Und plötzlich Bundestagskandidat
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Interview: Und plötzlich Bundestagskandidat

Es reicht nicht mehr, alle paar Jahre wählen zu gehen. Sagen viele, die die Demokratie in Gefahr sehen. Wolfgang Wetzel aus Zwickau hat sich entschieden, für den Bundestag zu kandidieren. Bei der Wahl hat er keine Chance – warum er trotzdem schon viel gewonnen hat, erzählt er mir im Interview.

Profilbild von Interview von Christian Gesellmann

„Also, Sie wollen jetzt praktisch herausfinden, warum ich verrückt geworden bin?“, fragt mich Wolfgang Wetzel. Es ist ein regnerischer Freitagmorgen, Wetzel, ein bulliger 48-Jähriger mit Glatze und Kinnbart, hat mich in seine kleine Wohnung im Stadtzentrum von Zwickau eingeladen. Vor dem Haus parken zwei tiefergelegte Golf. Um die Ecke rostet die alte Zentralhaltestelle vor sich hin. Eigentlich will ich Wetzel dazu befragen, wieso er sich zur Wahl für den Bundestag aufstellen lassen hat, die im September ansteht. Direktkandidat für die Grünen im Bundestagswahlkreis 165. Ich kannte ihn bisher nur als vielbeschäftigten Suchtberater, wusste nicht mal, dass er Mitglied einer Partei ist.

Wetzel saß im Innenhof seiner Ferienwohnung in Kroatien, als ihn der Vorstandsvorsitzende der Zwickauer Grünen an einem Sonntagnachmittag im vergangenen Oktober anrief und fragte, ob er sich die Kandidatur vorstellen könne. „Also, wenn Du in den Bundestag gewählt wirst, mach ich Schluss“, sagte sein Lebensgefährte. Im Hintergrund das träge Rauschen des Hafens von Split. Am Telefon der Vorstand, ein Rentner mit weißem Vollbart, im tiefsten Sächsisch: „Natürlich gibt’s da keinen Blumentopf zu gewinnen.“ - „Gib mir mal 14 Tage Bedenkzeit“, sagte Wetzel.

Aber so lange brauchte er nicht. „Dass ich da Lust drauf habe, war mir eigentlich gleich klar.“ Seit Pegida und Flüchtlingskrise hat sich das Leben des Diplomsozialpädagogen geändert, so wie es sich für viele Menschen in Sachsen geändert hat: Wetzel ist politisch aktiv geworden.


Herr Wetzel, wieso haben Sie sich für die Bundestagswahl als Kandidat aufstellen lassen?

Dazu muss ich etwas ausholen. Denn man versteht sich ja nur dann, wenn man seine ganze Geschichte im Blick hat.

Die Zeit nehmen wir uns …

Ich bin aufgewachsen in Schneeberg im Erzgebirge, im sogenannten evangelikalen Milieu, einer richtig frommen Familie, die zwar zur lutherischen Landeskirche gehört hat, aber so ihre Sonderzirkel hatte und teilweise Züge einer Sekte aufwies. Möglicherweise hätte ich mich von dort nie lösen können, wenn mir nicht irgendwann klargeworden wäre, dass ich schwul bin.

In der DDR sollten Sie nicht Christ sein, als Christ sollten Sie nicht schwul sein – Sie waren also doppelter Außenseiter?

Dazu zu stehen, dass man wegen seiner Religion nicht Mitglied der FDJ (Freie Deutsche Jugend, sozialistischer Jugendverband der DDR, Anm. d. Red.) sein will und manche Dinge einfach nicht mitmacht, das hat mir ein Kreuz verliehen. Aber wenn man als junger Mensch schon eine Sonderrolle in der Gesellschaft einnimmt, braucht man einen Rückzugsort, und das war meine Gemeinde. Und ich wusste, als bekennender Schwuler würde ich dort rausfliegen, und dann hätte ich gar nix mehr. Deshalb habe ich zunächst versucht, mein Schwulsein zu ändern, war in evangelikalen Zirkeln, wo mit pseudo-psychotherapeutischen Methoden versucht wird, Homosexuelle umzupolen.

Und Sie haben auch geheiratet und zwei Kinder bekommen.

Ja, meine Frau wusste auch, dass ich schwul bin. Aber wir waren beide so naiv zu glauben, dass sich das noch einmal ändern wird. Wir bekamen zwei Kinder, die inzwischen erwachsen sind, und ich dachte gar nicht mehr, dass es noch einmal zu einem Outing kommen würde. Das hatte ich nicht vor. Obwohl sich auch mein Körper wehrte, weiter mit einer Lüge zu leben. Ich bekam eine Neurodermitis. Und dann, mit Ende 30, habe ich mich zum ersten Mal in einen Mann verliebt.

Was geschah dann?

Dann brach das ganze Kartenhaus zusammen. Die Jahre der Trennung waren hart, aber die Kinder waren zum Glück schon groß genug, es zu verstehen. Heute habe ich mit meiner geschiedenen Frau und den Kindern ein super Verhältnis.

Diese Erfahrungen haben Ihnen also ein Kreuz verliehen. Aber was ist der Zusammenhang zu ihrem politischen Engagement heute?

Ich hatte in den letzten Jahren teilweise das Gefühl, dass mich meine persönliche Vergangenheit wieder einholt. Ich habe mit Erschrecken beobachtet, wie diese ganz frommen Kreise, denen ich entstamme, die sich ja selbst für besonders liebevoll und warmherzig halten, eine extreme Schnittmenge zum aktuellen Rechtspopulismus haben. Viele der Protagonisten, die jetzt auf die Straße gehen und Hass verbreiten, kenne ich teilweise noch aus meiner Jugendzeit.

Haben sich diese frommen Kreise radikalisiert oder äußern die sich jetzt nur zum ersten Mal?

Das politische Denken dieser Leute hat sich in den letzten 25 Jahren nicht geändert. Sie äußern sich jedoch nicht offen radikal. Aber so Sätze wie “Das Beste wäre eigentlich ’ne Monarchie, Hauptsache der König ist gottesfürchtig“ habe ich in diesem evangelikalen Milieu vor vielen Jahren auch schon von CDU-Politikern gehört.


Als Leiter einer Suchtberatungsstelle, in der er seit mehr als zehn Jahren mit steigenden Zahlen an Alkohol- und Crystal-Meth-Abhängigen zu tun hat, in der er seit mehr als zehn Jahren auch mit zu wenig Personal und zu wenig Geld und politischem Unverständnis zu kämpfen hat, ist Wetzel nichts Weltliches fremd geblieben. Er kennt die Schattenseiten der Gesellschaft, die Abgehängten und Aufgegebenen, und weiß, wie schwach ihre Lobby ist. Aber es brauchte erst die Welle des Hasses, die in den vergangenen Jahren durch Sachsen gerollt ist, um ihn in die Politik zu spülen.

Und ja, für ein bisschen verrückt halte ich ihn vielleicht wirklich, weil er seine komplette Freizeit für ein völlig aussichtsloses Unterfangen opfert: Im Landkreis Zwickau leben etwa 320.000 Menschen. 54 von ihnen sind Mitglied bei der Partei Bündnis 90/Die Grünen. Bei den vergangenen beiden Bundestagswahlen hat die CDU in Sachsen alle 16 Direktmandate gewonnen.


Warum sind Sie ausgerechnet zu den Grünen gegangen?

Als ich nach dem Outing mein Leben so langsam neu geordnet hatte, kam dann bald auch die Frage: Wo verorte ich mich denn jetzt politisch? Zumindest bei jeder Wahl muss man sich ja entscheiden. Und dann spielte für mich das Thema Akzeptanz und Toleranz gegenüber Homosexuellen natürlich eine wichtige Rolle. Und da sind die Grünen tatsächlich die Partei gewesen, die das meiste für Leute wie mich getan haben.

Ein zweiter Grund war, dass ich einen alten Bekannten wiedergetroffen habe, der für die Grünen im sächsischen Landtag arbeitete. Durch Gespräche mit ihm ist bei mir das Denken in ökologischen Zusammenhängen geprägt worden, vor allem, dass ökologische Themen auch immer in sozialen Zusammenhängen stehen – als Sozialarbeiter bin ich dafür ja besonders sensibel.

Und so wurden der bewusste Konsum und das Einkaufsverhalten mehr und mehr auch zu meinen Themen. Und nach ein paar Jahren dachte ich, dann kann ich jetzt auch Mitglied bei den Grünen werden. Das war 2010.

Die Umfragewerte der Grünen sanken zuletzt wieder, auch weil die Partei vor allem für Nischenthemen wahrgenommen wird wie Gendertoiletten oder den Veggie-Day. Wären Sie in einer anderen Partei für die großen Themen nicht besser aufgehoben?

Die Grünen werden zwar nicht immer so wahrgenommen, aber sie sind eine Partei mit großer sozialpolitischer Kompetenz. Aber die großen Themen haben wir nun mal nicht exklusiv, und wir werden oft auf das reduziert, was uns abhebt. Aus meiner beruflichen Erfahrung habe ich aber gemerkt, wie wichtig die Grünen trotzdem sind. Sie waren die einzigen, die für uns Suchtberater ein offenes Ohr hatten und uns geholfen haben. Sie waren auch die, die Anfragen im Landtag gestellt und dafür gesorgt haben, dass das Thema Suchthilfe zumindest parlamentarisch beachtet wird. Bei den anderen Landespolitikern habe ich diesbezüglich immer nur wenig Sachverstand und Engagement festgestellt.

Und sieben Jahre nach ihrem Eintritt bei den Grünen werden Sie zum Kandidaten für die Bundestagswahl aufgestellt. War das so geplant?

Ich hatte eigentlich nicht vor, besonders aktiv zu sein. Es ging mir da auch mehr um eine kleine finanzielle Unterstützung. Das hat sich erst mit dem ersten Auftreten von Pegida geändert.

Was hat sich denn durch Pegida bei Ihnen geändert?

Für mich sah das schnell danach aus, als nimmt hier der Nationalsozialismus einen neuen Anlauf. An dem Sprachduktus, an den Botschaften, an dem Hasserfüllten habe ich erkannt, dass hier etwas Gefährliches passiert und dass sich dadurch ein Riss durch alle Freundes- und Familien- und berufliche Kreise gezogen hat, selbst durch die Caritas.

Im September 2015 habe ich dann beschlossen, ehrenamtlich als Deutschlehrer für Flüchtlinge zu arbeiten. Ich sah nur noch zwei Möglichkeiten: entweder die Nachrichten nicht mehr anzuschauen und die Augen zuzumachen – oder was zu unternehmen. So wurde ich Deutschlehrer bei der Diakonie, und daraus ergaben sich dann auch immer persönlichere Kontakte zu geflüchteten Syrern, die inzwischen auch freundschaftliche Beziehungen geworden sind.

Irgendwann brauchten diese Syrer Wohnungen in Zwickau, und ich habe beim Suchen geholfen. Das war schon ein prägendes Erlebnis, auf wie viel Fremdenfeindlichkeit durch Vermieter wir dabei gestoßen sind. Obwohl es eine Fülle an leerstehenden Wohnungen in Zwickau gibt, habe ich ein halbes Dutzend Mal gehört: Ausländer will man nicht im Haus, aus Angst, dass es dann Ärger gibt.

Selbst unter Kollegen habe ich mich damals einige Mal fremd gefühlt, wegen ihrer Vorbehalte gegen Flüchtlinge. Aber das hat sich durch persönliche Begegnungen schnell geändert und ins Positive umgekehrt.

Inzwischen haben meine zwei syrischen Freunde, zwei ganz höfliche junge Männer, seit über einem Jahr eine Wohnung und da gab es nie Probleme, im Gegenteil, sie sind beliebt im Haus und haben inzwischen auch eine berufliche Perspektive als Altenpfleger und Azubi in einem Autohaus. Und nicht wenige von denen, die so große Bedenken gegenüber Flüchtlingen hatten, sind jetzt selbst in der Flüchtlingshilfe aktiv.

Wie sah denn ihr Engagement für die Partei bisher aus und was hat sich durch die Kandidatur geändert?

Ich habe mich immer zurückgehalten mit Aufgaben in der Parteihierarchie, mich nicht in Vorstände wählen lassen und so, weil ich aus Kirchgemeinden kenne, wie schnell der Terminkalender dann voll ist.

Aber je mehr die ganze Gesellschaft durch Pegida politischer wurde, desto öfter bin ich dann auch bei Veranstaltungen der Grünen ein- und ausgegangen, habe mitdiskutiert, und dann lernt man sich ja auch persönlich kennen. Vor eineinhalb Jahren habe ich dann für die Zwickauer Grünen organisiert, dass wir gemeinsam nach Berlin fahren und an der Anti-TTIP-Demonstration teilnehmen, und auf diese Art ist das Engagement immer weiter gewachsen. Und 2014 war dann Landtagswahl und ich habe mit Plakate geklebt.

Macht der Kreisverband Ihnen Vorgaben beim Wahlkampf?

Nein, da habe ich völlige Freiheit. Mein Kernthema wird die Verteidigung der liberalen Gesellschaft sein. Wir sind ein kleines Häuflein von Idealisten. Wir geben uns nicht der Illusion hin, dass man ganz, ganz viel erreichen kann. Aber wir wollen zumindest tun, was möglich ist.

Und inzwischen sehe ich auch das Positive, das Pegida ungewollt ausgelöst hat: Durch die Grünen und die Flüchtlingshilfe habe ich Leute kennengelernt, denen ich vielleicht nie begegnet wäre, und dadurch sind Freundschaften und Netzwerke entstanden, die Bestand haben.


Wetzel ist gut darin, Kontakte zu knüpfen, sich zu vernetzen. Während er meine letzten Interview-Fragen beantwortet, bindet er bereits die Schuhe zu, zieht die Jacke an, er muss nach Mittweida fahren, wo er an der Fachhochschule eine Prüfung abnimmt, eine Bachelor-Arbeit zum Thema Crystal Meth. Wetzel hat in den vergangenen Jahren wesentlich dazu beigetragen, dass sich jene Akteure der Region, die sich um Drogensüchtige kümmern und Präventionsarbeit leisten, besser koordinieren und öfter austauschen – von der Lehre über die Sozial- und Jugendämter, Streetworker, Suchtberatungen und -kliniken. „Man muss seine Grenzen kennen. Man muss aber manchmal auch ein bisschen darüber hinausgehen können“, sagt er.

Zum Abschied hat er dann doch noch eine kleine grüne Nerverei für den vielfliegenden Reporter, ökologischer Fußabdruck und so: „Also, ich hab mir als Regel gesetzt: Ich flieg’ nur einmal pro Jahr.“


Foto: Ralph Köhler; Redaktion: Esther Göbel; Produktion: Vera Fröhlich,