Einer der renommiertesten Ärzte Rumäniens, Gheorghe Burnei, ist im Dezember 2016 festgenommen worden – einen Tag, nachdem Journalisten öffentlich machten, dass er an einem jungen Mädchen jahrelang Experimente durchgeführt hat.
Als das Kind ins Krankenhaus kam, humpelte es leicht. Elf Operationen später kann die inzwischen 19-jährige Amira kaum noch aus dem Bett aufstehen.
Doktor Burnei hat vermutlich an Hunderten Minderjährigen herumexperimentiert, ergaben Recherchen des unabhängigen Reporterkollektivs Casa Jurnalistului. Die Aufnahmen zeigen Kinder mit krummen Beinen, schiefen Wirbelsäulen, ausgebeulten Brustkörben, Geister grauer Krankenhausflure, gespickt mit Schrauben und Klammern.
Amira ist kein Einzelfall und auch nicht das Opfer eines einzelnen Mannes. Ihr Schicksal überschattete die Parlamentswahlen im Dezember 2016.
Denn zuvor tauchten im Netz praktisch minütlich Zeugnisse von Opfern Burneis und anderer Ärzte auf, Menschen, die jahrelang vergeblich um Anerkennung kämpften, oder sich bisher nicht getraut haben, öffentlich zu sprechen. Menschen die ihre Angehörigen verloren oder ihren Arzt mit Tausenden Euro schmieren mussten, damit er sie behandelt.
Der Skandal um Burnei ist eine von mehreren Enthüllungen über das korrupte rumänische Gesundheitssystem, die die vergangenen vier Jahre geprägt haben. Vor allem junge Menschen gingen zu Zehntausenden auf die Straße. Seit den Parlamentswahlen 2012 haben sie zwei korrupte Regierungen aus dem Amt protestiert, einen Präsidenten und Europas größte Goldmine verhindert.
Das Land hat in den letzten vier Jahren eine gesellschaftliche Revolution erlebt, wie sie in keinem anderen EU-Staat zu sehen war.
Gewaltsame Proteste gegen die Sparpolitik
Im Januar 2012 war es in der rumänischen Hauptstadt zu den gewaltsamsten Protesten seit der Revolution 1989 gekommen. Hintergrund war die Sparpolitik des liberalen Ministerpräsidenten nach der Weltwirtschaftskrise, der mit Lohnkürzungen und Massenentlassungen von Beamten die Staatsverschuldung senken wollte.
Das Gesundheitssystem sollte teilweise privatisiert werden, und der erzwungene Rücktritt eines Staatssekretärs im Gesundheitsministerium, der die Reform heftig kritisierte, ließen die Anti-Austeritäts-Proteste eskalieren.
„We Are Fucking Angry“, überschrieb ein Reporter von Casa Jurnalistului damals seinen Bericht über die Straßenschlachten in Bukarest, bei denen rund 60 Menschen verletzt wurden. Die Proteste waren nicht das übliche Katz-und-Maus-Spiel von Parteischergen, Gewerkschaftsschlägern, Bergbaukumpels, Rentnern, Arbeitslosen und bezahlten Hooligans wie sonst.
Diesmal stand die Jugend auf der Straße, die Hipster und die Ghetto-Kids. Leute, die nicht um die Pfründe der Vergangenheit kämpften, sondern um ihre Zukunft. Leute, die das Gefühl hatten, nicht noch eine bittere Pille schlucken zu können. Es war eine Explosion, die die Regierung zum Rücktritt zwang.
Der Urknall für eine neue, politische Generation, die sich erstmals bewusst wurde, dass es sie gibt.
Interesse an einem Zimmer in Bukarest?
Die Neuwahlen gewann die Sozialdemokratische Partei, Nachfolgerin der Kommunistischen Partei. Ich las damals einen kleinen Bericht im Internet darüber und kurz darauf erhielt ich eine E-Mail: „Hat jemand Interesse, im Sommer mein Zimmer in Bukarest für einen Monat zu übernehmen?” Ich wusste gar nicht, dass ich jemand kenne, der in Bukarest lebt. Ich las gerade Herta Müller. Ich antwortete noch am selben Tag: „Ich würd’s nehmen!”
Mein Plan war, in Unterhose in der Wohnung zu sitzen, Wein zu trinken und Gedichte zu schreiben. Es kam zum Glück anders. Außerdem lernte ich ein Mädchen kennen, wegen dem ich so oft es ging nach Rumänien zurückkehrte.
Aber wir würden heute nicht hier leben, hätte es die Demonstrationen im darauffolgenden Sommer nicht gegeben. Und ohne sie säße Doktor Burnei jetzt wahrscheinlich auch nicht in Untersuchungshaft.
Eines der zentralen Wahlversprechen der Sozialdemokratischen Partei mit dem Spitzenkandidaten Victor Ponta war es gewesen, ein höchst umstrittenes Bergbauprojekt zu stoppen: Ein kanadischer Konzern wollte in Rosia Montana in Transsylvanien Europas größte Goldmine eröffnen. Dafür sollten mehr als 2.000 Menschen umgesiedelt und mehrere Dörfer mit einer Zyanidlösung geflutet werden.
Dagegen gab es seit Jahren massiven Widerstand, weil die Technik mit extrem hohen Umweltrisiken verbunden ist, eine der historischsten Landschaften Rumäniens verschwinden, aber nur ein Bruchteil der zu erwartenden Gewinne im Land bleiben würden.
Der Spitzenkandidat Ponta versprach 2012, das Projekt zu beenden. Der Ministerpräsident Ponta konnte 2013 die Umsetzung kaum abwarten. Der kanadische Konzern hatte sich nicht nur die Politiker gekauft, sondern die Presse gleich mit. Er war der größte Werbepartner aller wichtigen rumänischen Medien.
Während im Sommer 2013 junge Menschen friedlich und kreativ Nacht für Nacht auf den Boulevards Bukarests gegen die Goldmine und Korruption demonstrierten, sprachen die etablierten Medien von Facebook-Hipstern und gewaltbereiten Hooligans und appellierten an die Polizei, die „Verkehrsstörungen“ zu beheben.
In dieser Zeit erfuhr die unabhängige Berichterstattung von Casa Jurnalistului so viel Unterstützung wie nie zuvor, konnte in ein größeres Gebäude ziehen und bildet heute in einem Residenzprogramm Nachwuchsjournalisten aus. Als erstes profitierte davon Luiza Vasiliu, die Reporterin, die maßgeblich hinter den Enthüllungen steht, die zur Verhaftung Doktor Burneis führten.
Die Rosia-Montana-Demonstrationen wurden Woche für Woche größer, sie fanden nicht nur in Bukarest, sondern in allen rumänischen Großstädten und in den Zentren der Diaspora statt, sie tauften sich Revolution und brachten das Gesetz, das die Goldmine erlaubt hätte, schließlich zu Fall – ohne Gewalt.
Demonstrationen drehten die Stimmungslage
Die Proteste wurden zum Festival für eine neue, politische Generation, die sich erstmals bewusst wurde, dass sie Dinge ändern kann. Hier und in diesen Wochen begann der Begriff Bürger wieder Sinn zu machen. Wir, die Jugend, waren gekommen, um zu bleiben.
Im Herbst 2014 ging es wieder auf die Straße. Premier Ponta, inzwischen wegen Betrugs, Geldwäsche und Steuerhinterziehung angeklagt, trat zu den Präsidentschaftswahlen an.
Den ersten Wahlgang gewann er auch deutlich, allerdings wurden viele der zwei Millionen Auslandsrumänen – die mehrheitlich gegen Ponta waren – an der Stimmabgabe gehindert. Vor Botschaften in London über Berlin, Madrid und Sidney standen Rumänen stundenlang umsonst an, weil es nicht ausreichend Stimmzettel gab.
Die anschließenden Demonstrationen drehten die Stimmungslage im Land, und im zweiten Wahlgang unterlag Ponta dem Kandidaten der Nationalliberalen Partei, Klaus Iohannis.
Weitere unabhängige Medien wie das Rise Project und prodemokratische NGOs wie die Funky Citizens profitierten von der gesellschaftlichen Revolution. Mit der Partei USR entstand ein Sammelbecken für unabhängige Kandidaten.
Aber die Revolution ist weitestgehend ein Projekt der urbanen Eliten. Die USR erhielt bei den Parlamentswahlen knapp 9 Prozent der Stimmen.
Ein Viertel der Bevölkerung lebt von Subsistenzwirtschaft, ein Fünftel in Armut. Die Alten und die Leute auf dem Land trauen den Hipstern und Facebook-Aktivisten noch weniger als den eingesessenen Politikern und wählen weiterhin PSD.
Wie vor vier Jahren erhielten die Sozialdemokraten die Mehrheit der Stimmen, und gewannen die Wahl mit rund 45 Prozent der Stimmen - obwohl ihr Spitzenkandidat Liviu Dragnea vorbestraft ist und für das Amt des Ministerpräsidenten wahrscheinlich nicht in Frage kommt.
Vieles, was an Hoffnung auf einen politischen Wandel aufkeimte, wurde bereits im Herbst 2015 von dem schwarzen Loch verschluckt, das die Brandkatastrophe im Bukarester Nachtclub Colectiv aufriss.
32 Konzertbesucher starben im Feuer. Der Club hätte nie eine Betriebserlaubnis erhalten dürfen. Mehr als 30 weitere Opfer erlagen ihren Verletzungen, viele, weil sie nicht richtig behandelt werden konnten. Die für mehrere Millionen Euro erbaute Klinik für Brandverletzungen in Bukarest war nicht betriebsbereit.
„Wir trauern, Arschloch“
Trauer und Wut schwappten wieder auf die Straße. „Korruption tötet“ stand auf den Plakaten und Häuserwänden. Diesmal ging es nicht gegen korrupte Politiker, sondern gegen Mörder. Die Proteste dauerten so lang, bis die Regierung um Ministerpräsident Ponta zurücktrat. „Wir trauern, Arschloch!“, schrieb Casa Jurnalistului.
Eine technokratische Übergangsregierung unter Dacian Ciolos, ehemaliger EU-Landwirtschaftskommissar, führte das Land bis zu den regulären Neuwahlen am dritten Adventssonntag.
Die Übergangsregierung arbeitete sachlich und erfolgreich. Sie beschloss Lohnerhöhungen und Steuersenkungen. Rumäniens Wirtschaftswachstum dürfte sich nach 3,8 Prozent im vergangenen Jahr 2016 noch einmal steigern und liegt damit deutlich über dem EU-Durchschnitt.
Die Anti-Korruptions-Behörde DNA arbeitet nun auf Hochtouren, mehr als 100 Staatsanwälte eröffneten in diesem Jahr mehr als 1.000 Verfahren, auf den Anklagebänken fanden sich Minister, Medienmogule, Chefärzte.
Aber der neuen, politischen Generation war nicht nur durch die Colectiv-Katastrophe schmerzhaft bewusst geworden, dass sich die Dinge nicht so schnell ändern werden. Bei den Bürgermeisterwahlen diesen Sommer wurden 50 Bürgermeister wiedergewählt, obwohl sie von der DNA angeklagt oder bereits von Gerichten verurteilt worden waren. Der Bürgermeister der Stadt Baia Mare wurde sogar wiedergewählt, obwohl er im Gefängnis saß.
Und im Frühjahr nach der Colectiv-Katastrophe erschütterte der nächste Medizin- Skandal Rumänien.
Der Journalist Cătălin Tolontan, der eigentlich für eine Sportzeitung schreibt, enthüllte, dass in fast allen rumänischen Krankenhäusern seit Jahren ein Desinfektionsmittel benutzt wird, das vom Hersteller Hexipharma bis zur Wirkungslosigkeit verdünnt wurde - wie im Fall von Doktor Burnei unter Mitwisserschaft zahlreicher Kollegen und Behördenmitarbeitern.
Durch Bestechung hatte Hexipharma die staatliche Ausschreibung gewonnen – und das Vertrauen, sich auch gleich noch selbst kontrollieren zu dürfen. Wie viele Menschen in Folge von Infektionen, die sie sich erst im Krankenhaus zugezogen haben, gestorben sind, kann niemand schätzen.
Das alles spielt sich vor dem Hintergrund einer medizinischen Versorgung ab, die sowieso schon durch die massenhafte Auswanderung und Bestechlichkeit von Ärzten und Krankenschwestern geprägt ist.
Der beste Arzt sollte es richten
Amiras Leidensweg begann, als ihrer Mutter mitgeteilt wurde, dass einer der beiden Oberschenkelknochen ihrer Tochter nicht richtig an der Hüfte sitzt. Mit einem Routineeingriff kann die Fehlstellung behoben werden, der Knochen wird lediglich eingerenkt und dann das Bein mit Gips fixiert. Amiras Mutter wollte auf Nummer sicher gehen und den besten Arzt für den Eingriff finden.
Und als der beste Arzt in Rumänien gilt Gheorghe Burnei, eine Ikone der pädiatrischen Medizin in Forschung, Praxis, Lehre. Ein Mann, der als oberster Experte über Kunstfehler anderer Ärzte richtete, Ritter des Malteserordens, der in den Klatschspalten der Zeitungen und den Boulevardsendungen des Fernsehens als Held dargestellt wurde, weil er im Land geblieben ist, statt auszuwandern, ein „Engel auf Erden.“ Doktor Brinkmann ist ein Schokoladenonkel gegen das Image des Doktor Burnei.
Burnei entschied sich, an Amira etwas Neues auszuprobieren. Er brach die Hüfte des Mädchens entzwei und setzte ein Keramikimplantat ein. „Er hat ihre Knochen zerhackt“, sagt Amiras Mutter.
Dieses Implantat „existiert in keinem orthopädischen Handbuch“, sagt ein Arzt einer anderen Bukarester Klinik. Die Machenschaften Burneis kannte er seit Jahren, er ist einer der Ärzte, zu dem sich Burneis Patienten flüchteten - und einer der vielen, die wussten und schwiegen. „Er hat an ihnen Experimente durchgeführt!“, sagt er.
Amira lebt heute mit ihrer Mutter und verbringt ihre Tage zumeist im Bett. Sie kann nur kurze Strecken laufen und nur mit Hilfe von Krücken. Ihr linkes Bein ist ein Fremdkörper, der ihr nicht gehorcht, ihr Rückgrat ist deformiert.
Wer diese Wahl gewonnen hat, ist eigentlich Nebensache. Die Sozialdemokraten haben zwar die meisten Stimmen erhalten, Präsident Klaus Iohannis hat aber angekündigt, deren Spitzenkandidaten nicht als Ministerpräsident vorzuschlagen, weil er wegen Wahlbetrugs vorbestraft ist. Der Spitzenkandidaten des Koalitionspartners, der Liberalen Partei, ebenso.
Redaktion und Produktion: Vera Fröhlich; Aufmacherbild: Parlamentspalast in Bukarest, Tiberiu-Mihail Cimpoeru.