„Anfang des Jahres bin ich krank gewesen, ich hab’ Fieber bekommen, und als ich wieder aufgewacht bin, war ich SPD-Mitglied“, sagt Ralf Schieferdecker. Ralf ist 30 Jahre alt, das Haar wird schon ein bisschen licht, aber er lächelt so spitzbübisch, dass man ihn am liebsten in den Schwitzkasten nehmen würde. Er stammt aus Dresden, ich habe ihn beim Studium in Jena kennengelernt, Geschichte und Politikwissenschaft, und am Sonntag habe ich ihn zufällig in Leipzig getroffen, bei der Regionalkonferenz der SPD, in der er seit Neuestem Mitglied ist.
Ja, ja, ist nur ein Scherz gewesen, mit dem Fieber, natürlich. Aber eigentlich auch eine passende Metapher für die Entwicklung der großen Volkspartei, die so lange in Muttis Schatten stand, bei Umfragewerten um die 20 Prozent dümpelte.
Die Bundestagswahl im September – das Thema schien doch schon so durch wie die Bundesliga-Meisterschaft für die Bayern. Dann zaubert die halbtot-gegabrielte SPD den Schulz Martin aus dem Straßburger Hut und alles steht Kopf. Zum ersten Mal seit elf Jahren liegen die Sozialdemokraten bei der Sonntagsfrage wieder vorn. Plötzlich haben die Sozen einen Arbeiterkaiser; den notorischen Nicht-Abiturienten, Ex-Alkoholiker, Ex-Fußballer, Buchhändler, Bürgermeister und designierten Wunderkanzler aus Würselen.
Am Sonntag war er in Leipzig, wo er seine politischen Vorstellungen der Basis und allen Interessierten vorstellen wollte. Aus „Hypezig“, der Boomstadt im Nordwesten Sachsens, kommt zurzeit ja auch die einzige nennenswerte Bayern-Konkurrenz, also mal sehen, ob dem Schulz hier Flügel wachsen oder ob der Hype doch nur eine Fieberkurve der Demoskopen ist.
Die Kirchenglocken läuten
Sonntag, 12 Uhr. Der Einlass hat noch nicht mal begonnen, die Veranstaltung soll erst in einer Stunde losgehen, aber vor dem Kunstkraftwerk in der Nähe der hippen Karl-Heine-Straße, wo Leipzig sich gerade bis an die Eierschecken durchgentrifiziert, steht schon eine lange Schlange, schön geordnet in Zweierreihen.
Junge Pärchen, alte Leute, Studenten, Männer mit grauen Haaren, ab und zu ein roter Schal. Alle wirken frisch geduscht und haben die Sonntagsklamotten an. Rund 800 Leute sind gekommen, um Martin Schulz zu sehen. „Zeit für Martin“ heißt das dann im Werbesprech der SPD, die seit zwei Wochen offiziell im Wahlkampf ist, die legendäre Wahlkampfzentrale Kampa hat die Galerien des Willy-Brandt-Hauses bezogen.
Demokratie ist kein Geschenk, man muss dafür kämpfen.
Hanna Schmid
Die Kirchenglocken beginnen zu läuten, und so fühlt sich das auch irgendwie an: Als würden die Leute auf den Beginn des Gottesdienstes warten, an einem zu warmen Heiligabend. Ach, du auch hier?
Der Kontrast zu anderen gutbesuchten politischen Veranstaltungen in Sachsen ist jedenfalls sehr groß. Der wütende Mann ist nicht da, der beleidigte deutsche Michel und seine geifernde Frau auch nicht. Am Eingang zum Grundstück ein paar Merkel muss weg!-Aufkleber. Ansonsten haben sich hier alle lieb.
Drinnen stelle ich mich zu einem Mann, der allein mit seinem kleinen 3,50-Euro-Pils aus dem Plastikbecher an einem Stehtisch lehnt und beobachtet, wie sich die alte Maschinenhalle füllt. 2009, fällt mir da ein, als Sigmar Gabriel noch Umweltminister war, da habe ich ihn mal bei der Cebit in Hannover gesehen, wo ich für einen Caterer gearbeitet habe.
Gabriel ließ sich herumführen wie ein Sonnenkönig, und der Spruch von ihm, der zwar nicht in der Zeitung stand, aber den sich meine Kollegen und ich merkten, war: „Das nächste Mal, wenn der Umweltminister zu Besuch kommt, sollten Sie ihm vielleicht die Getränke nicht im Plastikbecher anbieten.“ Naja. Jetzt ist der Parteivorsitzende halt Wirtschafts-, ach nee, Außenminister.
„Erst mal gucken, wie der sich so anstellt“
Mein Mann mit Bier jedenfalls ist nicht zum Meckern gekommen. Er heißt Stefan Hartung, ist 56 Jahre alt, stammt aus München, arbeitet seit 25 Jahren als Rechtsanwalt in Dresden und ist vor vier Wochen in die SPD eingetreten.
SPD habe er schon immer gewählt, wegen Willy Brandt und Egon Bahr, deren Reformpolitik die Wiedervereinigung erst möglich gemacht hätten, sagt Hartung. Aber jetzt „reicht es nicht mehr, nur zur Wahl zu gehen, sondern man muss die demokratischen Parteien unterstützen – dabei ist es auch gar nicht so wichtig, ob das CDU, SPD oder Grüne sind. Aber es ist Zeit, Farbe zu bekennen.“
Dass der Martin Schulz so einen Hype auslöst, das habe er nicht erwartet. „Erstmal gucken, wie er sich so anstellt. Aber er ist geradeheraus und sagt, was er denkt. Man kann ihm, glaube ich, attestieren, dass er eine ganz klare Linie fahren wird.“
Ein paar Stehtische weiter spreche ich eine junge Frau an, die mit ihren Eltern gekommen ist. Sie heißt Hanna Schmid, stammt aus Leverkusen, ist 20 Jahre alt, studiert Jura in Halle an der Saale und hat die Eltern, die auf Wochenendbesuch bei der Tochter sind, kurzerhand zum Schulz mitgenommen.
Der Vater ist aufgeregt, bald sind drinnen alle Stühle besetzt, die Mutter platzt vor Stolz über ihre Tochter, die Dinge sagt wie: „Demokratie ist kein Geschenk, man muss dafür kämpfen.“
„Wir haben ja auch immer SPD gewählt, aber jetzt sehen wir das schon nochmal mit anderen Augen“, sagt die Mutter.
Der Mittelfinger von Salzgitter
Hanna ist seit eineinhalb Jahren SPD-Mitglied. Mit Martin Schulz, sagt sie, gebe es endlich wieder eine Alternative zu Angela Merkel. „Inhalte sind wenig wert, wenn die Politiker menschlich nicht überzeugend sind“, sagt sie. Bääm, eine Analyse wie ein Schlag in die Magengrube Gabriels, der ein ebenso brillanter Redner wie Martin Schulz sein mag und ein genialer Parteistratege, der aber immer dann am widerlichsten wirkte, wenn er am menschlichsten war. Sein „Pack“-Spruch über die Demonstranten in Heidenau. Der Mittelfinger von Salzgitter.
Das kam nicht gut an hier im Osten, denn hier kann man nach so einem Ausraster nicht einfach in die gepanzerte Limousine steigen und wegfahren. Hier kriegt man dann im Zweifelsfall aufs Maul. Martin Schulz dagegen sagt: „Ich habe Verständnis für diejenigen, die unzufrieden sind.“ Und das klingt empathischer und mehr nach einem, von dem man sich wünscht, dass er das Land regiert.
„Ich kenne diese Welt auch von ganz unten“, sagt Schulz, das ist der melodramatische Höhepunkt seiner Rede, die Stelle, bei der er am leisesten spricht. Die Falten, die sich dann auf seiner Stirn bilden, sind die gleichen, die sich zeigen, wenn er über Gerechtigkeit redet. „Die SPD ist die Partei, die die Menschen zusammenführt“, sagt er.
Und es klingt nicht so, als wollte er die einfangen wollen, am rechten Rand fischen. Es klingt so, als wüsste er, dass es Gründe dafür gibt, warum Leute so geworden sind, wie sie sind. Und vor allem kann man mit dem ausgestreckten Mittelfinger keinen Anstand einfordern.
Hanna jedenfalls wünscht sich einen Politikwechsel. Mehr linke Bundespolitik. Das Thema Arbeit im Mittelpunkt. Ehe für alle. Adoptivrecht für Homosexuelle. Bezahlbaren Wohnraum, Verteilungsgerechtigkeit. Mehr Bafög.
„Das geht runter wie Öl“
„Junge Leute haben eine schwache Lobby in der Politik“, sagt sie, deshalb sei es wichtig, sich jetzt politisch zu positionieren. Und Hanna tut das bei der SPD, „weil es die älteste demokratische Partei ist, der sehr viele Menschen sehr viel verdanken.“
So wie Hanna vor Pathos glüht, strahlt Gundula Schubert gleich nebenan auf ihrem SPD-Sitzkarton. Gundula kommt aus Zwickau, wo sie früher für einen soziokulturellen Verein gearbeitet hat. Vor zwei Jahren ist sie in die SPD eingetreten und arbeitet jetzt im Bürgerbüro der sächsischen Landtagsabgeordneten Iris Raether-Lordieck in einer Kleinstadt im Erzgebirge.
Ich kenne Gundula seit ein paar Jahren, sie wirkt eigentlich fast immer, als wäre sie auf einer Sonnenblume eingeschwebt, aber heute singt die 35 Jahre alte Mutter zweier Kinder geradezu innerlich. „Wir merken es im Kreisverband, dass es da mehr Eintritte gibt. Das geht natürlich runter wie Öl, gerade bei denen, die schon 20 Jahre lang bei der SPD mitmachen. Wir sind natürlich auf einer Euphoriewelle, endlich hat man wieder das Gefühl, dass die Genossen mal wieder was wuppen können.“
In Sachsen hat die SPD rund 4.500 Mitglieder. Seit Anfang des Jahres sind nochmal rund 230 dazu gekommen, 83 davon allein in Leipzig.
Der Martin Schulz habe ihr schon zu seiner Zeit im Europaparlament gefallen. „Hart in der Sache, freundlich im Ton.“
Später, als Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung an diesem Sonntag für Martin Schulz einheizt, gibt es den meisten Applaus für diesen Satz: „Martin Schulz ist durch und durch Europäer.“ Zuvor sagte Jung, der seit elf Jahren Leipzigs Rathaus führt: „Dieser Mann verkörpert etwas, was mir tiefen Respekt abverlangt: Er ist durch und durch Mensch.“
So ähnlich hatte das auch der Comedian Olaf Schubert in der ZDF-heute-show am vergangenen Freitagabend gesagt: „Man könnte ja fast glauben, der ist ein Mensch.“ Das sagt natürlich deutlich mehr über andere Politiker aus als über Schulz.
Die wehrhafte Demokratie muss nicht mehr nur auf der Straße rumstehen
Ralf, der der SPD im Fieber beigetreten ist, sagt: „Ich habe mich noch gar nicht richtig mit Schulz beschäftigt. Aber er hat den Glauben zurückgebracht. Gestern war ich bei einem Frühstück für SPD-Neumitglieder, und da saßen zehn Leute, alle zwischen 16 und 30 Jahren. Wir sehen einfach die Demokratie bedroht. Gerade hier im Osten herrscht ein großes Unverständnis dafür, was Demokratie eigentlich ausmacht, dass es Partizipation braucht – und dass der Zivilgesellschaft auch viel zu wenige Möglichkeiten dafür geboten werden. Es driftet alles nach rechts, und das verhindert man nicht, in dem sich das Bildungsbürgertum bei einem Glas Wein gegenseitig gut zuredet. Schulz hat das Eis gebrochen. Und er ist auch einer der wenigen, die glaubhaft vermitteln können, wie wichtig eine europäische Wertegemeinschaft ist.“
Während wir miteinander reden, läuft in der ehemaligen Maschinenhalle die sogenannte Arbeitsphase. Die Anwesenden schreiben auf Kärtchen und Plakate, welche Themen ihnen wichtig sind. Am häufigsten steht da das Thema Bildung.
Schulz erklärt in seiner Rede, dass er auf seiner aktuellen Deutschlandtour diese Vorschläge einsammelt, um daraus das Wahlkampfprogramm zu machen und konkrete politische Ziele auszuarbeiten. „Kostenlose Bildung, von der Kita bis zum Studium“, gehöre aber auf jeden Fall dazu. Er will zudem mehr Investitionen in Infrastruktur und im Pflegebereich. Der Begriff Agenda 2010 fällt nicht.
Schulz klingt ein bisschen wie Kermit der Frosch. Er wirkt besorgt, nicht verbittert. Und er lacht auch ab und zu. Er schreit nie. Und seine Sprache ist einfach, ohne anbiedernd zu wirken. Keine Fremdwörter, aber auch keine Schimpfwörter. Man muss sich nie fragen, wie er das denn jetzt eigentlich gemeint hat.
Ansonsten ist Schulz Rede vor allem eine Grundsatzrede. Und die Leipziger feiern Schulz auch nicht wie einen Messias. Sie freuen sich über ihn. Die vergangenen Jahre haben, vielleicht nirgendwo stärker als in Sachsen, zu einer Polarisierung der Gesellschaft geführt, die sich durch Familien und Arbeitsplätze und Sportvereine und Wandergruppen gezogen hat. Pro oder kontra, linksgrünversiffter Gutmensch oder rechtsbekloppter Pegidist, wenig Mittelfeld dazwischen.
Hier, im Kunstkraftwerk, wirkt es so, als wäre auch viel Erleichterung dabei, dass es mit der SPD dann doch noch ein bürgerliches Sammelbecken gibt, in der sich die wehrhafte Demokratie im Sonntagsstaat versammeln kann, zivilisiert und gutgelaunt, statt immer nur pathetisch auf der Straße rumzustehen.
Aber die Arbeit geht jetzt erst los, ist der Tenor. Und vielleicht ist da auch immer noch ein wenig Restskepsis, dass der Schulz doch noch den Gabriel machen könnte.
Illustration: Sibylle Jazra für Krautreporter; Fotos: Christian Gesellmann; Redaktion: Esther Göbel; Fotoredaktion: Martin Gommel; Produktion: Vera Fröhlich.