Was vor fünf Wochen in Berlin geschah, sah wie ein naiver Akt des politischen Selbstmordes aus: Denn da nahm sich ein französischer Spitzenpolitiker mitten im Wahlkampf um das Präsidentenamt zwei Tage Zeit, um Deutschland zu besuchen. Und sich hier mit Flüchtlingen fotografieren zu lassen. Und für das europäische Projekt zu werben. Auf Englisch. Er tat das mitten in einem Wahlkampf, den die Zuwanderungskritiker, Europaskeptiker und Einigeler beherrschen. Und doch könnte dieser Politiker der nächste Präsident der französischen Republik werden. Sein Name ist Emmanuel Macron.
Wenn er die Wahl gewinnt, dann nicht trotz solcher Besuche, sondern gerade deswegen. Der 39 Jahre alte Macron hat es geschafft, mit einem pro-europäischen, weltoffenen und gesellschaftlich progressiven Programm die Spitzen der Umfragen zu erobern. Macron hat sich zwar in den letzten Tagen viel Kritik für eine Äußerung über Frankreichs Kolonialzeit anhören müssen. Aber trotzdem könnte er noch immer so viele Stimmen gewinnen, dass er in einer zweiten Runde auf Marine Le Pen, auf die Chefin des weit rechtsaußen gelegenen Front National treffen könnte. Und für diesen Fall sehen die Umfragen ihn deutlich in Führung. Dabei war Macron noch vor zwei Jahren nur ein unscheinbarer Wirtschaftsminister. Wie konnte ihm dieser famose Aufstieg gelingen?
Macron stößt in Milieus vor, die anderen Politikern verschlossen bleiben
Wer sich mit Julius Nürnberger (Foto oben links, zusammen mit Thomas Lehmann) unterhält, kann das leicht verstehen. Der 21-Jährige ist Franke, kann am 23. April in Frankreich gar nicht wählen gehen und von seinem kleinen Heimatort Arzberg bis zur französischen Grenze sind es stattliche 330 Kilometer Luftlinie (bis zur tschechischen nur fünf). Und doch: Wenn er über Macron redet, greift er zu großen, warmen Worten. Zu „Inspiration“ und zu „Mut“. Zu „Feuer“ und zu „Herz“. Er sagt, einer wie Macron habe das Zeug dazu, Europa aus seiner Lethargie zu reißen, die Menschen mitzunehmen und Brücken zu schlagen zwischen Lagern, die sich heute nur noch schreiend anschweigen. Wenn einer so schwärmt, dann ist er verfallen. Und das ist die erste Eigenschaft, die Macron in diesen Wahlkampf einbringt und ihn nach oben spült: Er ist ein Charismatiker mit dem klaren, zielstrebigen Auftreten eines Menschen, der noch etwas vorhat. Damit kann er die Menschen mitreißen und begeistern.
Es gelingt ihm so, in Bereiche vorzustoßen, die anderen französischen Politikern verschlossen sind. Nürnberger hat ein Jahr in Paris an der Science Po Politikwissenschaft studiert und dort eine tiefe Beziehung zu dem Nachbarland und zu seinem Heimat-Kontinent aufgebaut. „Europa hat mir Mut gegeben, offen auf Menschen zuzugehen. Das will ich zurückgeben, deswegen engagiere ich mich für Emmanuel Macron“, sagt er.
Macron ist es in den vergangenen 20 Monaten gelungen, eine Bewegung aufzubauen, die sich von den großen Städten ausgehend in alle Ecken Frankreichs und weit darüber hinaus ausgebreitet hat. Dabei ist er nicht der Kandidat einer der traditionellen französischen Parteien, nicht der Sozialisten, die gerade mit Francois Hollande noch den Präsidenten stellen. Und auch nicht der Konservativen, die sich Hoffnungen machen, wieder die Macht zu übernehmen. Macron hat seine Bewegung „En marche“ („Vorwärts!“) genannt und versammelt regelmäßig tausende Menschen zu Großkundgebungen, auf denen sie ihn frenetisch feiern. Im Publikum schwenken die Besucher kleine Fähnchen: die Trikolore und die Flagge der Europäischen Union. Und auf der Bühne zeichnet Macron das Bild eines Frankreichs, das der Welt und der Zukunft zugewandt ist. Es ist ein starker Kontrast zu dem steifen Patriotismus, der die Wahlveranstaltungen seines konservativen Konkurrenten François Fillon beherrscht.
„Was die Leute vereint, die für Macron sind: Sie glauben, dass eine bessere Welt möglich ist und man nicht nur auf die Vergangenheit zu starren braucht“, sagt Olivier Fleckinger, ein 37-jähriger Franzose, der vor ein paar Jahren nach Berlin gezogen ist und sich dort in der lokalen En-Marche-Gruppe engagiert. Er lebt mit seiner Partnerin in einer kompakten Wohnung genau dort, wo sich die Berliner Stadtbezirke Neukölln und Kreuzberg treffen. Das Wohnzimmer geht nahtlos in die Küche über. Mehrere Computer stehen auf einer Arbeitsplatte, dazwischen geschäftliche Unterlagen. Zwei Bücherregale begrenzen das Zimmer, auf einem Tischlein in der Mitte spiegeln sich die aktuellen Interessen von Olivier und seiner Freundin. Sie liest eine Biografie über Angela Merkel und ein Buch über den britischen Blick auf Berlin. Er ein Sachbuch über die Industrie 4.0 aus Sicht der deutschen Industrie. Sie schreibt gerade ein Buch über das Berliner Lebensgefühl, er ist Digitalunternehmer, hat schon mehrere Firmen in Deutschland und Frankreich aufgebaut.
Frankreich hat drei große Probleme: die Wirtschaft, das System, die politische Kultur
Olivier trägt eine Brille. Sein Deutsch ist nahezu perfekt. Olivier meint, dass Frankreich drei große Probleme habe – und alle Probleme erkenne Macron. Das sei dessen Vorteil.
Problem eins, die Wirtschaft: Die Jugendarbeitslosigkeit sei hoch, das Arbeitsgesetz rigide, der unternehmerische Muskel des Landes erschlafft. Olivier erzählt in diesem Zusammenhang von seiner eigenen Erfahrung: Als es einer seiner Firmen schlecht ging und er Leute entlassen musste, um überhaupt zu überleben, war er sehr froh, das Unternehmen in Deutschland gegründet zu haben. „Denn in Frankreich hätte diese Situation für mich wahrscheinlich die Insolvenz bedeutet.“ Es hätte Minimum sechs Monate gedauert, Stellen zu streichen, er hätte Abfindungen zahlen und jederzeit mit einer Klage rechnen müssen, sagt Olivier. Unter dem Strich bis zu 40.000 Euro Kosten für jeden Angestellten. Für eine kleine Firma zu viel.
Problem zwei, das politische System: Durch das französische Mehrheitswahlrecht schaffen es Ideen, die in der Gesellschaft kreisen, nur sehr selten in das Parlament und in das politische Programm der Präsidenten. Zum Beweis verweist Olivier ausgerechnet auf den Front National. Dessen Vorsitzende Marine Le Pen führe zwar die Umfragen an, dennoch habe die Partei nur zwei Sitze im Parlament.
Und schließlich Problem drei, die Einstellung der Politiker: „In Frankreich ist die politische Landschaft so verkrustet, dass kaum etwas möglich ist.“ Links und Rechts schlügen ideologische Schlachten, arbeiteten aber viel zu selten zusammen. „Es gibt keine Verhandlungskultur“, sagt er. Macron kann das ändern. Er sei wie der legendäre General und Präsident Charles de Gaulle: Anführer einer Bewegung, überparteilich. Einer, der deswegen das Land vereinen könne.
Nun gehören Verweise auf den großen de Gaulle zur politischen Kultur Frankreichs wie Anspielungen auf das „Mehr Demokratie wagen“ von Willy Brandt zur politischen Kultur Deutschlands. Aber ganz aus der Luft gegriffen sind die Vergleiche nicht. Es gab zwar schon vor Macron Politiker in Frankreich, die sich unabhängig gaben – François Bayrou 2007 zum Beispiel – aber keiner von ihnen war der Macht so nahe wie Macron mit seinen inzwischen 190.000 Mitstreitern in der Bewegung. Allerdings: Zieht nicht er, sondern der konservative Fillon in die Stichwahl gegen Marine Le Pen ein, könnte diese die neue Präsidentin werden. Fillon stehe mit seinem Korruptionsskandal „für alles, was viele Wähler gerade verabscheuen“, wie Olivier es ausdrückte. Nur Macron schafft es wie die Rechtsnationalen Menschen für sich zu gewinnen, darunter viele Nichtwähler. So würde er dem Front National auf einem wichtigen Feld Paroli bieten können: der Mobilisierung der Franzosen.
Macron macht nur wenige, ganz konkrete Politik-Vorschläge. Frankreich müsse endlich sein Sozial- und Arbeitssystem reformieren. Den Kündigungsschutz lockern und Arbeitgebern mehr Freiraum geben. Damit das Land wieder schneller wachse. Dann müsse es einen neuen Schulterschluss mit Deutschland und den anderen europäischen Ländern suchen: Er würde gerne das Erasmus-Programm auch auf Auszubildende aus ganz Europa ausdehnen, damit nicht nur junge Akademiker den Kontinent kennenlernen. Seiner Meinung nach sollte der europäische Grenzschutz ausgebaut werden, mit allein 5.000 zusätzlichen Gendarmen aus Frankreich. Es brauche einen europäischen Fonds zur Förderung der Start-up-Szene auf dem Kontinent, und schon 2015 machte er sich in einem Interview der Süddeutschen Zeitung für eine deutliche Vertiefung der Europäischen Integration stark: Die EU solle eine eigene Steuer bekommen, die Euro-Zone einen eigenen Kommissar und ein eigenes Parlament.
Olivier Fleckinger: „Macron versteht, wie das politische System in Deutschland funktioniert.“ Deswegen könne er Europa vielleicht eher reformieren. „Er weiß, dass Deutschland ein föderales Land ist mit starken Bundesländern, anders als Frankreich.“ Außerdem sei er besser darin, deutsche Befindlichkeiten einzuschätzen: „Bisher haben die französischen Politiker immer darüber geredet, wie sie die Deutschen zwingen wollen, dieses oder jenes zu tun. Aber Macron ist pragmatisch. Er weiß: Gegen Deutschland wird nichts passieren, nur mit ihm.“
Wenn Macron gewinnt, wird die EU reformiert – so die Hoffnung seiner Anhänger
Julius Nürnberger hofft darauf, dass mit einem Präsidenten Macron die europäische Sache auf dem ganzen Kontinent wieder an Schwung gewinnt, dass es ihm gelingen könne, mit seiner Persönlichkeit und seinem Charisma, ganz grundsätzlich erstmal wieder für die Idee Europa zu öffnen. „Eine Stimme wie er fehlt, wie wir beim Brexit gesehen haben. Eine Stimme, die eine überzeugende, positive Vision von Europa präsentieren kann.“ In Deutschland hofft Nürnberger darauf, dass der SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz diese Stimme wird.
Nürnberger steht damit fest mit beiden Beinen auf der einen Seite einer Konfliktlinie, die sich gerade anschickt, die bestimmende der westlichen Gesellschaften zu werden: Hier jene Weltbürger, die sich mehr Weltoffenheit wünschen, die Migration und Globalisierung nicht per se kritisch gegenüberstehen, und dort jene, die auf die Bedeutung der nationalstaatlichen und in einigen Fällen auch ethnischen Grenzen pochen. Sozialforscher wie der Berliner Wolfgang Merkel sehen hier „Kosmopoliten“ auf „Kommunitaristen“ treffen.
Nürnberger kennt diese Zerrissenheit, aber für ihn ist sie sehr konkret. Als er in Paris ankam, hockte er die ersten Tage nur in seinem Zimmer, traute sich kaum auf die Straße und aß schlecht. „Ich konnte nicht kochen und kaum Französisch. Ich hatte Angst, mit Leuten zu reden“, sagt er. „Wenn man so will, war das der Weg des Front National. Aber dann habe ich einen Entschluss gefasst.“ Wie er das erzählt, wechselt er plötzlich vom „Ich“ ins „Wir“, mitten zwischen den Sätzen. Das fränkische R rollt wieder: „Der Entschluss: Wir machen das so nicht. Wir gehen jetzt den richtigen Weg. Wir gehen in die Universität, zeigen es den Dozenten und dann gehen wir nach Hause und kochen ordentlich etwas auf!“
Redaktion: Esther Göbel; Produktion: Vera Fröhlich; Fotoredaktion: Martin Gommel.