Im November 2016 habe ich einen langen Text geschrieben, um zu verstehen, was in Syrien passiert. Diesen Text habe ich gerade aktualisiert. Wer ihn schon kennt und nur auf den neuesten Stand gebracht werden will, kann hier weiterlesen. Wer ihn nicht kennt, kann hier natürlich auch weiterlesen, wird aber vielleicht die eine oder andere Sache nicht komplett verstehen.
Sechs Punkte sind zentral:
1. Die Pro-Assad-Kräfte haben die Initiative, Waffenstillstandsabkommen halten nicht
Russland hat mit seinem Einsatz eine Niederlage der Assad-Regierung oder zumindest weitere Gebietsverluste verhindert. Dann hat es durch beständige konzentrierte Luftangriffe im Spätwinter 2016 die militärische Initiative zurückerobern können. Das heißt: Plötzlich waren Assad, der Iran und Russland wieder im Angriff, die Rebellen konnten nur verteidigen. Assad will Aleppo zurückerobern, die Kämpfe dort sind heftiger geworden. Gleichzeitig blieben alle Waffenstillstandsabkommen, die seit dem Einsatz Russlands geschlossen wurden, so gut wie wirkungslos. Das letzte fiel im September 2016 in sich zusammen.
2. Die Türkei ist zu einer aktiven Kriegspartei geworden
Drei Gründe werden immer wieder dafür genannt, dass die Türkei nun aktiver eingreift: Erstens, der türkische Präsident Erdogan wollte nach dem gescheiterten Putsch-Versuch der Armee zeigen, dass er nun das Militär kontrolliert. Zweitens, will er – ähnlich wie Russland – über die Zukunft Syriens mitentscheiden. Wenn türkische Soldaten auf syrischem Boden stehen, ist das eine Garantie dafür, dass Erdogan nicht übergegangen wird. Drittens, der beständige Vormarsch der Kurden hat die Türkei aufgeschreckt. Eines der größten strategischen Risiken in den Augen der Türkei sind die Ambititionen der Kurden auf einen eigenen Staat. Im Laufe des Krieges war es den syrischen Kurden gelungen, zwei mehr oder weniger autarke Gebiete entlang der türkischen Grenze zu erobern. Als sie kurz davor standen, diese Gebiete durch Eroberungen miteinander zu verbinden, fiel die Türkei im August 2016 ein. Sie stieß mit ihren Einheiten geradewegs in die Mitte hinein. Danach begannen türkische Truppen, auch Stellungen des IS anzugreifen. Erdogan, der islamistische Kämpfer jahrelang förderte, korrigierte so eine Politik, die zu Selbstmordangriffen in der Türkei selbst geführt hatte. Im Oktober errangen von der Türkei unterstützte Rebellen einen wichtigen Sieg: Sie erorberten Dabiq, einen Ort der sehr wichtig für die Mythologie des IS ist.
3. Eine Flugverbotszone gegen den Willen Russlands einzurichten, ist nicht möglich
Eine Flugverbotszone können zurzeit nur die US-Luftwaffe und die russische Armee gemeinsam durchsetzen. Russland hat in der Region mächtige Flugabwehrraketen stationiert und muss deswegen so einer Zone zustimmen. Aber immer wieder lehnt Moskau diesen Vorschlag ab. So lange sich nicht die grundsätzliche russische Interessenlage in Syrien ändert, so lange ist die Flugverbotszone keine glaubwürdige Option. Auch wenn es angesichts der Assad-Fassbomben wohl richtig wäre, sie zu einzurichten.
4. Die Nusra-Front hat sich von Al Qaida losgesagt und umgenannt
Bisher mischte sich die internationale Terrororganisation Al Qaida über ihren syrischen Ableger, die Nusra-Front, in den Krieg ein. Die aber hat sich im Sommer losgesagt und umbenannt in „Jabhat Fateh al-Sham“. In einer Videobotschaft hatte der Führer der Nusra-Front betont, dass die Gruppe keinerlei Unterstützung von außen erhalte. Damit ging er auf sehr hartnäckige Gerüchte ein, die Katar beschuldigten, die Gruppe zu finanzieren. Al Qaida selbst begrüßte die Trennung. Letztlich kann niemand genau sagen, warum die Nusra-Front diesen Schritt gegangen ist. Es gibt aber Anzeichen dafür, dass die Nusra-Front seitdem enger mit anderen bis dato eher feindlich gesinnten Rebellengruppen zusammenarbeitet.
5. Russland und die Anti-IS-Koalition töten Zivilisten, aber Russland schneller
Dass Russland vor allem den Islamischen Staat bombardieren würde, ist ein Mythos. Am häufigsten fliegt es Angriffe auf andere Ziele, auf die Rebellen, auf die Nusra-Front, die FSA, lokale Milizen - einige davon werden direkt von den USA unterstützt. Die Verteilung der Luftschläge zeigt, dass Russland dort angreift, wo die Assad-Regierung militärisch in Bedrängnis geraten ist. Nur fünf Prozent der russischen Angriffe sollen dem IS gelten. Schätzungen der britischen Nichtregierungsorganisation Airwars zufolge sollen bei den russischen Angriffen 3.600 Zivilisten gestorben sein. Bei Angriffen der US-geführten Anti-IS-Koalitionen sollen es 900 sein, allerdings in einem deutlich längeren Zeitraum. Rechnet man es um, sterben Zivilisten achtmal so schnell an russischen Bomben wie an denen der US-Koalition. Die Zahlen sind unterschiedlich hoch, weil die Strategien unterschiedlich sind. Während die US-Koalition versuche, zivile Opfer zu vermeiden, seien genau diese Teil des russischen Planes, sagt der Chef von Airwars dem Guardian. Zivilisten bewusst anzugreifen, gilt als Kriegsverbrechen.
6. Die Waffen im Syrien-Krieg kommen aus allen Weltgegenden
Mein Kollege Dominik Wurnig hat zusammengetragen, was man über Waffenlieferungen nach Syrien weiß. Offiziellen Statistiken zufolge profitiert vor allem Russland von Rüstungsverkäufen an die syrische Regierung. Diese Zahlen bilden aber nur einen Teil der Realität ab, da jede große Macht jeweils ihre Truppe aufrüstet. Zum Beispiel haben die USA im Oktober 2015 laut CNN 50 Tonnen Munition und Handgranaten für die Syrisch-Arabische Koalition aus der Luft abgeworfen. Saudi-Arabien hat Anti-Panzer-Waffen an die Rebellen geliefert. Der IS wiederum benutzt auch Gerät, das er 2014 im Irak erbeutet hat. In dessen Lagern in Kobane wurde aber auch russische, chinesische, sudanesische und iranische Munition gefunden.
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