Ich erinnere mich noch sehr gut: Es ist Dezember 2015, mein erstes Auslandssemester in Paris geht in die heiße Phase. Die Bibliothek wird mein zweites Zuhause, ich lerne so gewissenhaft für die Abschlussklausuren wie noch nie. Die Weihnachtsferien stehen vor der Tür.
Dann kommt der 6. Dezember – und schlägt ein wie ein Blitz: Die Ergebnisse der Regionalwahlen werden ausgezählt. Meine französischen Freunde sind fassungslos angesichts der Erfolge des Front National im ersten Wahlgang: In sechs von 13 Regionen landet die rechtsextreme Partei auf Platz eins. Marine Le Pen lächelt mich triumphierend von den Titelblättern an.
Mein Mitbewohner sagt mir beim Abendessen, dass seine Silvester-Party in diesem Jahr eine einsame Angelegenheit werden könnte – sollte er all diejenigen ausladen, die für den Front National gestimmt haben. Er wirkt als Einziger gelassen, ironisch wie immer und ein bisschen resigniert. Sein Motto: Möge die Partei ihren Wählern so schnell wie möglich zeigen, dass sie nicht regierungsfähig ist und dass Fremdenhass kein Garant für wirtschaftlichen Aufschwung sein kann.
Ich hingegen bin weniger gelassen. Auf den ersten Schreck folgt die Sorge. Was heißt das für die nächsten Präsidentschaftswahlen?
Für alle Kandidaten ist Arbeit das zentrale Thema
Anderthalb Jahre sind seitdem vergangen. Ein turbulenter Wahlkampf liegt hinter den Franzosen, selten waren die Prognosen so offen.
François Hollande entscheidet als erster französischer Präsident, nicht ein weiteres Mal zu kandidieren. Mit Emmanuel Macron hat ein junger, schillernder Hoffnungsträger die politische Bühne betreten, der Marine Le Pen und den Front National weniger bedrohlich erscheinen lässt. Selbst meine kleine Schwester fiebert mit. Sie, die sonst nur pubertär-genervt die Augen verdreht, wenn über Politik gesprochen wird.
Macron, Le Pen: Bis hierher kommen alle noch mit. Aber wer sind die restlichen Kandidaten? Und vor allem: Was wollen sie? Ich habe für Euch recherchiert und mir die Programme näher angeschaut.
Fünf haben eine reale Chance, einer läuft außer Konkurrenz
Arbeit ist das zentrale Thema, egal, um welchen Kandidaten es sich dreht. Und die Frage: Was tun gegen die hohe Jugendarbeitslosigkeit (knapp 25 Prozent)? Darüber hinaus finden sich aber auch Ideen, die auf den ersten Blick utopisch oder naiv scheinen, die jedoch vor allem eines bei mir hinterlassen haben: Lust auf mehr davon. Lust auf mutige, verrückte, leidenschaftliche Politik.
Damit Ihr wisst, wer überhaupt im Rennen ist, gibt es hier einen Überblick. Wer die Kandidaten schon kennt, kann einfach direkt zu den Vorschlägen springen:
Emmanuel Macron (39) war Wirtschaftsminister unter Hollande und gilt derzeit als der aussichtsreichste Kandidat. Einzig seine Tätigkeit als Bankier bei Rothschild haftet ihm an wie eine zweite Haut und wird ihm von Kritikern angelastet. Er tritt für die von ihm 2016 gegründete Partei „En marche!“ (Vorwärts!) an.
Zu Marine Le Pen (48) werde ich an dieser Stelle nichts sagen, weil mich ihre Ideen in keiner Weise inspirieren — und weil sie den meisten ein Begriff ist.
Den folgenden Namen solltet Ihr Euch merken, denn dieser Anwärter legte in den letzten Tagen nochmal kräftig in den Umfragen zu: Jean-Luc Mélenchon (65) tritt für seine eigene Bewegung „France insoumise“ (Das unbeugsame Frankreich) an. Als großer Kritiker der wirtschaftsliberalen Tendenz seiner Partei und insbesondere François Hollandes ist er 2008 ausgetreten aus der Sozialistischen Partei (PS).
Der (erz-)konservative François Fillon (63) hat eine beeindruckende Karriere bei den Republikanern hinter sich: Berater in diversen Positionen, Abgeordneter, Minister und Ministerpräsident unter Sarkozy. Fillon hat im November überraschend das Rennen gegen seinen innerparteilichen Konkurrenten gemacht. Gegen ihn laufen seit März Ermittlungen wegen Steuerbetrugs, einen Rücktritt lehnte er ab.
Benoît Hamon (49) ist zum Überraschungskandidaten der Sozialisten geworden und wird seit Februar auch vom Kandidaten der Grünen unterstützt. Er ist seit seiner Jugend ein überzeugter „Linksaußen“, der es nicht immer leicht hat in der eigenen Partei. Hamon will Hollandes Kurs nicht weiterfahren und zaubert ein paar sozialpolitische Ideen aus dem Hut, die immer wieder den Vergleich mit dem US-Politiker Bernie Sanders aufdrängen.
Außer Konkurrenz: Jacques Cheminade (75). Nach einer Begegnung mit dem amerikanischen rechten Verschwörungstheoretiker Lyndon LaRouche gründete er 1996 seine Splitterpartei „Solidarité et Progrès“ (Solidarität und Fortschritt). Er hat sich bereits viele Male auf den Präsidentenposten beworben, oft aber nicht mal die 500 nötigen „Patenschaften“ zusammenbekommen. Warum ich ihn dennoch erwähne? Seht selbst in meiner Liste.
Nummer eins: Das bedingungslose Grundeinkommen einführen
Das von Benoît Hamon geplante Grundeinkommen hat viel Aufsehen erregt, weil es eine Abkehr von den seit 1945 wirksamen sozialstaatlichen Mechanismen bedeutet. Erstmals soll sich eine Hilfeleistung nicht mehr nach dem individuellen Einkommen richten. Anfangs wird das auf 600 Euro bemessene Grundeinkommen an die 18- bis 25-Jährigen ausgezahlt, da diese in besonderem Maße von den Umwälzungen des Arbeitsmarkts betroffen sind. Der Empfängerkreis wird dann schrittweise erweitert. Nach einer Volksabstimmung kann der Satz auf 750 Euro erhöht werden. Die Gesamtkosten für sein Projekt würden sich auf 40 bis 45 Milliarden Euro belaufen, die Hamon durch eine Zusammenlegung von Vermögens- und Grundsteuer aufbringen will. Dieses Grundeinkommen soll in erster Linie mehr Zeit für die Familie und größere Autonomie für junge Erwachsenen bringen.
Nummer zwei: Die 32-Stunden-Woche durchsetzen
Hamon will Unternehmen beispielsweise durch Steuererleichterungen anregen, ihren Angestellten bei gleichbleibendem Gehalt eine Vier-Tage-Woche oder Teilzeitarbeit zu ermöglichen. Für schwere körperliche Arbeiten sollen es nur noch 30 Stunden sein. Sein linker Konkurrent Mélenchon will zwar an den 35 Stunden festhalten, aber unbeirrbar auf die 32 Stunden hinarbeiten.
Nummer drei: Die Robotersteuer ausprobieren
Hier haben wir die vielleicht populärste Forderung des Sozialisten Hamon. Der Sozialist nimmt auf Bill Gates Bezug und mahnt an, dass moderne Gesellschaften ohne eine Besteuerung von Robotern auf lange Sicht weder den öffentlichen Dienst noch Sozialsysteme finanzieren werden können.
Nummer vier: Eine neue Verfassung schaffen — Die Sechste Republik
Kurzer Rückblick: Die Fünfte Republik wird 1958 begründet, Charles de Gaulle ist ihr erster Präsident. Mélenchon möchte nun die Sechste Französische Republik ausrufen, um symbolisch mit den alten, nach seiner Ansicht erstarrten und durch und durch korrupten Strukturen zu brechen. Kein Parlamentarier aus dem gegenwärtigen politischen System soll mehr im künftigen Parlament sitzen. Weiterhin geplant sind: eine umfassende Gefängnisreform und der kostenfreie Zugang zu einem Mindestmaß an Elektrizität, Gas und Wasser für jeden. Außerdem soll die Obdachlosigkeit auf Nullniveau gesenkt und gehalten werden. Nun ist wohl etwas klarer, warum Mélenchon als „der Kommunist“ verrufen ist.
Nummer fünf: Die Jugend fördern
Der überzeugte Europäer Macron will das Erasmus-Programm für Studenten und bald auch für Azubis ausbauen, so dass pro Jahr mindestens 200.000 Franzosen und Französinnen ein oder zwei Semester im Ausland verbringen können. Mélenchon dagegen will in jede staatliche Universität eine „Université populaire“ (Volksuniversität) integrieren, die für jeden offen ist. Insgesamt soll ein frischer Wind durch die Bildungseinrichtungen wehen: Hamon, Mélenchon und teilweise Macron setzen sich ausdrücklich für kleinere Klassen und 40.000 bis 60.000 neue Lehrerstellen ein. Gleichzeitig aber auch für eine Aufstockung der Gehälter.
Nummer sechs: Entdeckerpaläste einrichten
Sonderling Cheminade möchte im Falle seines Wahlsieges Montessori-Methoden im großen Maßstab einführen. Geht es nach ihm, wird Chorgesang von frühester Kindheit massiv gefördert, genauso wie Theatergruppen, Museumsbesuche und Schülerzeitungen (plus dazugehörige Druckereien!) für jede Schule. Außerdem möchte Cheminade einen „Palais de la découverte“ (Entdeckerpalast) pro Region eröffnen, in dem Kinder und Jugendliche Anregungen finden und ihrer kreativen Seite freien Lauf lassen können. Und: Kinder sollten bis zum sechsten Lebensjahr gänzlich bildschirmfrei aufwachsen. Im Fall einer bereits erfolgten medialen „Desensibilisierung“ können sich die Geschädigten in darauf eingerichteten Freizeitzentren die „reale Welt“ wieder aneignen.
Nummer sieben: Burn-out als Berufskrankheit anerkennen
Hamon und Mélenchon setzen sich dafür ein, dass Burn-out klar zu einer Berufskrankheit erklärt wird, die — so fordert es Macron — im Kündigungsfall angemessen entschädigt werden muss. Um dem Burn-out vorzubeugen, fordert Hamon ein gesetzlich festgeschriebenes Recht auf „Déconnexion“ (Abschalten).
Nummer acht: Den Bürgerparagraphen beschließen
Noch eine Idee von Benoît Hamon: der Paragraph 49,3. Mit der Unterstützung von einem Prozent aller Wahlberechtigten kann jeder Staatsbürger die Überprüfung oder Aussetzung eines Gesetzes beantragen sowie einen eigenen Gesetzesentwurf einreichen. Über den wird dann per Referendum entschieden. Ein kleiner Teil des staatlichen Budgets (etwa fünf Millionen Euro) soll in drei bis fünf Projekte fließen, über die alle Franzosen online abstimmen können. (Cheminade plant derweil ein zusätzliches Parlament, in dem 500 zufällig ausgeloste Bürger über Zukunftsvisionen debattieren und abstimmen sollen).
Nummer neun: Von dem Mond aus „Life on Mars“ planen
Mélenchon und Cheminade wollen beide deutlich mehr Zeit und Energie in die Erforschung des Weltraums investieren. Letzterer hat viel irritiertes Gelächter geerntet (zumindest am Küchentisch meiner ehemaligen WG) mit seinem Vorstoß in Richtung einer breit angelegten Mondmission. Auf dem Mond sollen in den nächsten Jahren Industrie- und Wissenschaftszentren entstehen – mit dem langfristigen Ziel von dort aus (zum gegebenen Zeitpunkt) auch den Mars zu besiedeln.
Nummer zehn: Es grünt so grün …
Was in Deutschland allgemein (und in Berlin im Besonderen) längst zum guten Ton gehört, wird auch in Frankreich allmählich populärer: Öko-Engagement. Der einzige Arbeiter unter den Kandidaten, Philippe Poutou, fordert eine konsequente Umstellung auf Biolandwirtschaft bis 2027 und die Pflicht zur Weidehaltung für Wiederkäuer. Macron und Hamon wollen bis 2022 beziehungsweise 2025 die Schulkantinen auf mindestens 50 Prozent biologische und regionale Kost umstellen. Mélenchon wiederum plädiert für den internationalen Status der Antarktis sowie dafür, „Ökozid“ als internationales Verbrechen zu definieren. Hamon schließlich will bis 2025 die Nutzung von Diesel verbieten, um den notwendigen Druck auf die Industrie ausüben zu können.
Redaktion: Esther Göbel; Produktion: Vera Fröhlich.