„Es war ein Experiment”
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„Es war ein Experiment”

Rumäniens bekanntester Arzt hat jahrelang Versuche an Kindern gemacht. Kollegen schauten weg. Medien wollten es nicht glauben. Über ein Jahr lang haben unsere Kollegen von Casa Jurnalistului recherchiert und einen Skandal aufgedeckt, der ein ganzes Land erschüttert.

Profilbild von von Luiza Vasiliu, Bukarest

Amiras Leben ist die Fortsetzung eines Experiments.

Die 19 Jahre, die sie auf der Welt ist, sind ein Scherbenhaufen aus elf Operationen. Zusammengenommen hat sie mehr als ein Jahr im Krankenhaus Marie Curie in Bukarest verbracht. „Es ist ein furchtbarer Ort. Wie aus einem Horrorfilm. Nur schlimmer, denn Horrorfilme mag ich …“, sagt sie.

Heute lebt Amira mit ihrer Mutter in einer Ein-Zimmer-Wohnung in Sălaj, einem verarmten Stadtteil der rumänischen Hauptstadt. Hier erhielt sie fast ihre gesamte Schulbildung, Heim-Unterricht bis zum Abitur, von dem sie sagt: „Ich weiß nicht, was ich damit anfangen soll.“

Sie verbringt ihre Tage im Bett. Wenn sie das Haus verlässt, dann nur für kurze Wege, nur mit Hilfe ihrer Krücken. Ihr linker Fuß ist zu einem Fremdkörper geworden, der ihr nicht mehr gehorcht nach all den Operationen. Ihr Rückgrat ist verkrümmt.

Alles begann mit einer ausgerenkten Hüfte.

„Der beste Arzt in Rumänien“

Als Amira ein Jahr alt war, wurde ihrer Mutter mitgeteilt, dass der Oberschenkelknochen ihrer Tochter nicht richtig an der Hüfte ansetzt. Eine angeborene Fehlstellung, die relativ häufig vorkommt und mit einem Standardeingriff behoben werden kann: Der Knochen wird eingerenkt und das Bein mit Gips fixiert.

Amiras Mutter wollte, dass alles optimal verläuft. Sie wollte nicht zu irgendeinem Arzt gehen. Sie kannte jemanden, der einen Chirurgen im Krankenhaus Marie Curie kannte und sagte: „Einen besseren Arzt findest du in ganz Rumänien nicht.“

„Der beste Arzt in Rumänien“, das ist Gheorghe Burnei, eine Ikone der pädiatrischen Medizin in Forschung, Praxis und Lehre, ein Mann, der neue Methoden einführte und als oberster Experte über Kunstfehler anderer Ärzte richtete, der in den Klatschspalten der Zeitungen und den Boulevardsendungen des Fernsehens als Held dargestellt wurde, weil er im Land geblieben ist, statt auszuwandern wie Zehntausende anderer Ärzte, ein „Engel auf Erden“.

Gheorghe Burnei.

Gheorghe Burnei. Foto von der Website des Regina-Maria-Hospitals

„Er wollte etwas erfinden“

Zerhackt, zerfleischt, sind zwei Wörter, die Emilia Iliescu, Amiras Mutter, häufig benutzt. „Ihre Knochen wurden zerhackt.“

Der Arzt nahm nicht den Standardeingriff vor. Er wollte etwas Neues ausprobieren: Er brach die Hüfte des Mädchens in zwei Teile und setzte ein Keramik-Implantat ein.

Das Implantat „kommt in keinem Handbuch vor“, erklärt mir ein schockierter Orthopäde aus einem anderen großen Bukarester Krankenhaus. Er ist einer der Ärzte, zu dem sich Patienten Burneis geflüchtet haben. Erst nach mehreren Monaten und unzähligen Nachrichten und Anrufen ist er bereit, sich mit mir zu treffen. Er spricht ruhig und eindringlich wie ein Lehrer, der seine Schülerin zur Seite nimmt, um ihr zu erklären, was der Rest der Klasse längst verstanden hat.

„Schreiben Sie: Es war ein Experiment!”

Biovitroceramic (BVC) ist eine Glas-Keramik-Mischung, die häufig von Zahnärzten benutzt wird. In der Orthopädie wird sie eingesetzt, um Löcher in Knochen zu verfüllen. Aber Amira hatte kein Loch in ihrer Hüfte, das hätte gefüllt werden müssen.

In einem Telefoninterview erklärte mir Dr. Burnei: „Dieses BVC-Implantat ist vom Gesundheitsministerium autorisiert worden nach Versuchen, die Professor Antonescu damit durchgeführt hat.“

Aber Professor Dinu Antonescu erzählt mir eine andere Version am Telefon: „Ich habe BVC nie im Zusammenhang mit einer dislozierten Hüfte eingesetzt. Ich habe mit BVC Hohlräume in Knochen aufgefüllt, die durch Krebs entstanden waren. Zuvor habe ich die Methode in Tierversuchen getestet und die Ergebnisse veröffentlicht. Das ist die Grundvoraussetzung, um eine neue Methode am Menschen anzuwenden. Es muss sichergestellt sein, dass ein neues Implantat nicht vom Körper des Patienten abgestoßen wird. Die Keramiken, die von dem Ingenieur Negreanu angefertigt wurden, wurden abgestoßen.“

Tiberiu Popescu Negreanu ist der Ingenieur, zu dem Emilia von Dr. Burnei geschickt wurde, um das Implantat für ihre Tochter zu kaufen. Er schickte die Keramikteile ins Krankenhaus, in einem Beutel ohne Kennzeichnung. Kein Name. Keine Seriennummer. Keine Gegenanzeige. Laut ehemaligen Mitarbeitern des Krankenhauses wurden die Implantate einfach sterilisiert und eingesetzt.

In Amiras Krankenakte ist kein Vermerk, mit dem das Implantat identifiziert werden könnte. Auch eine Zustimmung zu dem Verfahren ist darin nicht zu finden. Amiras Eltern sagen, sie wussten nicht, dass an ihrer ein Jahr alten Tochter ein Implantat ausprobiert werden würde, das noch nie von einem Arzt in einem vergleichbaren Fall eingesetzt wurde.

„Es ist ungefähr so, als würde ich zu Hause in meiner Küche mein eigenes Aspirin anrühren und es dann verkaufen“, sagt eine mit dem Fall vertraute Quelle. „Alles, was im Krankenhaus eingesetzt wird, muss durch eine Kennzeichnung, einen ID-Code, ausgewiesen sein. Es ist legal, BVC einzusetzen, aber keine unzertifzierten Implantate, die daraus hergestellt wurden. Und was Negreanu in seinem Hinterhof herstellte, war nicht zertifiziert. Zwischen 2002 und 2004 hat Dr. Burnei mehrere Versuche mit BVC durchgeführt. Die meisten davon endeten für die Patienten katastrophal“, sagt ein Krankenhausmitarbeiter.

Professor Mihai Jianu hat Rumäniens erste Knochenbank eröffnet. Er sagt mir, er habe BVC nie eingesetzt, um dislozierte Hüften zu behandeln. „Ich weiß, dass es an Kindern eingesetzt wurde. Sie wurden aber später im Ausland behandelt, sie fühlten sich wie Opfer einer Fehlerkette. Das Problem ist, dass BVC sich nicht mit den Hüftknochen mitentwickelt. Das hat zu einigen Tragödien geführt.“

Die Nationale Gesundheitsbehörde bestätigt, dass das Implantat nie zertifiziert worden ist.

„Es ist so, als wäre ich berechtigt, Scheiße in einen Patienten zu pumpen, nur weil ich eines Tages davon geträumt habe, dass ihn das heilen würde. Auf so etwas steht Gefängnis!”, sagt ein ehemaliger Kollege Burneis.

„Eine ausgerenkte Hüfte – das wird auf der ganzen Welt mit einer einfachen, bestens dokumentierten und erfolgreichen Methode behandelt. Ich weiß nicht, was Burnei sich dabei gedacht hat. Er wollte etwas erfinden …“

Das Experiment an Amiras Körper war keine Ausnahme

„Wir haben ein Jahr lang recherchiert und fanden heraus, dass Dr. Burnei sich in vielen Fällen dazu entschied, statt sicheren Operationen innovative medizinische Methoden auszuprobieren, die zahlreichen Patienten das Leben kostete und zahllose Kinder verkrüppelte.”
Casa Jurnalistului

Dr. Burnei ist sich keiner Fehler bewusst. Hat er in seiner Karriere jemals etwas falsch gemacht?, frage ich ihn. „Nein. Das ist nicht möglich, generell … denn, wenn ein Chirurg operiert, ist seine Arbeit doch sichtbar.“

„Am meisten zu verurteilten ist der Fakt, dass Burnei seinen Fehler einfach nicht eingesehen hat, dass er das Mädchen immer wieder operierte, immer sagte, alles ist gut, obwohl nichts gut war, obwohl er seine Kompetenzen weit überschritten hatte. Das ist inakzeptabel“, sagt mir einer von drei Ärzten, mit dem ich den Fall bespreche.

Er hat eine Weile im Ausland gearbeitet und ist nun in einer Privatklinik in Rumänien angestellt. Ich frage ihn, ob ich eine Chance habe, einen Orthopäden zu finden, der sich öffentlich über Burnei äußern würde. „Keine Chance. Die haben alle Angst!“

„Burnei steckt dich in die Tasche!”

Auch die anderen Ärzte wissen von Burneis Experimenten, aber sie trauen sich nicht zu reden.

„Wenn du mir schaden willst, erwähne meinen Namen“, warnte ein Arzt Emilia, kurz nachdem er über ihre Tochter sagte: „In meiner gesamten Laufbahn als Orthopäde habe ich sowas noch nicht gesehen.“

Gheorghe Burnei hat in seiner Karriere genügend Titel und Jobs gesammelt, um die Welt der pädiatrischen Orthopädie unter seiner vollen Kontrolle zu haben. Er ist Chefarzt der Orthopädischen Klinik im Marie-Curie-Krankenhaus, Gründer und Ehrenvorsitzender der Rumänischen Gesellschaft der Traumatologen und Pädiatrischen Orthopäden, Professor und Prodekan der Fakultät für Medizin und Pharmazie an der Universität Bukarest, und für mehrere Jahre war er sowohl Vorsitzender eines Ausschusses des Gesundheitsministeriums als auch einer Schiedskommission für ärztliche Behandlungsfehler.

Gheorghe Burnei und Dan Mircea Enescu, Manager des Grigore-Alexandrescu-Hospitals.

Gheorghe Burnei und Dan Mircea Enescu, Manager des Grigore-Alexandrescu-Hospitals. Quelle: tvri.ro

„Mit Burnei willst du keine Probleme haben, wenn du deine Zulassung behalten willst“, sagt mir ein Arzt. „Der steckt dich in die Tasche.“

Wie er das macht? Einige führen Wutausbrüche des Arztes an, andere Drohanrufe, wieder andere erklären, dass er ihr Facebook-Profil löschen ließ, nachdem sie anonym Videos gepostet hatten, auf denen Burnei dabei zu sehen war, wie er eine junge Ärztin zusammenschreit. Die meisten wollen einfach nicht mit ihm in Verbindung gebracht werden.

Während der Recherchen treffen wir auf einen ungeschriebenen Nicht-Angriffspakt unter Ärzten: Man spricht nicht über Kollegen in der Öffentlichkeit, selbst wenn man weiß, dass dessen Entscheidungen Patientenleben gefährden.

Aber die Eltern der Kinder, die von Dr. Burnei behandelt worden sind, wollen nicht länger schweigen. Sie wollen wenigstens verhindern, dass andere Kinder das gleiche erleben müssen.

Ein Puzzle aus Traumata

Unsere Körper sind fragile Puzzle, zusammengesetzt aus Knochen, verbunden durch die Knorpel der Gelenke. Wenn ein Puzzlestück kaputtgeht oder nicht mehr an seine Stelle passt, wirkt sich das auf andere Körperteile aus. Man bricht sich eine Zehe und kann nicht mehr laufen. Man bricht sich die Hand und kann niemanden mehr in den Arm nehmen. Für solche Verletzungen gibt es Orthopäden, sie setzen die Puzzlestücke wieder zusammen.

Das Leben von Amira ist ein Puzzle aus Traumata. Jede Operation fügte ein neues Stück Schmerz hinzu, Schulden, Monate im Krankenhaus, Horror, Angst.

Im Alter von zweieinhalb Jahren wurde Amira zum zweiten Mal operiert. Burnei machte einen Eingriff am rechten Bein – ohne Grund. „Er hat uns gesagt, er muss eine weitere Fehlstellung beheben. 17 Jahre später stellt sich heraus, mit dem Bein war alles in Ordnung. Ein anderer Arzt fragte mich: Warum wurde das Kind an seinem gesunden Fuß operiert? Ich antwortete, dass man uns erklärt hat, ohne den Eingriff würde sie ihr Leben lang humpeln“, sagt Emilia.

Ein Kollege Burneis erzählt mir: „Er geht in den OP-Saal und entscheidet spontan: Jetzt schneiden wir hier ein bisschen was ab, jetzt versetzen wir dies nach dort. Er ist verrückt!“

Nach ihrer dritten OP konnte Amira nicht mehr laufen. „Diesmal schnitt er noch mehr aus ihrer Hüfte heraus, und aus ihrem Oberschenkel, es blieb nur noch eine Karikatur davon zurück. Nach zweieinhalb Monaten in Gips und mit einem Stab zwischen ihren Beinen, waren die Schmerzen unerträglich“, sagt Emilia. Sie musste ihre Tochter überall hin tragen, auch zur Schule. Sie setzte sie an ihr Pult und holte sie dort wieder ab.

Nach jeder neuen OP war die Mutter schlaflos, aber Dr. Burnei schaute auf die Röntgenbilder und sagte: „Das sieht sehr, sehr gut aus!“

Und wer würde mit einem Engel streiten?

„Aber haben Sie Geld für einen Fixateur?”

Die Jahre vergingen, Amira wuchs zu einer jungen Frau heran, aber ihr linkes Bein wuchs nicht mit. Es ist acht Zentimeter kürzer als ihr rechtes.

„Sehr, sehr gut“, sagte Burnei weiterhin, bis er mit was Neuem kam: Amira braucht einen Fixateur.

Der Fixateur wurde in der Sowjetunion erfunden und ist ein Apparat, der aus Robocops Kleiderschrank stammen könnte. Er besteht aus Metallstäben, einem Dehnungsriegel und Klammern aus Metall oder Karbon, die direkt am Knochen angebracht werden. Der Fixateur wird hauptsächlich eingesetzt, um Gliedmaßen zu verlängern. Zwei Stücke eines Knochens werden auseinandergezogen und die entstandene Lücke soll sich durch das Wachstum neuen Knochengewebes wieder schließen.

„Aber haben Sie Geld für einen Fixateur?“, fragte Burnei Emilia. Er sagte ihr nicht, dass das Gerät auch über das Krankenhaus angeschafft werden könnte. Er ließ sie 5.000 Euro zahlen. „Ich sagte ihm, dass ich arm bin, dass ich nicht so viel Geld habe, aber es auftreiben würde. Ich wusste nicht wie, ich dachte: Und wenn ich betteln gehen muss, Hauptsache meiner Tochter geht es besser.“

Es dauerte zwei Jahre, bis sie die Summe zusammenhatte, sie nahm Kredite auf bei jedem, der ihr Geld leihen würde. Als es soweit war, schickte Burnei sie zu einer Firma, die Fixateure verkauft.

Das Geschäft wurde in einem Auto abgewickelt, direkt mit dem Firmeninhaber, „in einer Seitenstraße, damit uns niemand sehen konnte“, erinnert sich Bubu, Emilias Ehemann.

Die Firma nennt sich Argonmed und ihr Inhaber heißt Murat Gonencer. Er importiert medizinische Geräte aus der Türkei. Mehrere Quellen aus dem Marie-Curie-Krankenhaus behaupten, dass Burnei Anteile an Argonmed besitzt und deren Preise über denen anderer Firmen liegen.

„Wie viel Provision erhält Dr. Burnei für jedes verkaufte Gerät?“, frage ich Gonencer am Telefon.

„Das ist beleidigend. Wir sind eine Firma, und wenn Patienten zu uns kommen, bedienen wir sie“, antwortet Gonencer und beendet das Gespräch mit dem Hinweis: „Wenn Sie das veröffentlichen, verklage ich Sie.“

Nach dem gleichen Muster verlief schon die Anschaffung für Amiras erstes Implantat. Burnei schickte Emilia zu dem inzwischen verstorbenen Ingenieur Tiberiu Popescu Negreanu. Und für Röntgenaufnahmen schickte er Emilia mit ihrer Tochter zu dem privaten Medizindienstleister Monza – obwohl Kindern kostenlose Check-ups zustehen.

Ich habe mit mehr als zwanzig Patienten Burneis gesprochen, und bei allen lief es nach dem gleichen Muster ab. Fast alle von ihnen wohnten außerhalb Bukarests, hatten ein bescheidenes Einkommen und mussten verzweifelte Anstrengungen unternehmen, um sich die Operationen und Geräte, die ihre Kinder verkrüppelten, leisten zu können.

„Wenn sie eine Entzündung bekommt, hänge ich mich auf!”

Amiras Leben ist in der Mitte geteilt. Es gibt eine Zeit vor dem Fixateur und ein Danach. „Vorher war ich fast wie all die anderen Kinder, nur, dass ich etwa komisch gelaufen bin“, sagt sie.

Am Abend vor der Operation ging Emilia zu Dr. Burnei. Sie wollte wissen, wie lange es dauern würde, den Fixateur einzusetzen, wie lang der Heilprozess dauern würde, damit sie die Schule benachrichtigen könne. „Alles was er sagte, war das: ‚Achten Sie einfach darauf, dass sie ordentlich zu essen bekommt’, und er schrieb mir etwas auf einen Zettel.“

Auf der Notiz, die mir Emilia zeigt, steht: „Fleisch, Eier, Lachs, Salat, Gemüse, Milch, sie kriegt alles, was sie braucht von den Mahlzeiten.“

Am nächsten Tag musste sie feststellen, dass in Amiras Bein 14 große Löcher klafften, aus denen 14 dicke Metallstäbe ragten. „Wir trafen ihn (Burnei) im Aufzug, er machte seine Runde. Er warnte uns vor dem Infektionsrisiko und sagte: ‚Wir haben unser Bestmögliches getan, jetzt liegt es an Ihnen. Seien Sie extrem vorsichtig, sie muss extrem sauber sein.“

Sie erinnert sich, wie als nächstes ein Vertreter von Argonmed auf die Intensivstation kam und, obwohl Amira noch nicht von der Narkose aufgewacht war, ihre Decke hochzog und einen Schnappschuss machte, „um zu belegen, wofür die Rechnung gestellt wurde.“

Erst in diesem Moment sah Emilia, dass der Fixateur von der Hüfte des Mädchens bis unterhalb des Knies reichte. „Es zog mir den Boden unter den Füßen weg. Ich dachte, ich breche zusammen. Man hatte mir gesagt, der Fixateur würde nur am Oberschenkel angebracht werden.“

Es war Emilias Aufgabe, die Wunden ihrer Tochter zu versorgen. Ihre Hände zitterten. „Ich las etwas über Staphylokokken, über Wundversorgung, wie man es macht. Ich dachte, ich darf nicht sprechen, während ich Verbände anlege, weil mein Mund voller Keime ist. Es machte mich wahnsinnig. Ich erlaubte keine Besucher. Ich habe sogar die Wände mit Bleiche gewaschen, alles abgekocht und gebügelt.“

Am Morgen verließ Emilia das Krankenhaus, um als Putzhilfe zu arbeiten. Am Abend kam sie wieder, um die Wunden ihrer Tochter zu reinigen. Entzündung des Knochens, Amputation des Beins, Bleiche, Desinfektionsmittel, alles wirbelte in ihrem Kopf, wenn sie ins Zimmer ihrer Tochter kam, ihre Hände in Alkohollösung wusch, sterile Handschuhe und einen frisch gebügelten Pyjama anzog, um neben Amira zu sitzen, sie zu waschen. „Nacht für Nacht hatte ich diesen Alptraum. Maden kamen aus den Löchern in ihrem Bein.“

„Jedes Mal, wenn ich in diesen zehn Monaten, in denen sie den Fixateur hatte, im Krankenhaus schlief, legte ich mich unter Amiras Bett. Sechs Uhr morgens kam die Krankenschwester und trat mir auf die Hand, damit ich aufstehen und ihr ihr Schmiergeld geben würde“, erinnert sich Emilia.

„Wenn sie eine Entzündung bekommt, hänge ich mich auf!“, dachte sie, „ich will nicht weiterleben mit dem Wissen, dass ich meiner Tochter wehgetan habe.“

„Wenn sie eine Entzündung bekommt, hänge ich mich auf!“, dachte sie, „ich will nicht weiterleben mit dem Wissen, dass ich meiner Tochter wehgetan habe.“

Drei Operationen später, die notwendig waren, um den Fixateur zu entfernen und den inzwischen gesplitterten Oberschenkelknochen mit einem Metallstab zu fixieren, fand Emilia ihre Tochter erneut auf der Intensivstation wieder.

„Sie war zerstückelt, das Bett voller Blut. So sehr ich ein Kämpfer war in all diesen Monaten, für einen Moment habe ich alles aufgegeben, ich fiel fast zu Boden, buchstäblich.“

„Für mich ist das Leben zu Ende”

Emilia ist etwas über vierzig Jahre alt, sie hat große braune Augen. Sie zeigt mir ein Foto von sich mit einem Freund aus Schulzeiten.

„Wir waren genau wie du, weißt du? Wir waren stolzer damals, wir waren die hübschesten, wir waren größer als das Leben. Die Träume, die wir hatten… Wir haben auf eine andere Zukunft gehofft, nicht auf diesen Hohn. Ich gehe putzen, damit ich die Rechnung dafür bezahlen kann, dass mein Kind verstümmelt wurde. Für mich ist das Leben zu Ende.“

Amiras Vater verließ die Familie nach der dritten OP. „Er hatte genug von all den Krankenhäusern.“ Kurze Zeit später lernte Emilia Bubu kennen, ein Gigant der Gutmütigkeit, der ihr explosives Temperament ausgleicht. Im Sommer ist Bubu zum arbeiten nach Deutschland gegangen, Äpfel und Erdbeeren pflücken, um die Klinikschulden zu bezahlen.

Amira hat sich an den Gedanken gewöhnt, dass die Zukunft für sie aufgehört hat zu existieren. Die Zeit verstreicht leise, verrinnt zwischen den Schnurrhaaren der Katze, die ihr Gesellschaft leistet. Sie klagt nicht, sie will ihren Freunden keine Last sein.

Sie hat begonnen einen Blog zu schreiben, kleine Geschichten über einen Vampir, der in einer Villa in der Nähe eines Friedhofs lebt. Sie mag Friedhöfe, sagt sie und lacht, die haben etwas Beruhigendes. Auf jeden Fall wäre ihr ein Friedhof lieber als ein Krankenhaus, „dort sind die Menschen wenigstens tot“.

Als ich sie das erste Mal besuchte, in einer Zwei-Raum-Wohnung im Stadtteil Rahova, fand ich ein kleines Mädchen in ihrem Bett vor, sorgfältig eingepackt in Decken, ihre Pupillen vergrößert hinter bunten Kontaktlinsen. Sie trug das Make-up eines Teenagers aus einem Animé-Cartoon. Amira hat Zuflucht in japanischer Kultur gefunden, erst in Musik, dann in Animé, Cosplay, Gyaru.

Aber manchmal, wenn die echte Welt sie einholt, sitzt sie auf ihrem Bett und baumelt zwischen dem, was ist, und dem, was hätte sein können.

„Wenn es ein Gerät gäbe, das eine Person genau das gleiche erleben ließe, wie man selbst gerade erleben würde …“

„Wen würdest du an dieses Gerät anschließen?“

„Wen? Burnei. Nur, dass er alles noch tausend Mal schlimmer erleben müsste, all die Schmerzen all der Kinder …”

Amira hat genug von Operationen. Sie sagt, sie hofft, dass die Apokalypse kommt, bevor sie eine Prothese braucht. Sie hat Angst vor zwei Dingen: Eine weitere OP und Emilias Tod. Und Bubus.

„Ich hatte nie Angst davor, dass meine Eltern sterben. Ich hatte vor gar nichts Angst. Ich wollte einfach rausgehen und bei meinen Freunden sein. Meine Mutter sagt immer ‚Aber denkst du denn nie an mich?‘ Natürlich tue ich das. Ich sage es nur nicht.“ Sie weiß nicht, woher die Angst kommt, aber sie ist da, sie hat sich ein Nest gebaut in Amiras Bett, unter ihrem Kopfkissen. Angst und Einsamkeit.

"You don' t need to quit life to be dead."

“You don’ t need to quit life to be dead.”

Träume? „Es gibt Menschen, die etwas sehen können, wenn sie an ihre Zukunft denken. Ich … ich könnte hier nicht allein bleiben. Ich hatte Träume, früher. Ich wollte ein Gyaru-Model in Japan werden. Aber jetzt kann ich mich nicht mehr dazu motivieren, irgendetwas zu werden.“

Die zweite Meinung

Im Herbst 2014, 16 Jahre, nachdem der Alptraum begann, traute sich Emilia etwas, was ihr laut Gesetz zusteht und das Recht eines jeden Patienten ist: Sie fragte nach einer zweiten Meinung.

„Jemand riet mir, zu diesem Professor zu gehen, einem Orthopäden für Erwachsene. Ich stand dort und dachte: Warte, schau dir nochmal sein Gesicht an! Während er über Burneis Pannen staunte. ‚Gute Frau‘, sagte er, ‚Ich kann nichts für Sie tun. Sie wussten wohl nicht, zu wem Sie da gehen?‘ - ‚Wie, wusste ich nicht? Was meinen Sie? Ist er nicht der Arzt, den sie im Fernsehen den besten des Landes, den besten Europas nennen?’“

„Der Mann ist entweder verrückt, oder er hat irgendeinen Streit mit Burnei laufen“, sagte sich Emilia und ging zum nächsten Orthopäden, einem Arzt des Militärkrankenhauses. Der kam zu demselben Schluss: „Der Fixateur hat den Deckel drauf gemacht. Damit ist die letzte Chance, dem Kind noch zu helfen, den Bach runter.“

Die dritte, vierte und fünfte Meinung bestätigten es: Die erste Operation war ein Experiment gewesen, die zweite sinnlos und der Rest klägliche Versuche, das Desaster wieder gutzumachen.

„Wie zur Hölle konnten sie ihr Mädchen nur zu Burnei schaffen?“, fragte sie der Chefarzt eines großen Krankenhauses in Bukarest. „Wir lachen uns kaputt, wenn wir den Typ irgendwo zu sehen bekommen!“

Emilia kam erst wieder zu Atem, als sie schließlich in Burneis Büro stand, um ihm zu sagen, dass sie die Wahrheit kannte, dass er ihre Tochter verkrüppelt hat: „Ich muss es Ihnen ins Gesicht sagen, damit ich weiterleben kann, damit ich mich nicht vor ein Auto werfe!“ Sie sagte ihm, dass ihr inzwischen elf Ärzte bestätigten, was sie ihm vorwarf: verpfuschte Operationen, unzertifizierte Implantate, die Traumata, die das alles auslöste.

Burnei reagierte defensiv. „Diese Operation war eine … eine … eine Operation, es war eine Nekrose … nach der Operation gab es eine Nekrose (…). Diese Substanz (das Keramik-Implantat) war vom Gesundheitsministerium autorisiert und wurde von Professor Antonescu im Krankenhaus Foișor hergestellt.“ Amira, die Emilia begleitete, nahm das Gespräch mit ihrem Smartphone auf.

„Ich habe alles Menschenmögliche für sie getan”, sagte Burnei immer wieder.

Er konnte sich weder daran erinnern, den Fixateur eingesetzt noch Emilia gedrängt zu haben, 5.000 Euro aufzutreiben und ihn von Argonmed zu kaufen: „Sie haben mich gedrängt, den Kontakt herzustellen, um Ihnen zu helfen, bei was auch immer … warum sollte ich das tun?“

Als Emilia sagte, dass sie sich am liebsten umbringen würde, dass ihr Kind auf ihre Facebook-Timeline postet, dass es sterben will, antwortete Burnei: „Es geht ihr besser jetzt, sie kann stehen, sie kann laufen.“

Als Emilia ihn später anrief, um ihm mitzuteilen, dass sie einen Anwalt gefunden hat, sagte er zu ihr: „Möge Gott dir geben, was du dir wünschst, möge er deine Seele vermessen und alles, was du mir wünschst, dir selbst zu Teil werden lassen.“

„Damit er nicht noch mehr Verbrechen an Kindern begehen kann”

Abends, wenn Emilia von der Arbeit nach Hause kommt, setzt sie sich an den Computer und sucht nach Eltern, die in einer ähnlichen Situation sind wie sie. Sie sucht die Kommentarspalten unter Artikeln über Dr. Burnei im Internet ab. Einige Eltern kannte sie bereits aus dem Krankenhaus, andere durch Facebook oder aus Foren. Sie fragte, wie es deren Kindern geht. Keinem der Kinder ging es gut.

Sie versuchte allen zu helfen. Sie drängte sie, nach Bukarest zu kommen und sich eine zweite Meinung einzuholen, sie gab Tipps und aufmunternde Worte, bot ihre Wohnung zum Übernachten an und schlief selbst auf dem Boden.

Sie sah ihre eigene Geschichte widergespiegelt in den Geschichten, die sie hörte. Von Menschen mit begrenzten Möglichkeiten und unbegrenztem Vertrauen in den Doktor, von Menschen, die geradezu unterwürfig in die Räume des Arztes eintraten, die sich nicht vorstellen konnten, dass es in dieser Welt Ärzte gibt, die kleinen Kindern Schaden zufügen. Von Menschen, die nicht wussten, dass sie Rechte haben.

Ende dieses Sommers fand Emilia einen Anwalt, der sie und die anderen Eltern vor Gericht vertreten würde, pro bono. Er will kein Geld, er will nur Burnei stoppen. „Damit er nicht noch mehr Verbrechen an Kindern begehen kann.“

Wie das alles passieren konnte, kann Emilia trotzdem nicht begreifen. Wieso darf dieser Mann Kinder operieren? Wieso hat kein Arzt in Rumänien je etwas gesagt?

Die Eltern fühlen sich vom Gesundheitssystem betrogen, von der Regierung und von der ganzen Gesellschaft. Sie haben sich organisiert und sind bereit, sich zur Wehr zu setzen. Sie wollen das Experiment offenlegen.

Deshalb sind sie zu uns gekommen.

Wir sind nicht die ersten Journalisten, an die sie sich mit ihrer Geschichte gewandt haben. Aber die anderen hielten es einfach für zu weit hergeholt, um ihre Aufmerksamkeit zu verdienen. Sie glaubten es nicht, oder wollten es nicht glauben. Und das Publikum liest doch lieber Geschichten über rumänische Genies als Verbrecher.

Wir haben ein Jahr gebraucht, um alle Informationen gegenzuchecken und die Quellen innerhalb des Systems zum Reden zu bringen. Viele von ihnen wollen Dinge verändern, aber niemand ist bereit, seine Karriere zu riskieren, bevor er sich nicht ausreichender Solidarität gewiss sein kann.

In den nächsten Tagen werden wir in weiteren Reportagen rekonstruieren, wie so viel Unheil so lange direkt vor unseren Augen geschehen konnte.

Es wird für uns alle die Möglichkeit sein darüber nachzudenken, wie viele Verrenkungen wir selbst machen, um nicht sehen zu müssen. Um nicht handeln zu müssen.


Dieser Text ist eine Recherche des unabhängigen Journalistenkolletivs Casa Jurnalistului. Er ist erstmals am Freitag, den 9. Dezember, auf Rumänisch erschienen.

Dr. Gheorghe Burnei ist am darauffolgenden Tag von der Polizei festgenommen worden. Bei Durchsuchungen seiner Privatwohnung sowie seines Büros im Krankenhaus Marie Curie in Bukarest fanden Ermittler unter anderem 50 Briefumschläge mit Bargeld, versteckt zwischen Büchern, und – im Kühlschrank, neben Lebensmitteln – Knochen von Kindern und Kühen.

Casa Jurnalistului liegen mittlerweile Hunderte weitere Aussagen von Opfern oder Angehörigen von Opfern Burneis und anderer rumänischer Ärzte vor.

Fotos: George Popescu (in Amiras Haus); Vlad Petri (im Krankenhaus); Redaktion: Vlad Ursulean, Ștefan Mako; Übersetzung: Victor Bitiușcă, Christian Gesellmann; Lektorat: Șerban Anghene; Vera Fröhlich.

Vielen Dank: RISE Project, Cătălin Tolontan.

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Românesc: http://casajurnalistului.ro/a-fost-un-experiment/.