Da, schon wieder: In einigen Metern Entfernung läuft eine unscharfe Gestalt vor uns; ein potentieller Freier, der rastlos seine Runden dreht in dieser Ecke des Tiergartens und im Halbdunkel der Dämmerung auf Beute lauert. Der Wind bläst durch die kahlen Bäume, der Sandboden unter uns knirscht, von der Straße des 17. Juni klingen Reste des vorbeirauschenden Autolärms zu uns herüber. Obwohl erst früher Abend, ist es bereits so dunkel, dass ich im Park nur noch Silhouetten erkennen kann, und doch: Immer wieder passieren Männer unseren Weg. Zwei stehen am Toilettenhäuschen zusammen, eine dunkle Gestalt lungert auf dem angrenzenden Spielplatz herum, als warte sie dort auf irgendetwas oder irgendjemanden.
Die feuchte Luft legt sich kalt auf mein Gesicht. Ich denke, dass dieser Ort um diese Zeit ein perfekter Schauplatz für einen David-Lynch-Film wäre, so düster und unheimlich wirkt die ganze Szenerie auf mich. Jedes Mal, wenn es irgendwo im Unterholz raschelt, zucke ich zusammen. Mein Kopf denkt an meine warme Wohnung, ich schiebe den Gedanken beiseite. Ein mulmiges Gefühl breitet sich in mir aus, ich starre angestrengt in die Dunkelheit, die mich zu allen Seiten hin umgibt. Zum Glück läuft Martin neben mir.
Nachdem wir in der vergangenen Woche mit Fahrim und seinen afghanischen Bekannten gesprochen hatten, wollten wir uns ein letztes Mal auf die Suche nach weiteren unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen machen, die den Behörden „verloren gegangen“ waren. „Geht mal am Kotti vorbei, da dealen ein paar“, riet uns ein Bekannter, selbst ein Geflüchteter aus Syrien. Also kauften wir ein U-Bahnticket und fuhren hin. „Geht mal in diese eine Schwulenbar, da prostituieren sich welche“, sagte uns ein anderer Kontakt. Also kauften wir zwei Bier und setzen uns in besagte Bar.
Im ersten Fall fanden wir am Kottbusser Tor („Kotti“) den jungen Besitzer eines Hostels, das im vergangenen Jahr als temporäre Unterkunft für etwa 20 minderjährige unbegleitete Flüchtlinge gedient hatte. Es war so plötzlich von einem Tag auf den anderen geräumt worden von der Berliner Senatsverwaltung, dass der Chef des Hostels immer noch den Kopf schüttelte, während er uns von der Sache erzählte. Als sei er noch immer schockiert, als sei die ganze Aktion gerade erst passiert. Dealende, junge Flüchtlinge aber fanden wir am Kottbusser Tor nicht.
Im zweiten Fall beobachten wir in der kleinen Schwulenbar am Nollendorfplatz, in die man uns geschickt hatte, dass dort überwiegend junge Männer mit osteuropäischem Akzent ihr Bier tranken und ihren Zigarettenrauch mit teils theatralischer Geste zwischen roten Plüsch und silberne Weihnachts-Deko pusteten. Aber auch hier fanden wir keine unbegleiteten, minderjährigen Flüchtlinge.
Also machten wir uns am nächsten Tag auf nach Moabit, wo wir mit dem Jugendhilfeträger Klubheim e.V. sprechen wollten, der auch mit dem Bürgerverein Moabit-Hilft kooperiert und sich auskennt in der Arbeit mit unbegleiteten jungen Flüchtlingen. Wir klingelten in einem Hinterhof-Haus, ein großer Mann mit wirrem Haar und grauem Schnauzer öffnete, bat uns an einen Tisch, auf dem Schokolade und Tee bereitstanden und an dessen Ende noch drei weitere Mitarbeiter saßen; zwei junge Sozialarbeiterinnen und die Praktikantin. Die vier wollten uns von ihrem Projekt berichten, einer Zufluchtswohnung in Berlin-Mitte für unbegleitete jugendliche Flüchtlinge, die Klubheim e.V. seit Mai dieses Jahres betreut. Die jungen Bewohner kommen aus Afghanistan, Eritrea, Syrien, dem Sudan; aus allen Krisenorten rings um Europa.
Wie riesig ist der Beratungsbedarf jugendlicher Geflüchteter?
Sieben junge Geflüchtete können in der Wohnung Unterschlupf finden, momentan wohnen dort sechs junge Männer im Alter von 17 bis 20 Jahren. Eigentlich soll das Projekt nur als Übergang dienen, erklärte man uns, bis für die Einzelnen Jugendhilfe beantragt ist und eine entsprechende Einrichtung gefunden. Vier Wochen maximal, so hatte man sich anfangs das Ziel gesetzt, sollten die Jugendlichen in der „Krisenwohnung“ bleiben.
„Aber, dass die nur so kurz bei uns wohnen, haut nicht hin“, erklärte uns Wolfram Geisenheyner, der Mann mit dem Schnauzer. „Wenn wir gut sind, schaffen wir´s, in den ersten vier Wochen einen Kontakt zwischen dem Jugendamt und dem Jugendlichen herzustellen“, sagte er uns. „Geschweige denn finden wir in dieser Zeit eine entsprechende Einrichtung. Es gibt zu wenig passende und zu wenige Plätze.“ Der allererste Bewohner des Projekts, ein stark traumatisierter junger Mann aus Afghanistan, lebt noch immer in der Wohnung – seit sieben Monaten nun schon.
Wolfram Geisenheyner und seine Kollegen kümmern sich um solche jungen Geflüchtete, die allein nach Deutschland kommen, keinen Ansprechpartner haben, von den Behörden als volljährig eingestuft wurden und deswegen keine Jugendhilfe mehr bekommen. Dabei hätten viele eine Anschlusshilfe dringend nötig. Momentan werden insgesamt 1.850 unbegleitete junge Flüchtlinge im Rahmen der Anschlusshilfen durch die Berliner Bezirke betreut, rund 450 davon seien Volljährige, teilte uns die Berliner Senatsverwaltung auf Anfrage mit.
Geisenheyner und seine Kolleginnen bewegen sich mit ihrer Arbeit an einer schwammigen Grenze, die immer mit zwei Fragen verknüpft ist. Erstens: Ab wann ist ein Jugendlicher nicht mehr jugendlich und braucht keine Jugendhilfe mehr? Reicht dafür schon die Volljährigkeit? (Denn damit wechselt ein unbegleiteter, ehemals minderjähriger Flüchtling offiziell von der Obhut des jeweiligen Jugendamtes in das „Erwachsenensystem“, wird also an die Ausländerbehörde „übergeben“.) Zweitens: Wurde das Alter in allen vorliegenden Fällen richtig eingeschätzt und überhaupt eine Bedarfsprüfung durchgeführt, nach der entschieden wird, ob ein jugendlicher Flüchtling Jugendhilfe bekommen soll oder nicht?
Geisenheyner kann Geschichten erzählen von jugendlichen Geflüchteten wie die des Iraners, der eine Original-Geburtsurkunde bei sich trug, die ihn als minderjährig auswies. In Griechenland hatte sich der junge Mann aber als volljähriger Iraker ausgewiesen, um über die Grenze zu gelangen. Diese Angabe übernahmen die deutschen Behörden – und gewährten keine Jugendhilfe. Dabei lag die Geburtsurkunde ja vor. „Nach viel Arbeit und mehreren Monaten ist es nun gelungen, dass er wieder als minderjährig eingestuft wurde“, sagte Geisenheyner uns. Mittlerweile lebt der Junge in einer entsprechenden Einrichtung und bekommt Jugendhilfe.
Wann ist der Geflüchtete nicht mehr jugendlich und kommt ohne Hilfe aus?
Oder die Geschichte des Mädchens aus Eritrea, das zunächst in den Sudan flüchtete, dort erst beide Eltern verlor, dann auch alle Geschwister, das als Arbeits- und Sexslavin missbraucht wurde, es irgendwie nach Europa schaffte, zunächst in Österreich ankam und dort als 20-jährig registriert wurde. Sie kam zu dem Mitte-Projekt, weil die freiwillige Patin, die sich ihr in Berlin angenommen hatte, überfordert war. In einer erneuten Prüfung wurde die junge Frau schließlich auf 18 Jahre geschätzt. Drei Monate lebte sie in der Krisenwohnung, mittlerweile hat sie ein neues Zuhause in einer Mädchenwohngruppe in Berlin.
Geisenheyner und seine Kolleginnen kümmern sich aber nicht nur um die sechs Jugendlichen im eigenen Wohnprojekt. „Das ist nur die Spitze des Eisberges“, erklärte er uns. „Wir haben bisher 90 bis 100 Jugendliche ambulant beraten, die keinen Ansprechpartner haben. Und der Bedarf ist viel größer. Manche kommen gar nicht zurecht im ‚Erwachsenensystem‘.“ Jeden Tag trudelten neue Anfragen ein, sagte uns die eine der beiden Sozialarbeiterinnen. Immer wieder passiere es, dass Jugendliche „verloren gingen“, also plötzlich nicht mehr auftauchten.
Die Helfenden wissen: Nur, weil jemand auf ein Alter von 18 Jahren geschätzt wird oder tatsächlich auch so alt ist, kann er oder sie deswegen noch lange nicht sein Leben selbstständig meistern. Schon gar nicht in einem fremden Land, und dazu noch in einem vielleicht schwer traumatisierten Zustand.
Gleichzeitig aber gibt es auch junge Geflüchtete, die aus der Not heraus versuchen, ihr Alter bewusst herunterstufen. Weil sie wissen, dass sie dann einen besonderen Schutz genießen – oder zumindest genießen sollen. Die Gemengelage ist also schwierig. Auch, weil die Erstregistrierung und die sogenannten Clearingverfahren, die jeder unbegleitete minderjährige Flüchtling durchlaufen muss, wenn er oder sie in Deutschland ankommt, zur Hochzeit der Flüchtlingswelle im vergangenen Jahr teils sehr chaotisch abliefen. Mehrfachregistrierungen, verschiedene Datenbanken, mangelnder Austausch von Daten, so lauten die Missstände. Das Clearingverfahren ist außerdem umstritten; noch immer gibt es bundesweit keine einheitliche Anwendung.
Funktioniert das Aufnahmesystem nicht richtig?
Traurige Aufmerksamkeit bekam das Problem erst vor Kurzem mit dem Fall Maria L. in Freiburg: Die Studentin war ermordet worden - Täter soll ein junger Afghane sein, der bei seiner Ankunft in Deutschland als minderjährig registriert worden war, aber, wie sich später herausstellte, vermutlich älter als 18 Jahre ist. Der Fall wirft grelles Licht auf die unangenehme Frage, die sich noch vor das Problem stellt, das Wolfram Geisenheyner benennt: Funktioniert das Aufnahmesystem für minderjährige, unbegleitete Flüchtlinge in Deutschland nicht richtig?
Wir verabschieden uns von Wolfram Geisenheyner und seine Kolleginnen, um uns auf den Weg zum Tiergarten zu machen. Ein letztes Mal wollen wir nach Fahrim Ausschau halten.
Als wir im Park ankommen, ist es bereits dunkel, verlassene Stille hängt zwischen den Bäumen. Die männlichen Gestalten, die uns immer wieder auf den Wegen des Schwulenstrichs entgegenkommen, sprechen kein Wort. Ihre Blicke aber suchen. Jetzt, um diese Zeit, ist hier viel mehr los als an dem Morgen, an dem wir Fahrim zum Gespräch getroffen haben. Es ist kurz nach 17 Uhr, Feierabendzeit – und „Rush Hour“ in dieser Ecke des Tiergartens, so scheint es. Dort, wo bei unserem letzten Besuch das Schlaflager der afghanischen Jungs war, ist jetzt niemand mehr. Wir beschließen, noch einmal über den Schwulenstrich zu laufen; vielleicht taucht Fahrim ja doch noch auf.
Schweigend drehen wir für einige Zeit unsere Runden. Kein Fahrim. Auch keinen der anderen afghanischen Jungs können wir im Halbdunkel unter den umherwandernden Männern erkennen. Martin und ich besprechen gerade, ob wir die Recherche für heute abbrechen sollen, als er plötzlich ruft: „Fahrim!“ Und da sehe ich ihn auch: Die Silhouette, die in einigen Metern vor uns aus dem Halbdunkel auftaucht, ist tatsächlich er. Wir bleiben stehen.
„Hey Fahrim!“, sagt Martin, so als wäre er zufällig in einen alten Freund hineingelaufen, „hey, wir kennen uns. Weißt du noch?“
Fahrim hält auch an, zögerlich, widerstrebend. Seine ganze Haltung wirkt gekrümmt, in seinem Gesicht kein Zeichen eines positiven Wiedererkennens. Er ist blass, das kantige Gesicht eingefallener als bei unserer letzten Begegnung.
„Hey Fahrim“, sage ich, „wir haben uns doch letztens unterhalten. Wie geht´s dir?“
„Ja, ich weiß“, sagt Fahrim, sein Blick geht an mir vorbei, er wirkt angestrengt und gleichzeitig leer. „Ich bin müde. Ich geh schlafen“, sagt er, das Gespräch abwehrend. Es noch nicht einmal 18 Uhr.
„Wo kommst du denn gerade her?“, frage ich.
„Ich bin müde, ich will schlafen gehen“, sagt er wieder.
„Bist du krank?“, frage ich, weil Fahrim so schlecht aussieht und einen vollkommen fahrigen Eindruck macht. Als wir ihn zum ersten und zweiten Mal trafen, war er von Anfang an offen für ein Gespräch. Jetzt ist davon nichts mehr zu spüren. Stattdessen: hundertprozentige Resignation.
„Nur müde“, antwortet er, immer noch ausweichend. „Ich will schlafen.“
Es ist zwecklos, er will nicht mit uns reden. Also lassen wir ihn gehen. Mit gebücktem Rücken und schnellem Schritt verschwindet Fahrim im trostlosen Dunkel des Parks.
Ich starre ihm angestrengt in die Richtung hinterher, in die er verschwindet. Er wird immer kleiner. Da fällt mir jene Info-Broschüre des Bundesverbands für unbegleitete, minderjährige Flüchtlinge wieder ein, die die geflüchteten Kinder und Jugendlichen über ihre Rechte in Deutschland, den Ablauf des Clearingverfahrens und die einzelnen Behörden informieren soll. Dort steht:
Du hast das Recht, mit deinen Eltern zusammen leben zu dürfen.
Du hast das Recht auf besonderen Schutz durch den Staat und seine Behörden, wenn du nicht mit deinen Eltern zusammenlebst und auf der Flucht vor Krieg und anderen Gefahren bist.
Du hast das Recht, so zu sein, wie du bist.
Du hast das Recht auf dein eigenes Leben.
Fahrims Silhouette wird eins mit dem Dunkel.
Ich kann ihn nicht mehr sehen. Er ist weg.
Name von der Redaktion geändert; Fotos: Martin Gommel; Produktion: Vera Fröhlich.