Seit einem Monat lebe ich als „guter“ Deutscher, um herauszufinden, wer wir eigentlich sind. Das bedeutet: Ich esse nur deutsch, ich kleide mich deutsch, meist in Hemden und engen Pullovern von Hugo Boss (viel zu teuer) bis Camp David (viel zu billig), ich meckere Falschparker an, dass sie erschrocken zur Seite springen, ich beschwere mich fortlaufend über das Wetter, meckere also über die Sonne, wenn man sie mal sieht, und dass mir zu warm ist. Nur meine Frau verschone ich: Sie hat mit Trennung gedroht.
Seit vier Wochen kaufe ich nur in deutschen Läden, nur regionale Lebensmittel. Und ja: Das macht einen einsam. Anfangs fanden es alle ja schrecklich lustig und kamen sogar zum Essen. Jetzt finden sie es doof oder egal oder ich weiß auch nicht.
Im Alltag versuche ich, erst Angst vor den Dingen zu haben, und wenn mich etwas überzeugt hat oder es nicht mehr anders geht, bin ich plötzlich dafür und behaupte, dies sei schon immer meine Einstellung gewesen. Ich lese die Bild-Zeitung. Wobei: Lesen ist falsch. Ist ja kaum Text drin. Also betrachte ich die Bild-Zeitung und blättere darin, wie die anderen Kunden morgens beim Metzer, und sage, wenn ich sie durch hab’, dass ich sie nie kaufen würde – stehe schließlich nichts drin in dem Blatt.
Ansonsten habe ich, wegen der vielen Rouladen, Kassler, Schnitzel, Thüringer Klöße und Braten, die Tendenz bei mir festgestellt, unheimlich anfällig für Salat-Werbungen zu sein, in denen Wassertropfen von Tomaten perlen. Ich fühle mich mittlerweile wie das Ausgestopfte in einer Weihnachtsgans. Wenn ich etwas vom Schwein kaufe, ist da jetzt meist ein Bild mit dabei: Schwein und Bauer, glücklich und vereint auf der grünen Wiese. Er: kariertes Hemd, fröhliches Gesicht und Mistgabel. Das Schwein nicht. Steckdosennase und ausdruckslose Augen. Bilder einer ungleichen Freundschaft.
Ich habe an urig-dunklen Tischen gesessen in urig-dunklen Kneipen und „zu bedenken gegeben“, dass Flüchtlinge auch Probleme ins Land bringen. Dafür habe ich Ablehnung kassiert von meinen Freunden, und Zustimmung geerntet von Fremden: von Männern mit grauen Gesichtern und Schnurrbärten und Frauen, die das Leben gezeichnet hat wie Messer ein oft benutztes Küchenbrett.
Und ja: Ich habe Post bekommen. Was das bitte sei, ein „guter Deutscher“, ob ich bescheuert wäre; Scheißüberschrift; ich sei ein Nazi, ich sei asozial; ich sei anti-deutsch; so dürfe man nicht über Deutschland reden, so müsse man über Deutschland reden, ich solle sofort aufhören (zieht bei Journalisten super, der Spruch) oder gerade weitermachen – dass ich krank sei und man bei meinem Gehirn nicht von Masse reden könne, sondern im Gegenteil: von Spatzenhirn. Was übrigens ein hübsches Wort ist. Spatzenhirn. Von alledem: nichts. Schätze ich jedenfalls. Beim Arzt war ich nicht extra.
Soweit die Spielregeln. Jetzt stehe ich hier im Schneematsch und betrachte das Tor und den hölzernen Überbau und die Scheinwerfer, diese alten, blinden Augen, und das Tor, scheint mir, betrachtet mich. An seiner Gittertür steht: Jedem das Seine. Wenn die Suche nach meinem Heimatland irgendwo beginnt, dann hier: zwischen Buchenwald und Weimar.
Exkursion in die eigene Geschichte
Ich muss vielleicht ein wenig ausholen: Viele haben mich gefragt, warum ich mir diese bescheuerten Spielregeln setze – nur deutsch essen und kaufen und so: Es geht dabei nicht nur darum, wie ein AfD-Deutscher rumzulaufen und zu überlegen, wie das wohl wäre ab September, mit der AfD in absoluter Mehrheit (Gedankenspiel). Ich versuche auch, mich selbst zu begrenzen; so, wie in meiner Kindheit vieles begrenzt war und meine Nachbarn zwischen ihren deutschen Rabatten ihre deutschen Steinwege in den Garten pflasterten.
Wozu ich ausholen wollte: Ich komme vom Dorf. Einem deutschen.
In unserem Ort gab es schätzungsweise so viele Kühe wie Einwohner, einen Badesee, zwei Gaststätten (nur deutsche Küche), einen Reiterhof (große, blonde Reiterfrauen in Steppwesten), und der Bus brauchte zwar nicht lange bis zur Schule, fuhr aber dafür fast nie.
Irgendwann ließ der Ortsbürgermeister vor unserem Haus eine Bushaltestelle mit Dach bauen, und da ich der Einzige war, der sie überhaupt nutzte, freute ich mich und übte mit Freunden Sprayen, wenn die Dämmerung über dem Feld lag. Es war, wenn man das mir zur Verfügung stehende Freilaufgehege betrachtete, eine glückliche Kindheit wie bei Michel aus Lönneberga, abgesehen davon, dass Michel andauernd von seinem jähzornigen Vater geschlagen und in den Schuppen gejagt wird.
Wir waren nicht sehr beliebt in dem Dorf. Meine Mutter war berufstätig, obwohl wir noch klein waren, ein Unding für die anderen Mütter, die fanden: Mutter könne man ausschließlich hauptberuflich sein. Diese Eltern kochten deutsch, lebten deutsch, erzogen ihre Kinder deutsch. Im Sommer grillten sie hinter den Häusern, man roch und hörte das Grillzeug spritzen und knistern, und sie luden nicht uns ein, sondern die, die es verdient hatten. Ihre Häuser waren dann vorne dunkel wie Puppenhäuser, in denen ein vergessenes Tonband lief. Obwohl hüfthohe Mauern ihre Grundstücke umgaben, wirkten die Häuser wie Festungen: Man blieb unter sich und seinesgleichen.
Eine nennenswerte Interaktion mit der Nachbarschaft war, dass mir die Dorfjugend, die ansonsten mit Mofafahren und Dosenbiertrinken beschäftigt war, in regelmäßigen Abständen bei Dorffesten eins in die Fresse in Aussicht stellte. Über meinen kleinen Bruder erzählten die anderen Mütter, er würde Kinder mobben und seine Lehrerin ausschließlich mit „Fick Dich“ anreden. Im Dorf war entweder Sommer oder Winter, Frühling, so erinnere ich mich zumindest, gab es nicht, ein paar Mal war Herbst.
Die meisten Eltern auf den Dörfern guckten nicht so genau hin, was ihre Jungen da trieben. Sie wollen nur spielen, hieß es. Spielen = eins in die Fresse „spielen“. Kam das Thema auf Auseinandersetzungen, sagten die Großväter gern: So waren wir als Jungen doch auch immer! Meist verteidigten diejenigen deutschen Eltern ihre deutschen Kinder am meisten, die im Dorf etwas zu verlieren hatten.
Zurück in der Gegenwart, also jetzt, betrachte ich den Spruch Jedem das Seine am Eingang des ehemaligen Konzentrationslagers Buchenwald. Es ist nicht nur diese zynische Botschaft, es ist auch ein völliges Desinteresse darin enthalten. Was sehr interessant ist, denn auch die Bevölkerung von Weimar hatte sich lange gegen das Konzentrationslager in der Nähe gewehrt. Allerdings nicht gegen das Inhaftieren und den Massenmord durch die SS: Man wollte nur nicht in Verbindung gebracht werden mit diesem „Gesocks“, weil man fürchtete, der guten Ruf und Name der Stadt würden leiden, stand er doch für Goethe, argumentierten die Kulturschaffenden der Stadt. Als die SS das Lager 1937 errichten ließ – auf dem Ettersberg, nur wenige Minuten von der Stadt entfernt – mussten sie es umbenennen, weil Weimar mit seinen Kulturschätzen zu wichtig war für die NS-Propaganda: Heinrich Himmler ließ den Namen daraufhin von „KZ Ettersberg“ in „KZ Buchenwald“ umbenennen, einen Stadtteil von Weimar, den es heute zwar gibt, der damals aber nicht existierte und so unbelastet war.
Diese Scheinheiligkeit war auf unserem Dorf auch weit verbreitet. Schlugen die Jungs der Dorfjugend jemanden kaputt: Pech. Hatte der wohl angefangen. Alle schauten weg. Machte hingegen ein Ausländer Stress, oder jemand, der nur so aussah, war das gleich ein Trend, alle schauten genau hin, die Polizei wurde gerufen und der elterliche Krisenrat versammelt: Türken-Mob. Einige Zeit dachte ich, es gäbe vielleicht eine Art Pille, die alle in unserem Dorf nahmen oder jedenfalls viele, die Angst vor Ausländern und Blindheit vor deutscher Kriminalität hervorrief – und die man schlicht vergessen hatte, uns zu geben.
Ich blättere in der Infobroschüre: Buchenwald war eines der größten Konzentrationslager auf deutschem Boden. Sein Einfluss erstreckte sich über ganz Mitteldeutschland und reichte von Düsseldorf bis Dresden. Die Zahl der Todesopfer wird auf etwa 56.000 geschätzt, darunter viele Sowjetbürger, Polen, Ungarn und Franzosen. Buchenwald wurde im Juli 1937 errichtet und hatte, bis zum Ende des Krieges, über 130 Außenlager.
Bevor jetzt die Neonazis wieder kommen mit Bomben und Dresden: Man kann Grausamkeiten nicht miteinander verrechnen, tut man es doch, bleibt die größere Gräueltat immer die größere.
Jede Geschichte meines Heimatlandes, ob sie davor oder danach spielt, fällt im Erklärkontext immer wieder auf den Holocaust zurück wie Stecknadeln auf einen Magneten. Björn Höcke hatte das bemängelt. Es mache uns klein und zum Verlierer. Ich war auch klein und ein Verlierer in meinem Dorf, aber ich fühlte mich trotzdem recht überlegen.
Es hilft ja auch nichts. Meine Oma hatte sinngemäß gesagt: Die Suppe haben wir uns eingebrockt, die wird jetzt gegessen. Ich weiß bis heute nicht, welche „Suppe“ sie sich da jetzt wie genau „eingebrockt“ hatte. Was ich aber wusste, war, dass diese Suppe – in diesem Fall – schwer in einen Teller passte.
Hier spricht der Mob
Ich zeige Jörg, der mich als Fotograf bei meiner Recherche begleitet, ein Ostkind ist und bisher nie in einem KZ war, die „Sehenswürdigkeiten“.
Massive SS-Barracken aus schickem Klinker: Jörg ist unbeeindruckt.
Die Aufschrift am Tor: Jörg ist unbeeindruckt.
Das Krematorium: Jörg ist unbeeindruckt und fragt, wann es was zu essen gibt.
Ich weiß, es ist komisch, sich schuldig zu fühlen für etwas, bei dem die eigenen Eltern nicht mal geboren waren.
Jörg fotografiert einen sowjetischen Gedenkstein, weil ihn das an seine „Jugend erinnert“. Ich betrachte Leute, die sich beim Lesen der weißen Infotafeln die Finger an den Mund legen: Kommt belesen rüber, und wenn man nur ernst guckt, hilft vielleicht gegen das schlechte Gewissen. So gehen Leute immer über Friedhöfe, weil sie sich schuldig fühlen, noch zu leben.
„Die Deutschen tun sich schwer“, erklärt mir Rikola-Gunnar Lüttgenau. Er ist der stellvertretende Stiftungsdirektor der Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora. „Wir Deutschen, und das unterscheidet uns vermutlich von den Touristen, stehen voller Schuld an diesem Ort. Erst vorher, wenn wir nicht wissen, was uns erwartet. Dann nachher, wenn wir das Gelände betreten haben und uns fragen: Wie konnte das alles passieren?“ Schuld, sagt Lüttgenau, wolle die Gedenkstätte den Leuten nehmen: „Niemand muss sich mehr schuldig fühlen.“
Ich habe meine eigene Theorie dazu, wie das passieren konnte: Hat nochmal mit dem Dorf zu tun. Ja: Oh Gott! Kann ich verstehen. Kommt aber gleich die Paywall dazwischen, ganz barmherzig, und stoppt Sie beim Lesen. Außer, Sie sind Mitglied in diesem Klub hier.
Dorfjugenden ähneln sich überall in Deutschland: Ihre äußeren Bedingungen sind, dass niemand hinsieht, was sie so tun. Die innere Bedingung: Sie sind meist mindestens so konservativ wie das Dorf und ihre Eltern, jedenfalls, wenn die Jungen dableiben, weil man so Anerkennung kriegt.
Um den Auf-die-Fresse-Angeboten zu entgehen, boten sich mir exakt drei Möglichkeiten. Erstens: Schneidezähne früher oder später einbüßen, was blöd ist; Schneidezähne sind wichtig beim Bewerbungsgespräch. Zweitens: wegziehen. Ich konnte allein nirgendwohin ziehen, das Haus war nicht abbezahlt, einmal bin ich probeweise zu meiner Oma gezogen, aber das war nicht so gut. Ich hatte das Gefühl, jeden Morgen von einer Kuckucksuhr geweckt zu werden. Oder drittens: starke Verbündete finden. Ich entschied mich für Letzteres.
Es gibt in diesen Gruppen immer den Klügsten, der auch der Anführer ist. Er verteilt die Anweisungen. Ihm zur Seite stehen ein bis zwei Grobiane, die die Klapse an den Hinterkopf verteilen (wahlweise als Aufmunterung und Ansporn oder als Einschüchterung). Darum gruppieren sich die Leute zweiter Klasse, Laufboten und Männer für einfache Aufgaben. Danach kommt nur noch das Fußvolk. Das macht die Masse, damit die Gruppe groß erscheint. Sie sind die Lakaien, die Traumlosen und Ersetzbaren. Und sie sind zugleich auch die Gefährlichsten: Denn sie wollen nach oben in der Hierarchie und müssen sich dazu beweisen. Es sind die, die rumstehen und sagen, du hättest gesagt, dass du ihre Mutter fickst, was du natürlich nie gesagt geschweige denn gemacht hast, was aber nicht schlimm ist: Schließlich hat er sich das selbst ausgedacht. Schlägereien wie diesen entgeht man nicht mit Lamentieren. Der Mob will, dass man Angst hat. Nur dann ist er stark.
Martin Sommer war so ein „Emporkömmling“ in einem Mob: Der junge Mann mit 23 Lebensjahren wurde zum „Henker von Buchenwald“, weil er Häftlinge grausam folterte und ermordete, ihre Köpfe mit der Schraubzwinge zerdrückte oder sie mit kaltem Wasser übergoss, damit sie im Winter erfroren. Sommer soll sogar Leichen über Nacht unter sein Bett gelegt haben, um sie erst am nächsten Morgen zu entsorgen. Er rechtfertigte seine Grausamkeiten später mit seiner Jugend und dass die anderen seine „große körperliche Leistungsfähigkeit“ schlicht „ausgenutzt“ hätten. Er wollte in einer Gruppe Skrupelloser eben noch skrupelloser sein.
In meinem Dorf entschied ich mich damals auch, eine Weile zu den Stärkeren zu gehören. Ich suchte mir ein paar Freunde aus der Klasse, die große, starke ältere Brüder hatten – größer und stärker als der Mob. Es war ein Ausweg mit vielfältigen Privilegien: Bier, Schnaps, karierte Hemden und Autos. Und der Mob machte einen nicht mehr an.
Zunächst genoss ich nur und verstand nicht: Der Einfluss auch meiner Gruppe musste ja irgendwoher kommen. Die Nachmittage verbrachten wir gedankenverloren auf Dachböden, deren Holzdielen hell waren wie jene Sommertage, und im Kassettenrecorder liefen alte Landser-Lieder, Märsche der Wehrmacht und ein Lied, das etwas mit Bomben auf England zu tun hatte. Ich hörte mich sagen, dass es immer um Nazis gehe, es gebe aber auch andere Kapitel deutscher Geschichte. Man schlug sich beim Fußball auf den Hinterkopf. Man lachte. Keiner sagte was gegen Ausländer. Unsere neuen Freunde machten jetzt Stress auf Partys und konnten den Verlauf der Ost-Front freihändig auf eine Karte malen. Sie hätten sich nie als Nazis tituliert. Wertkonservativ, ja. Patriotisch, ganz sicher. Gute Jungs und Männer eben.
Manchmal, wenn die Eltern nicht in Hörweite waren, dann machten diese Jungs Witze: ob die herrenlosen Schuhe im Flur vielleicht die Reste eines Juden seien. Dreckiges Gelächter. Es war immer dieser zynische Witz, genau auf der Schnittstelle, um zur Not noch mit Ironie durchzukommen: War ja alles nicht so gemeint. Krieg dich mal ein, Junge! Wird man wohl sagen dürfen. Das war lange vor Höcke und lange vor der AfD. Ein kalkulierter Tabubruch.
Diese Jungs waren eben starke und einflussreiche Heranwachsende in einem Dorf, das selbst nie stark und nie einflussreich gewesen war.
Immer, wenn heute ein Polizeichef in Sachsen oder sonst wo auf einer Pressekonferenz den Mob verteidigt, das seien ja nur „eventsuchende Jugendliche“, immer, wenn so getan wird, als gäbe es da kein Problem, das würden nur Medien erfinden, dann weiß ich: Hier spricht das Dorf. Dann sprechen Polizeichefs wie Eltern über ihre Kinder, um sie zu schützen. Der Anstand und diese Kleingärtner-Mentalität, sie sind in uns. Sie ist übrigens auch da, wenn wir ein Experiment wie den „guten Deutschen“ zu ernst nehmen: Das geht aber nicht! So etwas! Was soll das? Wir sind gut darin, uns den Umständen anzupassen und jeden Angriff auf das Einstudierte abzuwehren. Die Verteidigung liest sich dann so: „Ich hab diese Regeln schließlich nicht gemacht. Das ist aber nicht anständig. (Hier Moral oder Scheinmoral oder etwas mit Werten/Religion oder Familie einfügen)“ Wir glauben zu oft, dass unsere Meinung, nur, weil sie die eigene ist, auch die bessere sein könnte.
Heute ist das Dorf überall und montags demonstriert es sogar auf den Straßen: Sie wollen unsere Städte wieder zu Kuhdörfern machen. Weil sie dann wieder Einfluss haben.
Das Dorf schlägt zurück
Lüttgenau hatte Björn Höcke nach seiner Rede den Zutritt verwehrt. Der AfD-Mann wollte tatsächlich noch einen Kranz niederlegen oder jedenfalls kommen. „Wir beobachten Björn Höcke hier in Thüringen ja schon länger“, sagt Lüttgenau. Was Höcke aber unterschlage: „Die Erinnerungskultur, von der er da spricht, die gibt es noch gar nicht so lange.“ Viele Gedenkstätten in Westdeutschland waren vor der Wiedervereinigung nämlich nahezu verwaist. Erst die DDR ließ mit dem Einheitsvertrag festsetzen, dass auch die anderen ehemaligen Konzentrationslager im Westen erhalten bleiben und Museen werden müssen. „Wir haben diese Erinnerungskultur also tatsächlich erst seit den 90er-Jahren“, sagt Lüttgenau. Und das ist ein bisschen kurz, um sie gleich wieder abzusetzen.
Durch die Amerikaner musste sich die Weimarer Bevölkerung nach der Befreiung durchaus mit Buchenwald auseinandersetzen, als diese nämlich am 16. April 1945 1.000 Mitglieder der NSDAP zwangen, das gerade befreite Lager aufzusuchen. Über die dort stattfindende „Auseinandersetzung“ im Hof des Krematoriums, wo die Leichenberge lagen, berichtete die US-amerikanische Fotoreporterin Margaret Bourke-White: „Die eben befreiten Insassen des Lagers in ihren blauweiß-gestreiften Häftlingsanzügen kletterten auf die Zäune um den Hof. Dort warteten die Zwangsarbeiter und politischen Gefangenen darauf mitanzusehen, wie die Deutschen gezwungen wurden, den Haufen ihrer toten Kameraden anzuschauen. Frauen fielen in Ohnmacht oder weinten. Männer bedeckten ihr Gesicht und drehten die Köpfe weg. Als die Zivilisten immer wieder riefen: ‘Wir haben nichts gewusst! Wir haben nichts gewusst!’ gerieten die Ex-Häftlinge außer sich vor Wut. ‘Ihr habt es gewusst’, schrien sie. ‘Wir haben neben euch in den Fabriken gearbeitet. Wir haben es euch gesagt und dabei unser Leben riskiert. Aber ihr habt nichts getan.’ Wir haben nichts gewusst! Wir haben nichts gewusst! Diese Worte hörte ich an einem sonnigen Nachmittag im April 1945 zum ersten Mal. Sie sollten sich in den folgenden Wochen noch so oft wiederholen, dass sie uns wie eine deutsche National-Hymne vorkamen.“
Auf diese Erinnerungskultur gab es immer schon Angriffe. Das Dorf will den Schandfleck weghaben und spielt Putzkolonne: Der Garten soll schließlich ordentlich und sauber sein. Ein Mahnmal mache das gute Deutschland schmutzig und zu einem Besiegten ohne Stolz, hatte Höcke gemeint.
Ein Tag Mitte der 90er: Lüttgenau wird vom Sicherheitsdienst informiert, da seien zwei Männer in braunen SA-Uniformen mit einer Gruppe von Leuten auf dem Weg auf das Gelände. Lüttgenau spricht einen Platzverweis gegen acht Leute aus – unter ihnen: Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe.
„Leider ist es schon so, dass wir das in den 90ern hier ganz massiv hatten, dass es aber gerade wieder zunimmt“, sagt Lüttgenau. Man halte diesbezüglich den Kontakt zu den anderen Gedenkstätten. Von zwei Vorfällen im Monat spricht er mittlerweile. „Diese Leute kommen nicht nur aus Deutschland“, sagt Lüttgenau, „auch aus der Schweiz und Tschechien.“
Nehme man das schwere Erbe an, hatte Lüttgenau zum Abschied gemeint, und verarbeite es, dann geschehe oft etwas Wundersames: „Die Deutschen wachsen“, erklärt er. „Sie wachsen an ihrer Bewältigung, sie wachsen in den Augen derer, die sie für den Umgang mit einem solchen Erbe eh schon bewundern.“ Und ganz am Schluss könne da durchaus etwas wie Stolz stehen: Stolz auf ein Land und der Stolz, zu einer besonderen Gemeinschaft zu gehören: den aufrechten und empathischen Deutschen.
Ich verlasse die Gedenkstätte. Es dämmert bereits, als ich das Metalltor mit dem Spruch zudrücke. Zwei junge Männer nähern sich.
Es sind kaum noch Besucher da.
Sie lachen.
Sie rauchen.
Rauchen ist hier verboten.
Als sie das Tor erreichen, zieht einer der beiden eine Flasche Schnaps hervor. Sie drücken ihre Zigaretten in den Schnee. Asche zu Asche, wir hören sie feixen. Dann kommt der Sicherheitsdienst.
Fotos: Jörg Singer; Redaktion: Esther Göbel; Produktion: Vera Fröhlich; Fotoredaktion: Martin Gommel.