Es gibt Sachen, für die sollte man sich Zeit nehmen, wenn man sie angeht. Weil es wichtig ist, sie ordentlich zu machen. Ein Haus zu bauen, ist so etwas. Lieblose Planung, undichte Dämmung und ein schlampig gegossenes Fundament können sich rächen, wenn der Lärm und Staub der Baustelle nur noch ferne Erinnerung sind. Eine Marsmission zu planen, wäre so eine andere Aufgabe. Woran die Besatzung auf der Erde nicht gedacht hat, kann sie tief drinnen im Universum nicht mehr besorgen. Das deutsche Grundgesetz zu ändern, ist so eine andere Sache. Wer da unachtsam formuliert, zu weitschweifig die Paragrafen füllt, könnte Fehler machen, die die deutschen Bürger teuer zu stehen kommen und auf Jahre hinaus die Gerichte blockieren.
Die Bundesregierung ändert gerade das Grundgesetz. Dreizehnmal. Sie will neu regeln, wie die Bundesländer Geld bekommen, sie will die deutschen Autobahnen durch die Hintertür privatisieren und ein Online-Portal aufsetzen, in dem Länder und Bund ihre Dienstleistungen aus einer Hand anbieten. Das hört sich, wenn man es so liest, wenig spektakulär an, aber dahinter verbirgt sich die größte Grundgesetz-Änderung seit einem Jahrzehnt, und wenn sie verabschiedet ist, ist Deutschland ein anderes Land, im Guten wie im Schlechten. (Update: Die Änderung wurde am 1. Juni tatsächlich beschlossen.)
Die größte Grundgesetz-Änderung seit einem Jahrzehnt – und die Regierung hat den Bundestag ignoriert
Ich denke: Für die größte Grundgesetzänderung seit einem Jahrzehnt sollte man sich etwas Zeit nehmen. Die Bundesregierung verrückt da schließlich nicht nur ein paar Möbel, sondern geht ans Fundament ran. Und viel Zeit hat sich die Bundesregierung auch genommen – einerseits. Schließlich hat sie mehr als zwei Jahre mit den Bundesländern gerungen, um dieses Paket zu schnüren. Wofür sie sich allerdings keine Zeit genommen hat: die Bundestagsabgeordneten. Das ist keine Übertreibung. Parlamentarier haben mir erzählt, dass sie nicht ein einziges Mal zu den Beratungen hinzugezogen wurden. Obwohl sie doch diejenigen sind, die das Ganze am Ende zu verantworten haben, vor allem vor uns Bürgern.
Die Bundesregierung wollte dem Bundestag exakt sieben Wochen geben, um sich mit 13 Grundgesetzänderungen und Hunderten Begleitparagrafen zu beschäftigten. Sieben Wochen! Da kann man viel tun. Was niemand kann: Wirklich gründlich über die Änderungen zu schauen, die bald geltendes Recht werden sollen. Deswegen haben die Abgeordneten das einzige Richtige gemacht und das Ganze ausgebremst. Sie haben jetzt ein paar Wochen mehr Zeit, aber vor der Sommerpause und vor allem vor der Wahl im September soll die Änderung trotzdem durch sein.
13 Grundgesetzänderungen, hunderte Paragrafen, drei Wochen Zeit
Ist doch alles halb so wild, denken Sie jetzt vielleicht. Doch lassen Sie uns kurz in den Maschinenraum des parlamentarischen Alltags blicken, damit wir verstehen können, was gerade passiert: Wenn ein Gesetz ins Parlament geht, wird es erstmal allen Abgeordneten vorgestellt und geht dann in die jeweiligen Ausschüsse. Dort sitzen Spezialisten für die jeweiligen Themen, zum Beispiel für Bildung, Wirtschaft oder Inneres, und schauen sich nun den Gesetzentwurf an. Das machen sie nicht allein, sondern sie fordern Experten auf, ihr Wissen einzubringen. Diese schreiben Gutachten und werden mündlich angehört. Bei dieser Grundgesetzänderung nimmt zum Beispiel die SPD-Politikerin Bettina Hagedorn an sechs Anhörungen innerhalb von drei Wochen teil. Die Zahl der Gutachten, die sie lesen müsste: 50. Wie gesagt: drei Wochen Zeit. Und so ein Gutachten ähnelt vom Spannungslevel her eher nicht dem Krimi, den Sie am Wochenende noch atemlos verschlungen haben.
Als ich für meinen Text über die Autobahn-Privatisierung zehn Gutachten gelesen habe, hatte ich den Vorteil, mich auf jene Kernstellen konzentrieren zu können, die für mein Thema relevant sind. Und die anderen Punkte einfach auszulassen. Aber eine Abgeordnete wie Hagedorn kann das nicht. Wenn sich da im vorletzten Satz des fünften Absatzes des 27. Paragrafen eine schlechte Formulierung eingeschlichen hat, muss sie die erst einmal mit Hilfe ihres Teams und der Gutachter entdecken. Es ist ein bisschen auch eine Detektivarbeit; man muss die richtigen Fragen stellen – aber dafür braucht es Zeit. Und selbst wenn ein Abgeordneter die Stelle entdeckt hat und ändern will, dann muss jemand sie neu formulieren und einen Antrag auf Änderung schreiben. Und um Unterstützung für diese Änderung bei den Kollegen werben. Dreizehn Grundgesetzänderungen, Hunderte Paragrafen, drei Wochen.
Das kommt einer Erpressung nahe
Dazu kommt: Die aktuelle Grundgesetzänderung haben Bundeskanzlerin Angela Merkel und die Chefs der Bundesländer allein ausgehandelt, beschlossen und zu einem insgesamt gewaltigen Paket geschnürt, das, einmal geöffnet, nicht mehr geschlossen werden könnte. Teil des Paketes sind nicht nur die weitreichenden Beschlüsse zur Zukunft der deutschen Autobahnen. (Gerade kostet eine Fahrt auf den privat geführten Autobahnen von Paris nach Marseille 70 Euro Maut, die gleichen Summen könnten auch in Deutschland mit diesem Gesetz anfallen, staatlich gewollt.) Teil sind auch Gelder des Bundes für die Länder, die diese dringend brauchen, um ihren Aufgaben nachzugehen. Wenn die Abgeordneten jetzt zum Beispiel die Autobahn-Privatisierung verhindern wollten, müssten sie das ganze Gesetzänderungs-Paket verhindern – und in Kauf nehmen, dass ihre Heimatstädte bald weniger Geld haben. Das kann man als normales politisches Tagesgeschäft sehen. In meinen Augen kommt das einer Erpressung nahe.
So etwas scheint sich in den vergangenen Jahren zu häufen: Immer wieder musste das Bundesverfassungsgericht in der Euro-Krise die Regierung ermahnen, den Bundestag einzubeziehen. Dabei ging es in diesem Zusammenhang um Milliarden Euro und, erlauben Sie mir das saloppe Pathos, die verdammte Zukunft der Europäischen Union.
Wir sollten den Abgeordneten helfen, der Regierung Paroli zu bieten
So etwas kommt ja auch immer öfter vor: dass die Abgeordneten nicht einfach nur ein paar Gesetze verabschieden, sondern wichtige Befugnisse für immer auf die Regierung oder irgendeine andere Institution übertragen, die ihre neue Macht unkontrolliert nutzen kann. Das wäre zum Beispiel der Fall gewesen, wenn das Freihandelsabkommen TTIP verabschiedet worden wäre; eine breite zivilgesellschaftliche Koalition konnte das Abkommen aber verhindern. Oft gibt es Gründe, die Befugnisse zu verlagern, die auf einer pragmatischen Ebene einleuchtend sind. Die Anderen! Die Eile! Das Ansehen! Das können gute Gründe sein, aber immer muss klar sein, dass mit jedem Recht, das der Bundestag abgibt, unsere parlamentarische Demokratie ein kleines bisschen stirbt.
Wir erwarten alle, dass unsere Bundestagsabgeordneten ihren Job gut machen. Wir, die Bürger, sagen: „Ihr seid unsere Vertreter, ihr bekommt Privilegien, die nur wenige andere haben, also nutzt diese und seid fleißig und kümmert euch!“ Und wenn sie das angeblich nicht tun, und wir uns nicht vertreten fühlen, dann fühlen wir uns alleingelassen und gehen nicht mehr wählen, oder auf die Straße und machen Rabatz. Wir tun so, als würde sich niemand für uns interessieren. Oder wir strafen sie mit der schärfsten Waffe, die wir haben: Nicht-Achtung. Respektlosigkeiten.
Was wir aber viel zu wenig machen: Unsere Abgeordneten mal in Schutz nehmen gegen eine Regierung, die im Bundestag nur einen Grenzposten an der Grenze zu sehen scheint, mit der Hauptaufgabe: Durchwinken.
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Redaktion: Esther Göbel; Produktion: Vera Fröhlich; Bildredaktion: Martin Gommel.