eingetroffen sind wie erwartet.
Dabei sind Zeiten politischer Umbrüche für Meinungsforscher besonders schwer. Während ältere Generationen viel stärker entlang ihrer Klasse wählten und Parteien die Treue hielten, steigt die Zahl der Wechselwähler zunehmend. Dazu kommt in vielen westlichen Ländern eine ausgesprochene Unzufriedenheit mit den Großparteien der Nachkriegsära.
Kritik begleitet die Meinungsforschung schon immer
Für die Wahlforscher sind neue Parteien wie die AfD in Deutschland, UKIP in Großbritannien, aber auch Shooting-Stars wie Emmanuel Macron in Frankreich besonders schwierig einzuschätzen. „Wenn sich die Dynamik verändert, können wir uns so lange nicht sicher sein, bis wir unser Modell in einer richtigen Schlacht – für uns eine Wahl – getestet haben“, sagt Ben Page, Chef des britischen Meinungsforschungsunternehmens Ipso MORI.
Seit Erfindung der politischen Meinungsforschung in den 1930er Jahren gibt es Kritik an ihr. „Der Schwerpunkt der Kritik hat sich im Laufe der Zeit von der Manipulation der Parteien auf die Nutzung der Meinungsforschung durch die Medien verschoben“, schreibt Torsten Faas, Politikforscher an der Universität Mainz. „Das durchgängige Motiv bildet die Sorge um die Funktionsfähigkeit der Demokratie.“ Bereits 1992 warnte der frühere Bundespräsident Richard von Weizsäcker, wir lebten in einer „Demoskopiedemokratie“.
Die Bedeutung von Wahlumfragen spitzt sich in der Zeit vor einer Bundestagswahl zu. Laut Faas steigt die Wahrnehmung von Wahlumfragen in der Wahlkampfzeit rasant an. In der Woche vor der Parlamentswahl 2013 beispielsweise hatten fast 70 Prozent der Befragten Umfragen gesehen oder davon gehört (siehe Abbildung). Man kann davon ausgehen, dass auch bei der Bundestagswahl 2017 der Wert nochmals steigen wird.
Umfragen verändern die Entscheidungen von Politikern und Wählern
Wie stark Wahlumfragen tatsächlich auf das Ergebnis Einfluss nehmen können, darüber streiten Politikwissenschaftler und Meinungsforscher. Es gibt gegenläufige Thesen, die einerseits besagen, Wähler tendierten an der Urne eher zum Underdog-Kandidaten, anderseits doch eher zum wahrscheinlichen Sieger. Unbestritten aber ist: Umfragen lassen Wähler nicht kalt – und Politiker, deren Karrieren bei Wahlen auf dem Spiel stehen, umso weniger. Deshalb nun drei Beispiele dafür, welche Bedeutung Umfragen haben:
Erstens: Die Kanzlerin lässt die Gemütslage der Bürger erforschen
Frisch im Amt sagte Angela Merkel noch im August 2006: „Ich tue das, was ich für richtig und wichtig halte. Sich nach Umfragen zu richten, wäre vollkommen falsch.“ Recherchen des Magazins Der Spiegel zeigen allerdings, dass die Bundeskanzlerin sich mittlerweile nicht mehr an ihr eigenes Credo hält. Zwischen 2009 und 2013 – neuere Informationen sind nicht bekannt – gab Merkel über das Bundespresseamt rund 600 Umfragen in Auftrag. Durchschnittlich drei Umfragen pro Woche kosten die Steuerzahler jährlich rund 2 Millionen Euro.
„Niemand ist über die Gemütslage der Bürger, über ihre Ängste und Hoffnungen besser informiert als Angela Merkel“, schreiben die Spiegel-Autoren. Doch dieses Wissen will das Kanzleramt nicht teilen: Weder die Öffentlichkeit noch alle Mitglieder der Regierung hatten Zugang zu dem größten Stimmungsbarometer der deutschen Gesellschaft. Erst nach Ablauf der Legislaturperiode durfte der Bundestagsabgeordnete Malte Spitz die Dokumente einsehen. Für die laufende Legislaturperiode habe ich einen Antrag nach Informationsfreiheitsgesetz gestellt – Ausgang ungewiss.
Zweitens: Die FDP profitierte von schlechten Umfrageergebnissen
Schaut man sich zwei Wahlgänge der FDP an, liegt nahe, dass Wahlumfragen die Wähler beeinflusst haben: Unmittelbar vor der Bundestagswahl 2013 lagen die Liberalen in Umfragen laut Bild-Zeitung bei 6 Prozent, das ZDF nannte 5,5 Prozent. Am Wahltag blieb der Balken jedoch bei 4,8 Prozent stehen – und die FDP flog aus dem Bundestag. Die Umfragen, die die Partei in falscher Sicherheit gewogen hatten, könnten die nötigen Leihstimmen von Sympathisanten anderer Parteien gekostet haben.
Anfang 2013 machte die FDP hingegen die umgekehrte Erfahrung bei der Landtagswahl in Niedersachsen: In Umfragen lag die Partei zwischen 4 und 5 Prozentpunkten, am Wahlabend hingehen bei fast 10 Prozent. Der Unterschied: In Niedersachsen wurde offensiv um Leihstimmen aus der Union geworben. Die Umfragen selbst haben also nicht die Wähler beeinflusst. Aber die Politiker der CDU waren daraufhin bewogen, eine Stimmenkampagne für ihren Juniorpartner in der Koalition zu machen, schreibt Yvonne Schroth von der Forschungsgruppe Wahlen im Buch Demokratie und Demoskopie. So gaben in einer Befragung von der Forschungsgruppe Wahlen auch 80 Prozent der FDP-Wähler an, dass ihnen die CDU am besten gefalle. Die FDP wurde von CDU-Sympathisanten ausschließlich gewählt, um die schwarzgelbe Koalition zu retten.
Drittens: Umfragen haben unmittelbare Auswirkungen auf die Politik
Umfragen sind aber auch bedeutsam, weil sie konkrete, unmittelbare Auswirkungen haben. So hatten die Finanzmärkte – wohl auch aufgrund der Umfragen – nicht mit einer Mehrheit für den Brexit gerechnet. Am Folgetag der Entscheidung brach der Kurs der britischen Währung Pfund ein.
Bei den republikanischen Vorwahlen zur US-Präsidentschaftswahl wurden auf Basis der Umfragewerte die zehn bestgereihten Kandidaten zur TV-Diskussion geladen. Die anderen sieben hatten danach kaum mehr eine realistische Chance im Wahlkampf, dabei lagen die Kandidaten teilweise nur Promillepunkte auseinander.
Auch in Deutschland beeinflussen Wahlumfragen die Politik, beispielsweise in der Flüchtlingspolitik. „Umfrageergebnisse haben eine Rückwirkung auf die öffentliche Meinung, auf die veröffentlichte Meinung und oft genug damit auch auf das Verhalten von Politikerinnen und Politikern“, schreibt Yasmin Fahimi, Staatssekretärin im Arbeitsministerium. „Schnell haftet politischen Vorhaben nach einer Umfrage der Ruch des Unpopulären an, was imagebewusste Politikerinnen und Politiker selten kaltlässt.“ Auch geben gute Umfragewerte einem Wahlkampf neuen Elan, wie SPD-Chef Martin Schulz gerade zeigt.
Umfragen sind wie Würste – keiner will wissen, wie sie gemacht werden
„Gesetze sind wie Würste, man sollte besser nicht dabei sein, wenn sie gemacht werden.“ Dieses vermeintliche Bismarck-Zitat kann man auch auf Umfragen anwenden, meint der britische Meinungsforscher Ben Page. „Jeder liebt das Ergebnis, niemand die Herstellung“, sagt Page, der das renommierte Meinungsforschungsunternehmen Ipsos MORI leitet. Zwischen der Befragung der zufällig ausgewählten, repräsentativen Stichprobe und der Veröffentlichung der Prozentsätze liegt ein schwieriger Prozess: die Gewichtung.
Nicht alle gesellschaftlichen Gruppen werden gleichermaßen über Befragungen am Telefon, im Internet oder persönlich erreicht. Alte Menschen sind beispielsweise eher bereit, an Umfragen teilzunehmen, Politikverweigerer hingegen umso weniger. Auch geben Umfrageteilnehmer zum Teil eine sozial erwünschte Antwort. Das ist ein Grund, wieso AfD, FPÖ oder Front National oft in Umfragen unterschätzt wurden. Um dennoch ein repräsentatives und realistisches Bild der Stimmung im Land zeichnen zu können, korrigieren Wahlforscher in aller Regel die Rohdaten um einen Gewichtungsfaktor. Inzwischen können die Wahlforscher die Rechtspopulisten viel besser einschätzen. Ein Problem bleibt aber: Niemand spricht gerne darüber, wie gewichtet wurde. Anders als Ipsos MORI in Großbritannien oder künftig in Österreich veröffentlichen in Deutschland die Umfrageunternehmen – mit Ausnahme der Forschungsgruppe Wahlen – weder Rohdaten noch genaue Angaben zur Gewichtung.
Auch schwierig: Nicht alle Umfrageunternehmen sind auf demselben Level seriös. Forsa hat stets die spektakulärsten Schlagzeilen, die größten Höhenflüge und die tiefsten Abstürze zu liefern. Dem jungen Unternehmen INSA wird nachgesagt, ein nahes Verhältnis zur AfD zu haben. YouGov setzt rein auf Onlineumfragen und kann repräsentative Zahlen schon für schlappe 680 Euro liefern.
Demoskopie ist keine Wissenschaft, sondern Business. Zwar lässt sich in der Marktforschung mehr Geld verdienen, aber die Meinungsforschung sorgt für Bekanntheit. Deshalb geht beides oft Hand in Hand. Journalisten sollten aufhören, die Meinungsforschungsunternehmen Institute zu nennen, denn das liefert den Anschein wissenschaftlicher Aura. Die „Institute“ sind oft Teil globaler Medienkonzerne. So gehört beispielsweise sowohl Emnid als auch infratest-dimap zur Kantar Group, die wiederum Teil von WPP ist. Auch YouGov operiert weltweit und wird an der Börse gehandelt.
Die Branche würde von mehr Mut zur Unsicherheit profitieren
Meinungsforscher beklagten zuletzt, dass nur noch einer von zehn Angerufenen überhaupt mit ihnen spricht. Nach der schlechten Presse ist es auch wenig überraschend, dass die Deutschen den Wahlprognosen kaum noch vertrauen wollen. Laut einer Umfrage (oh, Ironie!) vertrauen nur 5 Prozent den „Wahlforschungsinstituten“ voll und ganz, 35 Prozent vertrauen ihnen eher und 47 Prozent misstrauen ihnen. Die Meinungsforschung und die Berichterstattung darüber sind in der Krise. Der Branche würden mehr Transparenz und mehr Mut zur Unsicherheit guttun. Oder auch ein Art Gütesiegel, wie in Österreich geplant.
Die Illustration machte Sibylle Jazra für Krautreporter; mit am Text gearbeitet hat Esther Göbel; gegengelesen hat Vera Fröhlich.