Mittwoch, frühe Morgenstunden, eine Redaktion in Washington. Es ist zehn Minuten her, dass Donald Trump nach seiner Siegesrede von der Bühne gestiegen ist – und ich bin bei Wodka Nummer drei. Meine journalistische Arbeit für diesen Abend ist vorüber und langsam sinkt der Schock ein, dass dieser Mann Präsident werden wird.
Normalerweise sorgt die Lust am Neuen hier in den USA für Spaß an sprechenden Elektrofischen aus dem Teleshop, heute aber hat sich meine neue Heimat für den Rassisten und Frauenfeind entschieden, für Hass und für einen extrem elitären Simpel ohne jeden Intellekt. Und rund um ihn herum stand gerade eben im Fernsehen ein Team von Beratern, die seinen Wahn nicht abmildern werden, sondern ähnliche Irrlichter und noch extremere Rechtspopulisten sind. Ihnen gehören nun Weißes Haus, Senat und Repräsentantenhaus.
In meinem Umfeld stehen alle kollektiv unter Schock. Seitdem sich in den Stunden zuvor die Auszählungsergebnisse drehten, habe ich auf meinem Smartphone ein halbes Dutzend Freunde mit wackeligen Antworten auf die Großbuchstaben-Frage „WTF???“ versorgt: „Wie konnte das denn nun passieren?“ Wie bei dem Herrn auf dem Bild oben fühlt es sich für viele so an, als ob jemand gestorben sei und wir nun trauern müssten.
In den anderthalb Tagen seit der Auszählung der Stimmen hat überall das Grübeln eingesetzt, viele kluge Aufsätze sind schon geschrieben worden. Ich will drei grüblerische Eindrücke vor Ort ergänzen, über die ich seitdem besonders nachdenke. Bei zweien habe ich vorsichtige Therapie-Ideen, bei einem suche ich noch nach Vorschlägen. Damit uns das nicht noch einmal passiert.
Warum lagen wir so daneben? Antwort 1: Gutgläubigkeit
Ich habe viel darüber gelesen, wie wahnsinnig die Umfragen daneben lagen – aber so einfach ist es nicht. Was stimmt: Wir haben seltsamen Prognosen zu leichtfertig geglaubt. Die Vorhersagemodelle von Seiten wie Upshot und FiveThirtyEight gaben für Hillary Clinton Siegwahrscheinlichkeiten von 85 oder 70 Prozent aus. Solche Berechnungen haben uns alle in trügerischer Sicherheit gewogen. Wir verstehen sie zwar nicht instinktiv, lehnen uns aber bequem zurück – und das ist ein Problem. Was soll das heißen, dass in „85 Prozent der simulierten Wahlen“ Clinton gegen Trump gewinnen würde? Es gibt nur eine Abstimmung, das haben wir ja jetzt gesehen. Eine Regenwahrscheinlichkeit von 30 Prozent nützt einem auch nichts, wenn man ohne Schirm im Schauer steht.
Klüger wäre es gewesen, auf die absoluten Umfragewerte zu schauen: Real Clear Politics kam in einem gewichteten Durchschnitt am Wahltag darauf, dass Clinton vermutlich bei 46,8 Prozent landet, Trump bei 43,6 Prozent, es also 3,2 Prozent Differenz gibt. Das liest sich nicht nur realistischer und enger, man versteht es auch instinktiver. Ein paar Stimmen sind noch auszuzählen, aber es sieht so aus, als ob Clinton am Ende mit etwa 0,2 Prozent Vorsprung vorne liegen wird. Das ist am extremen Ende der oft im Kleingedruckten angegebenen Schwankungsbreite – aber es ist nicht so komplett daneben, wie jetzt vielerorts zu lesen ist.
Das Problem ist vielmehr, dass Umfragen so verlockend sind, für die Medien und für die Leser. Sie können schnell und flott in Artikel umgemünzt werden und sie lassen sich toll als „Horse Race“ vergleichen. Diese „Polls“ sind in den USA aber nicht nur traditionell wackelig und ihre Ergebnisse streuen stark – sie treffen auch auf ein Wahlsystem, das wegen eines kleinen methodischen Fehlers die Vorhersage für das ganze Land kippen lässt. „Normalerweise gleicht sich in der Statistik aber ein Fehler in der einen Vorhersage mit einem Fehler in der anderen wieder aus“, sagte gestern ein guter Freund, der als Soziologe arbeitet, am Telefon. Recht hat er. Aber Trump hat die Wahl in einem halben Dutzend Bundesstaaten gewonnen, in denen es besonders viele Weiße ohne höheren Schulabschluss gibt. Wenn ein Umfrageinstitut für Michigan glaubt, dass diese Leute daheimbleiben, dann glaubt es das auch für Wisconsin und Pennsylvania. In jedem dieser drei Staaten haben ein paar zehntausend Stimmen mehr für Trump den Sieg gebracht. Und schon standen 46 Wahlleute mehr in seiner Spalte – zwei Prozent machen einen Riesenunterschied aus, schreibt Umfrageprofi Nate Silver.
Warum lagen wir so daneben? Antwort 2: Faulheit
Am Mittwoch fällt mir in Gesprächen mit Freunden und Bekannten ein weiteres Argument auf. Es ist eines, das Hillary Clinton auch schon im Wahlkampf ständig verfolgt hat: Sie sei doch „genauso schlimm“ wie Trump, die Wahl insgesamt eine Entscheidung zwischen zwei gleich großen Übeln, Pest und Cholera. Im Nachhinein lassen sich die Wahlergebnisse so deuten, dass genau wegen dieses Arguments viele Menschen daheimgeblieben sind.
Donald Trump steht derzeit bei 59,8 Millionen Stimmen. Am Ende wird er etwa so abschneiden wie Mitt Romney, der republikanische Kandidat 2012. Der kam vor vier Jahren auf 60,9 Millionen Stimmen. Clinton aber hat Millionen Demokraten-Wähler verloren: Aus 65,9 Millionen Menschen anlässlich der zweiten Amtszeit Barack Obamas 2012 wurden heuer 60,1 Millionen Stimmen für Clinton. Grob werden ihr am Ende fünf Millionen Wähler fehlen.
Es ist wie beim Brexit: Die Extremen siegen, weil die Gemäßigten daheim bleiben. Weil Medien und Diskussionen im Freundeskreis so tun, als ob zwei Alternativen gleich problematisch sind. Aber das stimmt schlicht nicht. Um im Bild von Pest und Cholera zu bleiben: Clinton wäre so problematisch wie ein Schnupfen gewesen – aber jetzt haben wir es mit einem streuenden Krebs zu tun.
Ich beobachte diese etwas denkfaule Argumentation auch in Deutschland: „Merkel kann es doch lange nicht mehr“, heißt es da. „Wie sie diese Flüchtlingssache gehandhabt hat, war jetzt wirklich nicht so gut“, sagen sie und wenden sich dann im Extrem der AfD als Heilsbringer zu.
Bis zur Bundestagswahl im nächsten Jahr müssen wir aber immer wieder ein Vokabular finden, das zeigt, um wie viele Dimensionen extremer die „Alternative“ tatsächlich ist. Gleichberechtigte Darstellung in den Medien hilft genauso wenig wie der Spaß am Gedankenexperiment „Sollen sie doch mal zeigen, ob sie’s können“ am Stammtisch.
Warum lagen wir so daneben? Antwort 3: Werte
Am meisten grübele ich aber über einen weiteren Punkt. Viele schreiben, die Überraschung liege an meiner Filterblase, in der andere Meinungen als meine eigene nicht auftauchen. Ja, mag sein, aber meine Verwirrung basiert nicht nur darauf. Die Meinung von Trump-Anhängern und von der AfD erlebe ich schließlich medial oft genug. Mein Problem ist ein anderes: Ich verstehe „die anderen“ einfach nicht. Ich teile ihre Werte nicht. Ich kann es mir nicht einmal entfernt vorstellen, diese Werte zu haben.
Die Werte, für die Clinton im Vergleich zu Trump stand, erlebe ich durch meine Erziehung und das Leben in den USA als unumstößlich. Gleichberechtigung von Geschlechtern, Völkern und sexuellen Orientierungen. Verhandeln statt laut Rumbolzen. Die Idee, dass Nationen immer unwichtiger werden und wir letztlich auf die Vereinigten Staaten der Welt hinarbeiten. Und dann kommt da einer daher und schreit „America First“ – und er gewinnt damit die Wahl.
Es ist nicht nur ein Unverständnis. Wenn ich ehrlich bin, schaue ich auch herunter. Als ich in der Washington Post gestern eine Reportage über feiernde Trump-Anhänger lese, fällt mir auf, wie sehr ich urteile. Vom „Coors Light trinkenden Trucker“ ist da die Rede und in meinem Kopf entsteht das Bild eines Mannes, mit dem ich mir vermutlich nicht viel zu sagen hätte und den ich anstrengend fände. Ich bin mit dieser Überheblichkeit nicht allein. Ich habe viele Freunde, die „ironisch“ über „Bauer sucht Frau“ lachen. Und wer hat nochmal zuletzt den Clip geteilt, in dem die „Extra 3“-Leute bei Pegida Fragen zur Allgemeinbildung gestellt haben und voll die Nullcheckerantworten bekamen?
Schluss damit. Hillary Clinton nannte sie „Deplorables“, „zu bedauern“, SPD-Chef Sigmar Gabriel sprach vom „Pack“. Das ist emotional verständlich, bringt aber trotzdem nichts. „Ihr nennt sie Hillbillies und White Trash, für mich sind sie Freunde und Familie“, schreibt J.D. Vance in seinem bereits in diesem Artikel hier empfohlenen exzellenten Buch „Hillbilly Elegy“. Sein Argument: Schlecht gebildete Weiße sind die einzige gesellschaftliche Gruppe, bei der es für eine teils selbsternannte Elite in den Großstädten in Ordnung ist, auf sie herunterzublicken. Kommt dann jemand wie Donald Trump daher, der ernsthaft und in einer zugänglichen Sprache diese Gruppen anspricht, dann sorgt das für solche Wahlergebnisse, wie wir sie jetzt sehen.
Ich traue es mich kaum aufzuschreiben, weil es so banal ist, aber: Jeder hat Respekt verdient. Wir fordern immer, dass alle „den Menschen“ sehen, statt nur „den Flüchtling“. Dabei bedienen wir uns genau den gleichen Abziehbildern. Aus der Nähe sind aber auch die Trump- und AfD-Wähler keine Klischees.
Während meiner Busfahrt auf dem Rückweg von Washington nach New York grüble ich aber auch über die Sprachlosigkeit, die zwischen diesen beiden Gruppen herrscht. Ich kann mir das Leben und die Werte der „anderen“ nicht vorstellen – und viele Kollegen können das auch nicht, in unseren homogenen Redaktionsräumen mit nahezu ausschließlich deutschstämmigen Jungs und Mädchen aus der oberen Mittelschicht, hübsch platziert in Berlin, Hamburg und München. Natürlich gibt es da ein Empathieproblem.
Aber „sie“ können sich „uns“ auch nicht vorstellen. Es geht mir gar nicht um die Lauten, die ohnehin nicht mehr erreichbar sind und „Lügenpack“ schreien oder jetzt schon in den USA anfangen, Hakenkreuze zu malen. Es geht mir um die Gruppe, die im Stillen Trump ganz okay findet und darum, dass ich mir selbst ihr Leben nicht einmal vorstellen kann.
Aber dann denke ich an daheim und daran, in welche Gesichter ich manchmal in meiner alten Kleinstadt-Heimat blicke, wenn ich davon erzähle, wie toll ich es finde, hier in New York mit fünf Leuten aus vier Ländern in der Bar zu sitzen und so Freunde aus der ganzen Welt zu finden – weil ich davon überzeugt bin, dass es tolle Menschen sind und dass uns allen Offenheit guttut. Ich kann meine Begeisterung für Serien wie „Transparent“ nicht vermitteln, weil das für meine Gesprächspartner eine Show über komplett unvorstellbare Freaks ist – und eben nicht die derzeit prägnanteste Serie über die Natur aller Menschen. Und so wie ich denke, meine Gesprächspartner sind verbohrt und gestrig, so sehr denken sie, ich sei naiv und elitär.
Das ist mein dritter Punkt und derjenige, bei dem es mir am schwersten fällt, Lösungen zu finden. Dieser Graben erscheint mir am wenigsten überbrückbar, zumindest jetzt, zwei Tage nach diesem Wahlschock.
Und wie geht es weiter? Auf die Helfer schauen!
Noch stehen alle hier zu sehr bei „Soulsearching“. Bauchnabelschau zwar, aber immerhin ein Weg, um Energie für Alternativen zu sammeln. Trumps Sieg fühlt sich auch heute noch nach Trauerarbeit an, denn nach dem Schock folgt jetzt langsam die Besinnung auf das Positive, auf das, was künftig besser gelingen muss. Darauf, dass selbst hier die Trump-Wähler nicht in der Mehrheit waren und dass es die AfD-Anhänger in Deutschland auch nicht sind.
Eine Freundin hier postet oft bei Facebook, dass sie von ihrer Mutter einen Rat mitbekommen habe: „Bei jeder Katastrophe: Schau auf die Helfer. Bei jedem Unglück gibt es sie, man muss auf den Hintergrund achten, dort, wo die Krankenwagen vorfahren. Da stehen gute Menschen, die über sich hinauswachsen. Und sie sind viel mehr als der eine Täter, wegen dem sie gekommen sind.“
Für mich funktioniert diese Taktik seit gestern tatsächlich: Im Zweifel den Rechner mal eine Stunde auslassen. Weniger grübeln und den Untergang herbeilesen. Stattdessen rausgehen und loslegen. Anregen lassen von Freunden und Vorbildern: Menschen aus der Kultur wie der immer tolle Lin-Manuel Miranda. Der twittert mit einem GIF des fiktiven Über-Präsidenten Jed Bartlet aus „The West Wing“: „Bhahahaha, Ich habe nicht geschlafen. Aber die Sonne ist aufgegangen und die Welt dreht sich weiter. Let’s go!“
Deutsche Kollegen wie Kübra Gümusay, die schreibt: „Leute, jetzt kriegen wir unseren Scheiß zusammen und sorgen dafür, dass uns das nicht passiert. Wir rocken, aber so richtig. Bitte.“ Oder Menschen wie Anil Dash, ein Unternehmer, der hier bei Medium eine Liste mit Dingen erstellt hat, die sofort gegen den Hass getan werden können. Er sagt: „Wenn du Zeit zum Trauern brauchst, dann nimm sie dir. Aber es ist unausweichlich, dass wir unsere Wut, unsere Verzweiflung, unsere Ungläubigkeit nutzen, um damit extrem fokussierte Aktionen zu starten, die diejenigen am Rand der Gesellschaft schützt und unterstützt. Und es muss jetzt anfangen.“
Wodka habe ich gestern keinen mehr getrunken.
PS: Leslie Knope hat keinen Wodka, aber sie hat Kakao. Bisher für mich der schönste Text, wie es nun weitergeht (auf Englisch).
Aufmacherbild: istockphoto; Redaktion und Produktion: Vera Fröhlich.