661.000 türkische Staatsangehörige haben in Deutschland ihre Stimme abgegeben. Wie schon bei den Parlamentswahlen 2015 erhielt das Lager von Präsident Erdogan und der AKP in Deutschland über 10 Prozentpunkte mehr als in der Türkei. (Bei den Präsidentschaftswahlen 2014 erhielt Erdogan sogar fast 20 Prozentpunkte mehr von den Wählern aus Deutschland.)
Bei dem Verfassungsreferendum am Sonntag war das Rennen so knapp, dass die Stimmen der Türken in der Diaspora entscheidend für den Wahlausgang waren. Und Erdogan konnte auf seine Anhänger in Deutschland zählen. Wie ist die Beliebtheit des Präsidenten ausgerechnet unter den in der Bundesrepublik lebenden Türken zu erklären? Warum stimmen Menschen, die in einer demokratischen Gesellschaft leben, für einen zunehmend autokratischen Politiker in ihrem Herkunftsland?
Wer jetzt eine einfache Antwort auf diese Fragen erwartet, landet schnell bei dem Argument, die in Deutschland lebenden Türken kämen ursprünglich aus ländlichen Regionen der Türkei, die traditionell konservativ geprägt sind. Aber viele der heutigen Wähler leben seit Jahrzehnten in der Bundesrepublik und sind zum großen Teil hier geboren. Man muss den Kontext der sozialen Identität der Türken in Deutschland beachten, um die Attraktivität der Politik und Rhetorik Erdogans für diese spezielle Wählergruppe zu verstehen. Auch meine Begründung bezieht sich auf die Herkunft der Wähler – allerdings auf ihre deutsche Herkunft.
In Wirklichkeit gibt es die eine einfach Antwort, wie eigentlich immer, auch in dieser Frage nicht. Ich habe stattdessen drei Antworten anzubieten, die noch dazu etwas differenzierter sind: Es geht erstens um Stärke, zweitens um Identität und drittens um Akzeptanz.
Nur wenige Türken fühlen sich in Deutschland wirklich zu Hause
Eine der großen Theorien aus der Sozialpsychologie, die Theorie der Sozialen Identität von Henri Tajfel und John C. Turner (1979), hilft, dieses Phänomen zu verstehen. Menschen besitzen neben ihrer individuellen Identität auch unzählige soziale Identitäten, die sie positiv erleben möchten.
Ist eine soziale Identität also nicht positiv besetzt, wollen ihre Träger sie aufwerten. Das kann durch sozialen Wettbewerb geschehen – Wer ist stärker? Wer hat mehr Macht? Eine andere Strategie ist die soziale Kreativität, etwa das Wechseln oder Umdrehen des Wertesystems, so dass die eigene Gruppe im Vergleich besser dasteht als die Vergleichsgruppe. Was das mit dem Wahlergebnis Erdogans in Deutschland zu tun hat, erkläre ich gleich.
Die Studie von Info & Liljeberg aus dem Jahr 2010 zeigt, dass nur 17 Prozent der in der Bundesrepublik lebenden Türken (mit und ohne deutschen Pass) Deutschland als ihre Heimat betrachten – weniger als bei jeder anderen Einwanderergruppe. Zudem gaben 41 Prozent an, sich in Deutschland unerwünscht zu fühlen. Das zeigt zweierlei: Ihre Identität als Türken ist vielen türkischstämmigen Menschen in Deutschland sehr wichtig. Das ist typisch für ethnische Minderheiten. Gleichzeitig erleben viele diese Identität als stigmatisierend. So entsteht ein Gefühl, das empirische Untersuchungen bestätigen – und das das Bedürfnis nach sozialer Aufwertung erklärt.
Viele Türken in Deutschland wollen stark sein – und sich abgrenzen
Erdogan demonstriert Stärke – insbesondere nach außen – und befriedigt dadurch dieses Bedürfnis nach Aufwertung der türkischen Identität im Sinne des sozialen Wettbewerbs um Stärke und Macht. Er und zuletzt auch Ministerpräsident Yildirim betonten bei ihren Auftritten in Deutschland stets die türkische Identität der Diaspora. Sie warben um deren Gunst mit dem Ziel einer starken und mächtigen Türkei. Viele in Deutschland lebende Türken fallen auf den typischen Kniff nationalistischer Politiker herein: die Behauptung, dass man entweder für sie oder gegen das Heimatland sei. Kritische Gegenstimmen aus der Türkei haben folglich das Nachsehen im patriotischen Jubelrausch und werden als Gefahr für die nationale Identität nicht selten sogar bekämpft.
Bei der Pro-Erdogan-Demonstration in Köln nach dem Putschversuch im Sommer 2016 erklärte ein Demonstrant der FAZ, Erdogan stehe „dafür, wohin es die Türkei geschafft hat“. Man könne das Land nicht mehr herumschubsen. Die Kräfteverhältnisse hätten sich dank ihm geändert, die Türkei sei nun auf Augenhöhe mit Europa. „Erdogan bestimmt darüber, ob in Deutschland das Chaos ausbricht, ob mehr Flüchtlinge kommen.“ Aus dieser Betonung der Machtdemonstration lässt sich das Motiv des sozialen Wettbewerbs leicht herauslesen.
Gleichzeitig verkörpern Erdogan und die AKP eine islamisch-konservative Identität, die das Bedürfnis nach positiver Abgrenzung befriedigt, ein anderes Wertesystem als Maßstab heranzieht – und somit in einem starken Kontrast zu den westlichen Gesellschaften steht. Sozialpsychologische Forschung zeigt, dass Intergruppenkontexte, also Situationen, in denen die soziale Identität von Menschen anderen Gruppen gegenübersteht, soziale Selbstdefinitionen fördern: Der permanente Intergruppenkontext in Deutschland bewirkt, dass sich Türken vor allem als Türken sehen, anstatt eine individuelle Identität zu betonen. Je zentraler die Identität für die Selbstdefinition ist, desto größer die Motivation, diese als positiv zu erleben.
Folgerichtig neigen Menschen in Intergruppenkontexten eher dazu, ihre Herkunftskultur anderen Kulturen vorzuziehen. Erdogan hat ein Gespür für diesen Umstand. Bei seinen Auftritten in Deutschland betonte er immer wieder, dass sich die hier lebenden Türken vor Assimilation hüten sollten.
Erdogan-Kritik als Ventil für Türkenfeindlichkeit
Nun bleibt eine Frage offen: Warum identifiziert sich gerade diese Einwanderergruppe noch so viel stärker mit ihrem Herkunftsland als mit Deutschland? Sieht sie ihre Identität sogar in Konkurrenz zur deutschen? Eine Antwort bietet die Forschung zur „Re-Ethnisierung“ von Minderheiten. Sie zeigt, dass ethnische Minderheiten sich besonders dann auf ihre Wurzeln zurückbesinnen, wenn sie sich und ihre soziale Gruppe als diskriminiert wahrnehmen. Die wahrgenommene Diskriminierung verstärkt das Gefühl, dass es als Türke kaum möglich ist, eines Tages uneingeschränkt als Deutscher zu gelten. Und je geringer Menschen die Durchlässigkeit der sozialen Gruppenzugehörigkeiten wahrnehmen, desto stärker und wichtiger wird für sie die ethnische Identifikation.
Mit dem Gefühl der Stigmatisierung in Deutschland geht auch die Wahrnehmung vieler Türken in Deutschland einher, dass Erdogan-Kritik hierzulande häufig nur als ein sozial akzeptiertes Ventil für Türkenfeindlichkeit dient. Manchem Kritiker geht es wohl tatsächlich eher um Ressentiments als um eine aufrichtige Sorge um den Zustand der Demokratie in der Türkei.
Darum glaube ich: Das Wahlergebnis ist zum Teil eine Trotz-Reaktion. Eine fatale allerdings, mit negativen Folgen für die Demokratie in der Türkei und für das Verhältnis zwischen Deutschen und Türken. Der anscheinend ewige Kreislauf von Aus- und Abgrenzung geht mit dem Ergebnis vom vergangenen Sonntag weiter.
Redaktion: Esther Göbel; Produktion: Vera Fröhlich.