Seitdem er unter Hausarrest steht, hat Frashër Krasniqi viel Zeit zum Lesen: Franz Kafka, Honoré de Balzac, Yanis Varoufakis, Naomi Klein. Seine Freunde bringen ihm Sportgeräte vorbei. Seine Eltern kaufen Lebensmittel und Zigaretten ein. Frashër hat angefangen den Song „Hurricane“ von Bob Dylan zu hören. Darin geht es um den US-amerikanischen Boxer Rubin Carter, der über Jahre unschuldig im Gefängnis sitzen musste.
Frashër ist Aktivist und kein Boxer, doch er fühlt sich wie ein solcher. Er ist Mitglied von Vetëvendosje, Kosovos größter Oppositionspartei. Alle zehn Tage klopfen zwei Polizisten an seine Türe und sehen nach, ob er noch da ist. Fußfesseln hat Krasniqi keine. Er könnte jederzeit zur Türe raus und mit dem Auto in Richtung albanischer Grenze abhauen. Aber wer nichts verbrochen hat, so Krasniqi, der muss nicht flüchten.
Ihm wird derzeit der Prozess gemacht, weil er eine Handgranate auf das kosovarische Parlamentsgebäude in Pristina geworfen haben soll. „Das ist alles von der Regierung inszeniert, weil wir ihnen zu stark werden“, sagt Frashër und schlurft in Jogginghose zu seiner Einbauküche. Er serviert Raki und Ziegenkäse. Der Anisschnaps hinterlässt ein warmes, wohliges Gefühl im Bauch. Frashër schenkt nach, lehnt sich zurück und sagt: „Alles begann mit einem Motorrad.“
Am 4. August 2016 um 23.05 Uhr werfen Unbekannte eine Handgranate auf das Parlamentsgebäude im Zentrum von Pristina. Niemand wird verletzt. Die Fassade wird beschädigt. Das Fluchtfahrzeug, ein Motorrad, wird von der Polizei sichergestellt. Obwohl Frashër und weitere Aktivisten ein Alibi haben, die entnommenen DNA-Spuren nicht mit ihren übereinstimmen und ihre Smartphones mittels GPS geortet werden konnten, geraten sie in den Fokus der Ermittler.
Die Attacke fand in einer Zeit politischer Spannungen statt. Vetëvendosje hatte zu Protesten aufgerufen, um ein Abkommen der Regierung mit Montenegro zu boykottieren, bei dem es um Grenzziehungen geht, die Kosovo laut ihrer Auffassung territorial benachteiligen. Die Polizei macht den Verkäufer des Motorrads ausfindig, der sein Geschäft nicht angemeldet hat und illegal betreibt. Frashër glaubt, dass er geschmiert, manipuliert oder unter Druck gesetzt wurde.
Offiziell hat der Aktivist in seiner Zelle Selbstmord begangen
Der Verkäufer beteuert, er habe das Motorrad an drei Männer verkauft, keiner kleiner als 1,70 Meter, die anschließend im Supermarkt um die Ecke einkaufen waren. Die Polizei wertet die Überwachungskamera aus. Tatsächlich sind auf dem Band auch drei Mitglieder von Vetëvendosje zu sehen, allerdings drei Stunden nachdem das Motorrad verkauft wurde. Unter den Männern ist der junge Medizinstudent und politische Aktivist Astrit Dehari.
Wenn Frashër über ihn spricht, wird seine Stimme klanglos. Astrit Dehari, der gemeinsam mit Frashër und vier anderen Aktivisten festgenommen wurde, fehlt ihm jeden Tag. Am 5. November 2016 wurde er tot in seiner Gefängniszelle aufgefunden.
Heute gibt es keine Stadt, in der nicht irgendwo ein Wandgraffiti mit seinem Gesicht prangert. Im Autopsiebericht heißt es, dass Dehari sich umgebracht hat. Vetëvendosje will das nicht glauben. Sie werfen der Regierung vor, ihn getötet zu haben.
Der Tod des jungen Mannes vertieft die Gräben zwischen Regierung und Opposition. Darüber hinaus spaltet es die Meinung der Bevölkerung. Lügt Vetëvendosje um jeden Preis, um die Regierung an den Pranger zu stellen? Geht die Regierung über Leichen, um einen Kritiker mundtot zu machen?
Die Oppositionspartei hat keinen guten Ruf in Brüssel
Vetëvendosje ist eine Partei, über die man sich stundenlang streiten kann. Die einen beschimpfen sie als Kommunisten, die anderen als Faschisten. Mal ist die Rede von Atheisten, dann wieder von Islamisten. Befürworter sprechen von Reformern, die es mit Korruption und Arbeitslosigkeit aufnehmen können.
Doch Vetëvendosje hat in Brüssel keinen besonders guten Ruf. Für viele ihrer Mitglieder ist eine Vereinigung mit Albanien attraktiver als der EU-Beitritt, den das Land so sehnlichst herbeisehnt. Doch ein Großalbanien im politisch instabilen Balkan ist sowohl für die EU als auch die USA ein No-Go.
Frashër schlüpft in seine Hauspantoffel und tritt auf seinen Balkon. Er ist voller Gerümpel. Der einzige Ort, wo er Frischluft schnappen kann. Ein junger Mann Anfang Dreißig, nicht besonders groß, mit dunklem Bart und wachen Augen bläst Rauch in die kühle Nachtluft. „Wir wollen einen Staat schaffen, der eigenständig funktioniert. Ein Staat, aus dem nicht alle Jungen nur abhauen wollen.“
Trotz Milliarden-Investitionen eines der ärmsten Länder Europas
Frashërs neue Wohnsiedlung, bei der jeder Komplex dem anderen gleicht, zeugt von der Schnelligkeit, mit der sich Pristina, die Hauptstadt des Kosovo, die letzten Jahre ausgedehnt hat. Auf den Hügeln, welche die Stadt im Norden und Süden flankieren, arbeiten das ganze Jahr über Kräne und Bagger. Wer Kosovo hört, der denkt an Panzer und Elend. Selbst 18 Jahre nach dem Krieg schwingt die Gewalt der Vergangenheit im Namen des Landes mit.
Doch in Pristina gibt es Hipster-Cafés, Burger-Läden und Clubs, die nicht anders sind als jene in Berlin oder Wien. Die einstige Provinzstadt wurde zum Arbeitsplatz für abertausende internationale Entwicklungshelfer, Diplomaten, Juristen, Berater, Soldaten und Mitarbeiter von Nichtregierungsorganisationen.
Sie arbeiten unter unzähligen Kürzeln, die im Kosovo jedes Kind kennt: EU, UN, KFOR, UNMIK, EULEX, USAID, OSCE. Seit den NATO-Bombardements im Jahr 1999, bei denen die USA auf Seite der Kosovo-Albaner intervenierte, steht der Kosovo unter dem Schutzschirm der internationalen Gemeinschaft. „Sie lösen die Krisen nicht, sondern managen sie nur“, sagt Krasniqi.
Trotz Milliarden an investierten Entwicklungsgeldern bleibt der Kosovo eines der ärmsten Länder in Europa. Dafür ist das Land mit 1,8 Millionen Einwohnern, das vor neun Jahre seine Unabhängigkeit erklärte, Spitzenreiter bei den Geburtenraten und der jüngsten Bevölkerung. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei fast 70 Prozent.
Mitrovica und das Bergwerk wurden in zwei Hälften gerissen
Vor dem Zerfall Jugoslawiens waren die Menschen in großen Fabriken und Bergwerken angestellt. Von vielen dieser einstigen Arbeitsstätten sind nach dem Krieg und der Privatisierung nur noch verfallene Fabrikgelände übrig. Ein trauriges Beispiel sind die Minen von Trepča im Norden des Landes. Das gewaltige Industriegelände, wo Blei, Silber und andere Schwermetalle abgebaut wurden, galt einst als einer der größten Arbeitgeber Jugoslawiens und als „Kronjuwel“ der damaligen Provinz Serbiens. 22.000 Menschen fanden dort um 1980 Arbeit. Heute sind es nur noch 1.500.
Rost, eingebrochene Scheiben und mit Gras überwucherte Eisenbahnschienen geben dem Trepča- Gelände das Antlitz einer Geisterstadt. Der Krieg hat die Stadt Mitrovica und mit ihr das Bergwerk Trepča in eine albanische und eine serbische Hälfte gerissen. Im Süden der Stadt weht die kosovarische und albanische Flagge, im Norden die serbische Trikolore. Beide Stadtviertel sind mit einer Brücke über den Fluss Ibar miteinander verbunden, die von Soldaten der NATO-Mission KFOR bewacht wird.
Serbischer Gemeindeverband könnte zum Staat im Staate werden
Die Regierung in Pristina hat wenig Kontrolle über die Gebiete im Norden. Mit der EU in der Vermittlerrolle konnten zwar Parallelstrukturen abgebaut werden, doch bis heute bezahlen serbische Bewohner weder Strom- noch Wasserrechnungen. Gleiches gilt für Pensionen und Sozialversicherung.
Bis heute umstritten ist die Etablierung eines serbischen Gemeindeverbandes, der die Finanzierung aus Serbien de facto legalisieren soll. Gebiete, die mehrheitlich von Serben besiedelt sind, sollen sich autonom in Bereichen wie dem Gesundheitswesen, Schulsystem und Wirtschaftsförderung verwalten dürfen.
Vetëvendosje warnt, dass sich ein solcher Gemeindeverband schrittweise in einen „Staat im Staat“ verwandeln könnte, ähnlich der Republika Srpska im benachbarten Bosnien. Der Verband werde nicht so sein, „wie Belgrad sich das wünscht“, also mit eigenem Präsidenten, Flagge, Polizei und Verfassung, betont der kosovarische Außenminister Enver Hoxhaj.
Doch in Žitkovac, dem Dorf nahe der verfallenen Trepča-Fabrik, trifft man serbische Bewohner, die genau davon träumen. „Wir haben keine Rechte hier“, sagt ein Shop-Besitzer, der nur in den Süden der Stadt geht, um mit seinen Produkten zu handeln. In seinem Geschäft hängt ein Kalender von Putin. „Er soll uns helfen, den Fluss Ibar wieder zur Grenze zu machen.“
Ein autonomer Gemeindeverband ist für Frashër Krasniqi und Vetëvendosje nur das Sprungbrett für eine erneute Angliederung an Serbien. Deswegen wirft die Partei Tränengas im Plenarsaal des kosovarischen Parlaments. Sie schmuggeln die Patronen in ihren Schuhen oder in Plastikflaschen, versteckt in der Unterwäsche, durch die Sicherheitskontrolle.
Die Regierung wirft Vetëvendosje vor, den Dialog mit Serbien innenpolitisch zu missbrauchen. Ein Dialog sei das Instrument für eine zivilisierte Gesellschaft. In der letzten Februarwoche empfängt Präsident Hashim Thaçi mich in einem prächtigen Saal des Parlamentsgebäudes und legt beim Sprechen die Fingerkuppen aneinander, wie Kanzlerin Angela Merkel. Er ist im Stress und unterbricht die Fragen, bevor sie zu Ende formuliert wurden.
Kritiker nennen Vandalismus und Vetëvendosje meist in einem Atemzug
Thaçi sitzt im selben Gebäude, auf das es vergangenes Jahr am Tag seiner Wahl zum Präsidenten Farbbeutel und Steine hagelte. Die Rufe der Demonstranten waren bis in den Plenarsaal zu hören. Polizisten mit Schutzschildern umringten das Gebäude und hinderten die Demonstranten daran einzudringen.
Thaçi saß lässig und kopfschüttelnd im Plenarsaal, als würde er die da draußen nicht hören. Vetëvendosje hatte versucht, die Wahl durch Abwesenheit zu blockieren, doch nach der dritten Abstimmungsrunde kam doch die notwendige Mehrheit zusammen.
In den folgenden Stunden roch es auf den Straßen Pristinas beißend nach Tränengas. Nur der einsetzende Regen sorgte für ein wenig Erfrischung. Vandalismus und Vetëvendosje werden von Kritikern meist in einem Atemzug genannt.
Jedes Einschlagsloch im spiegelverglasten Regierungsgebäude spielt der politischen Elite in die Arme, da die Schäden von Steuergeld beglichen werden müssen. Gewalt auf den Straßen, beschädigte Gebäude und eingebrochene Fenster schrecken viele davon ab, Vetëvendosje zu wählen.
Ehemalige EU-Mitarbeiter der Rechtsstaatsmission EULEX erzählen, wie sie Milch (lindert das Brennen in den Augen) in ihr Büro mitgenommen haben, falls irgendwo eine versteckte Tränengasbombe hochgeht. Immer wieder wurden EULEX-Fahrzeuge demoliert oder auf dem Kopf gestellt. Parteimitglieder von Vetëvendosje nehmen das schulterzuckend zur Kenntnis.
Man fragt sich, wo die Bereitschaft bleibt, blinden Vandalismus von politischem Aktionismus zu trennen? Frashër Krasniqi sagt: „Du kannst deinen Feind nicht bekämpfen, wenn du ruhig und friedlich bist.“
Bei der nächsten Wahl könnte die Oppositionspartei ungemütlich für Thaçis „Demokratische Partei des Kosovo“ (PDK) werden. Der Präsident und ehemalige Ministerpräsident hat es nicht geschafft, die politische und wirtschaftliche Lage im Kosovo zu verbessern, geschweige denn die 200.000 Arbeitsplätze zu schaffen, die er versprochen hat.
Sondergericht will Anklage gegen UÇK-Führer erheben
Der serbische Gemeindeverband, der laut Umfragen bei jedem Zweiten in der Bevölkerung auf Missmut stößt, könnte ihm zum Damoklesschwert werden. Dazu kommt, dass ein internationales Sondergericht noch in diesem Jahr Anklage gegen mutmaßliche Täter der paramilitärischen albanischen Organisation UÇK erheben will.
Thaçi war einer der Führer dieser Widerstandsbewegung gewesen, die im Kosovokrieg gegen serbische Sicherheitskräfte gekämpft hat. Während der bewaffneten Auseinandersetzungen war er unter dem Decknamen Gjarpni, auf Deutsch „Die Schlange“, unter anderem für den Waffenschmuggel und die Ausbildung von Kämpfern zuständig.
„Der Kosovo muss sich vor diesem Gericht nicht fürchten“, sagt Thaçi. Aber muss sich der amtierende Präsident am Ende selbst fürchten? Über das, was ihm vorgeworfen wird, kursieren viele Gerüchte. Der Europarat wirft dem Präsidenten in einem Bericht von 2010 die Verwicklung in Organhandel und Auftragsmorden vor. Bis heute gab es kein Ermittlungs- oder Gerichtsverfahren gegen ihn. Vetëvendosje behauptet zu wissen, warum. Thaçi gilt als Protegé der internationalen Gemeinschaft, vorrangig der USA.
Das Land ist weit davon entfernt, die Vergangenheit, vorrangig die 90er Jahre, urteilsfrei und mit Weitblick aufzuarbeiten. Dan Sokoli kann davon ein Lied singen. Der Soziologiestudent arbeitet für die Nichtregierungsorganisation Youth Initiative. Momentan untersucht er, wie Geschichte in kosovarischen Schulbüchern dargestellt wird.
Ehemalige UÇK-Mitglieder sitzen heute in der Regierung
Mit anderen jungen Forschern und Aktivisten hat er ein Haus nahe der Universität gemietet. Sokoli blättert durch die Geschichtsbücher für die 15- bis 18-jährigen Schüler. Die 90er Jahre füllen gerade Mal eine Seite. „Ehemalige Mitglieder der UÇK sitzen heute in der Regierung, deswegen soll die Organisation ihren Heldenstatus nicht verlieren“, kritisieren die jungen Aktivisten von Youth Initiative.
Wer den Kosovo bereist, dem werden in fast jeder größeren und kleineren Stadt Denkmäler aus dunklem Marmor auffallen. Meist flattert die albanische Flagge, ein schwarzer Doppeladler auf rotem Grund, darüber. Neben den eingravierten Namen sieht man Fotos von meist jungen Männern, die ihr Leben im Widerstandskampf verloren haben.
Bis heute hat sich Serbien nicht für die staatlich angeordnete und systematische Gewalt in den 90er Jahren entschuldigt, insbesondere für die im Kosovo verübten Massaker, Übergriffe und Plünderungen, bei denen geschätzte 10.000 Kosovo-Albaner getötet wurden. Die serbischen Opfer werden auf 2.000 geschätzt.
„Wir können diese Gewalttaten nicht mit individuellen Morden gleichsetzen“, sagt Krasniqi zu Hause auf seiner Couch. Driton Çaushi, 38, seit vergangenen Sommer einer von 16 Abgeordneten von Vetëvendosje, sitzt in einem Café nahe des Boulevards, trinkt einen Espresso und raucht eine Zigarette. „Wir hatten keine Nürnberger Prozesse, wie Deutschland damals nach der Nazi-Diktatur“, sagt er. Als die Repressionen Anfang der 90er Jahre begannen, war er Student und besuchte den illegalen, albanischen Unterricht in Kellern und Moscheen.
Aufgrund des Bosnienkrieges und des Zerfalls der Sowjetunion blieb das, was im Kosovo in den 90er Jahren passierte, lange im Schatten der internationalen Aufmerksamkeit. Der sozialistische Staatschef Slobodan Milošević entmachtete die ehemals autonome Provinz durch eine Verfassungsänderung.
Albaner wurden aus den Schulen, Universitäten und dem Parlament verbannt. Dazu kamen Diskriminierungen und Schikanen im Alltag. Fast ein Jahrzehnt lang reagierten die Kosovaren mit einer friedlichen Protestbewegung. Auch Driton Çaushis Vater schloss sich ihr an.
Doch ab 1997 ging der Konflikt in einen Bürgerkrieg über. Belgrad ging noch härter gegen die Zivilbevölkerung vor. Es kam zu Erschießungen, Massakern, Vergewaltigungen. Obgleich ohne UN-Mandat, griff die NATO ein und bombardierte 78 Tage lang serbische Ziele in Jugoslawien, um einen Völkermord an den Albanern zu verhindern. Fotos von abgebrannten Dörfern und Flüchtlingstrecks gingen um die Welt. Nach dem Rückzug serbischer Truppen wurde der Kosovo unter UN-Verwaltung gestellt.
Im Geschichtsunterricht werden die Heldentaten der UÇK überbetont
Laut Çaushi gab es außerhalb der UÇK keine Alternativen, um sich zu verteidigen. Der Soziologiestudent Dan hingegen kritisiert, dass die Heldentaten der UÇK im Geschichtsunterricht überbetont werden. „Erst vor kurzem habe ich davon erfahren, dass es viele Jahre einen friedlichen Widerstand gegeben hat“, sagt er. In der Schule hat er das nicht gelernt, sondern bei Youtube.
Bis heute erkennen 114 der 193 UNO-Staaten den Kosovo an. Russland, China, Indien, aber auch EU-Mitglieder wie Spanien, Griechenland und Zypern sehen den Kosovo als einen Teil Serbiens. Sie wollen verhindern, dass sich eigene unruhige ethnische Minderheiten auf das Vorbild Kosovo berufen können.
Die roten Schriftzüge sind auf Hausmauern im ganzen Land verteilt: „Jo Negociata - Vetëvendosje!“– „Keine Verhandlungen - Selbstbestimmung!“ Die Parole bringt auf den Punkt, was die größte Oppositionspartei des Kosovos fordert: eine völlige Unabhängigkeit des Landes ohne internationale Kontrolle und die Integration der Kosovo-Serben ohne das Einmischen von Belgrad.
„Unsere Politiker sind korrupt und manipulierbar und gerade deswegen so attraktiv für Brüssel, weil sie Stabilität um jeden Preis versprechen“, kritisiert Krasniqi. Die internationale Gemeinschaft habe dem Kosovo eine liberale Marktwirtschaft aufgezwungen, die in der Praxis kläglich versagt. Denn für Marktwirtschaft ist Wettbewerb notwendig und den gibt es im Kosovo nicht. Dort hat nach dem Krieg eine Privatisierung nach neoliberalem Vorbild stattgefunden.
Kleine Fische werden gefangen, große Haie bleiben unangetastet
Heute wird hier kaum noch etwas produziert, geschweige denn exportiert. Vetëvendosje ruft dazu auf, heimische Produkte zu subventionieren und serbische Produkte mit Zöllen zu belegen.
Die Geburtshelfer des kosovarischen Staates, vorne weg USA und EU, stehen heute immer mehr in der Kritik, die Situation im Kosovo trotz Milliarden an Entwicklungsgeldern nicht verbessert zu haben. Mit 2.000 Mitarbeitern und einem jährlichen Budget von 100 Millionen Euro ist EULEX die größte Ansammlung von EU-Mitarbeitern außerhalb von Brüssel.
Seit 2008 sollen sie den Kosovo dabei unterstützen, einen Rechtsstaat aufzubauen, der frei von politischem Einfluss ist. EULEX berät nicht nur, sondern kann auch Ermittlungsverfahren einleiten. Ihre Richter können Urteile fällen und Menschen verhaften lassen. Vetëvendosje kritisiert, dass EULEX nur die „kleinen Fische“ fange und die „großen Haie“ unangetastet lasse.
An einem Vormittag im Februar eilen Studenten mit Umhängetaschen die Gänge der Universität Pristina entlang. Von den Wänden blättert langsam der Putz ab. Der Campus: sozialistische Plattenbau-Architektur. Die Nationalbibliothek, ein Stahlkomplex aus 99 Kuppeln, sieht aus, als wäre eben ein UFO gelandet. Die Universität war in den 80er Jahren der Ort, an dem die Studentenproteste gegen das Milošević-Regime ihren Anfang nahmen.
Massenexodus nach Mittel- und Westeuropa
Die heutige Generation hat andere Probleme. Sie wollen sich für ein Praktikum in EU-Mitgliedsländern bewerben, im Ausland arbeiten oder studieren oder Urlaub machen.
Doch ein Visum zu beantragen ist Knochenarbeit. Unzählige Dokumente müssen eingereicht und Kontoauszüge vorgelegt werden. Im Jahr 2015 erlebte das kleine Land einen Massenexodus. Zehntausende machten sich auf den Weg nach Mittel- und Westeuropa. Bis heute sind viele Familien auf Verwandte im Ausland angewiesen, die Geld schicken.
Die Flucht wurde mit Schleppern organisiert, denn der Kosovo ist neben der Ukraine das einzige Land in Europa, das keine Visafreiheit für den Schengenraum genießt.
In einem Land kleiner als Thüringen leiden vor allem arbeitslose und junge Menschen unter den unsichtbaren Mauern. Es birgt keine Vorteile, einen kosovarischen Pass zu besitzen. Das verstärkt den Missmut, auf die eigene Regierung, aber auch auf die Europäische Union. Laufen deswegen viele zu Vetëvendosje über? „Sie sind transparenter als der Rest, aber ich finde es schlecht, dass sie immerzu Scheiben einschlagen müssen“, sagt ein Mädchen in der letzten Reihe des Seminarraumes mit den kahlen Wänden.
Frashër Krasniqi, der Aktivist, der sich mit einem Boxer vergleicht, wartet indessen auf seinen Prozess. „Sie wissen genau, dass ich unschuldig bin“, sagt er zähneknirschend und fügt hinzu: „Ich vermisse es wirklich rauszugehen.“ Also noch eine Runde „Hurricane“ von Bob Dylan hören und noch einmal „Die Verwandlung“ von Kafka lesen. Während die Aktivisten draußen schon die nächste Demo planen.
Fotos: Martin Valentin Fuchs; Redaktion: Christian Gesellmann; Produktion: Vera Fröhlich.