Spätestens, seit Donald Trump am 16. Juni 2015 die goldene Rolltreppe seines Towers heruntergefahren ist und seine Präsidentschaftskandidatur erklärt hat, fragen sich die Menschen in meiner neuen Heimat, wie das alles passieren konnte. Nach hunderten Besinnungsaufsätzen und einem Schmuddelwahlkampf ohne Ende habe ich sechs Artikel, zwei Filme und ein Buch herausgesucht, die mir dieses Land und Donald Trump seitdem am Einleuchtendsten erklärt haben.
Das wichtigste Buch der Saison: Ein Blick auf den „White Trash“
Eines der meistdiskutierten Bücher der Saison beschreibt diejenigen, auf die wir in den Medien gerne herunterblicken. Hillbilly Elegy heißt es, geschrieben hat es J.D. Vance, ein Jura-Absolvent der Elite-Universität Yale, der in der Armut und dem Chaos einer Unterschichten-Familie in den Apalachen aufwuchs.
In seinen extrem lesenswerten Erinnerungen blickt er auf das eigene soziale Umfeld: Verlierer der letzten 30 Jahre, die unter dem Verschwinden von Industriejobs leiden, über die er aber schreibt: „Für die Amerikaner sind sie Hillbillies, Rednecks oder White Trash. Für mich sind sie Nachbarn, Freunde und Familie.“
Seine Kernthese: In den Intellektuellen-Kreisen der Großstädte gibt es nur eine gesellschaftliche Gruppe, bei der es in Ordnung ist, auf sie herunterzublicken. Es sind nicht die Schwarzen oder die Schwulen, sondern die Weißen der Unterschicht. Und genau dagegen wehre sie sich. Das sitzt, finde ich, und „Sie werden in diesem Jahr kein wichtigeres Buch über Amerika lesen“, bilanzierte auch der Economist.
Doch Vance gelingt der Spagat, auf diese Gruppe sowohl empathisch als auch schonungslos zu blicken. Ohne Arbeiterromantik oder Elitengehabe gelingt ihm ein Blick auf ein Milieu, das auch in Deutschland nicht genug gewürdigt oder verstanden wird – ein Schlüsselbuch, das mir am Beispiel der USA auch AfD-Deutschland nahe gebracht hat. Einen tollen Einblick in die Denkweise und Ansichten Vances bietet ein Interview im American Conservative.
Journalismus trifft Literatur: George Saunders blickt auf Trumps Fans
Ähnlich eindrucksvoll, aber deutlich kürzer hat der renommierte New Yorker Autor George Saunders in Who are all these Trump supporters? auf die Fans von Trump geblickt. Er besucht Wahlkampfveranstaltungen, beobachtet religiöse Erweckungserlebnisse und bringt einem das Land und dessen aktuelle Gräben ebenfalls sehr nahe.
„Woher kommt all die Wut? Sie ist virulent und Trump ist Typhus-Mary [eine aus Irland eingewanderte Dauerausscheiderin von Typhus im 19. Jahrhundert]. Nach Jahren eines immer weiter runtergedimmten öffentlichen Diskurses sind wir intellektuell und emotional geschwächt, Links-Land und Rechts-Land. Wir sprechen unterschiedliche Sprachen, die Rolläden zwischen uns sind heruntergelassen. Unsere beiden Länder argumentieren nicht nur unterschiedlich; sie beruhen auf Datensätzen, die sich nicht überlappen und sie beziehen sich auf komplett unterschiedliche mythische Systeme. Du und ich reiten auf eine Burg zu. Einer von uns hat nur „Monthy Python und der heilige Gral“ gesehen, der andere nur „Game of Thrones“.“
Ein Artikel, der alles erklärt: 18 Gründe für Trump
Kommen wir also konkret auf den Kandidaten. Und da gibt es eine gute Nachricht: Seit Anfang November muss sich niemand mehr die Mühe machen, mehrere Artikel über Donald Trump zu lesen, denn Kollege Lenz Jacobsen von Zeit Online hat mit Das Trump-Puzzle den einen Überblick geschrieben, der alle anderen zusammenfasst. Er betrachtet 18 Erklärungsansätze und verlinkt auf den besten Journalismus in Deutschland und den USA über den republikanischen Kandidaten.
Wie Trump sich selbst erfunden hat
Einen einzigen Aspekt möchte ich dennoch herauspicken, eine Fleißarbeit der Kollegen von Bloomberg Business Week über den mutmaßlichen Reichtum Donald Trumps. Abseits all des Hasses, der Frauen-, Ausländer- und generellen Menschenfeindlichkeit ist das ja eine der stärksten Erzählungen über Trump, der angeblich unfassbare Erfolg. Mit How Trump invented Trump haben die Kollegen schon im September 2015 eine Titelgeschichte geschrieben, die mir früh die Augen über diese Erzählung geöffnet hat.
„Trump präsentiert sich Amerika als König der Bauunternehmer, ein makelloser Dealmaker und meisterhafter Manager. Aber in der Realität ist er nichts davon. Trump hat in diesem Jahrhundert wenige Hochhäuser gebaut und ist zwei Mal gestolpert, als er es versucht hat – genauso wie er mit einer Reihe anderer Projekte gestrauchelt hat. Seine Art, ein Unternehmen zu führen, entspricht der Vorstellung eines Teenagers von Macht in der Geschäftswelt. […] Das heißt nicht, dass er ein Betrüger ist. […]
Trump stieg in den glitzernden 80ern mit geliehenem Geld auf, überlebte in den frühen 90ern Katastrophen, die ihn beinahe ruiniert hätten und verwandelte dann sich und sein Geschäft komplett. Die Organisation ist immer noch erfolgreich, nur eben nicht auf die Art, die er behauptet. […]
Trump kann Millionen Dollar verdienen, indem er seine fünf glitzernden Buchstaben lizenziert, dieses unschlagbare Verb, zum Beispiel an neue Hochhäuser auf den Philippinen, in Panama, Indien, Uruguay, Brasilien, Kanada oder auch in den USA. Dann muss er sich auch keine Gedanken darüber machen, Geld für Beton auszugeben. […] Außerdem ist da noch Trump Tee, ein Trump Energy Drink für Märkte in Israel und Palästina, Trump Kaffee und Trump Parfums namens „Success“ und „Empire“. Und das sind nur die Flüssigkeiten.“
Im Herzen ist er einsam, schreibt David Brooks für die Times
Was daraus am Ende aber folgt, hat David Brooks für die New York Times beschrieben. Er analysiert das seit Jahrzehnten unsägliche Leben Trumps und wie er einsam und wütend gegen jeden keilt.
Er hat immerhin Hoffnung, wie diese Geschichte ausgehen wird: „Donald Trumps Leben sieht oberflächlich erfolgreich aus, ist aber grundlegend furchtbar. Niemand von uns würde gerne in der jaulenden Wildnis seiner eigenen Einsamkeit leben wollen, egal wie dick diese übertüncht wird. Am 9. November, dem Tag nach Trumps Niederlage, wird es keine Solidarität geben, keinen wütenden Aufschrei. Alle werden sich einfach nur abwenden.“
Und Hillary? Die hört zu
Was ihnen dann ja wenigstens Zeit gebe, endlich mal differenzierter auf Hillary Clinton zu blicken. Über die heißt es ja immer, dass sie so wahnsinnig unnahbar sei. Dieses Bild hat für mich besonders der aufstrebende neue Superstar der US-Politikberichterstattung korrigiert. Ezra Klein beschreibt für vox.com in Understanding Hillary die Arbeitsweise Clintons prägnant mit zwei Wörtern. „She Listens“.
„Warum unterscheidet sich die Hillary Clinton, die mir ihre Mitarbeiter und sogar ihre Feinde beschreiben, so sehr von der Frau, die wir im Wahlkampf sehen? […]
Es gibt die Hillary Clinton, die mir von Leuten beschrieben wird, die mit ihr zusammengearbeitet haben und die Washington auf eine Art verstehen, wie ich es nie tun werde. Über ihre Hillary Clinton reden sie in Superlativen: extrem intelligent, lustig, wohlüberlegt, effektiv. Sie löst eine seltene Loyalität unter früheren Mitarbeitern aus und einen ungewöhnlichen Beschützerinstinkt, sogar unter früheren Feinden.
Mitarbeiter der Obama-Regierung bis hinauf zum Präsidenten selbst wollen sie dringend siegen sehen. Es hat mit der Art zu tun, wie sie sich nach der Wahl 2008 verhalten hat, welch eine Soldatin sie wurde und die Kollegin als die sie sich bewiesen hat. Das hat den Stolz, den sie über den Sieg in den Vorwahlen empfunden haben in etwas verwandelt, das an Schuld grenzt.“
Geschichte zum Zuschauen – Zweimal Doku-Exzellenz
Wem das alles als Lesestoff noch nicht reicht, dem lege ich noch zwei Dokumentationen ans Herz. „The Choice“ (hier auf Englisch im US-amerikanischen öffentlich-rechtlichen Sender PBS, aber auch verfügbar bei arte.tv) erzählt die Werdegänge Clintons und Trumps nach. Die Filmemacher finden dabei kompakt viele Aspekte, die auch Insidern neu sein dürften und blicken beispielsweise auf den Selbstmord von Trumps Bruder Frank oder die Anfänge der Clinton-Kritik, als sie vor 35 Jahren mit Kontaktlinsen statt Brille und mit neuer Frisur an der Seite ihres Mannes in Arkansas erstmals versuchte, die von Oberflächlichkeiten geprägte Männerdomäne Politik zu gestalten.
Abschließend sei noch ein Film empfohlen, der sich nicht im engeren Sinn mit der Wahl 2016 beschäftigt, eine Art Ersatzdroge zum langsamen Runterkommen. Andererseits spielen die Hauptfiguren in Sex, Lügen und Social Media: Der Fall Anthony Weiner dann doch eine Rolle im Wahlkampf von Hillary Clinton, denn Weiners Frau Huma Abedin ist eine ihrer engsten Beraterinnen und die jüngsten Ermittlungen beziehen sich auch auf einen Sexting-Skandal Weiners. Aber der Film erzählt nicht nur einen detaillierten Skandal für Hardcore-Interessierte, sondern fragt, warum Menschen sich Politik überhaupt antun, welchen Charakter es grundsätzlich dafür braucht und wie der Betrieb die eigene Familie verändert. Selten habe ich bei einer politischen Dokumentation so fasziniert grübelnd vor der Kinoleinwand gesessen.
PS: Auf eine letzte weitere Liste sei noch zusätzlich hingewiesen: Die Medienjournalistin Margaret Sullivan geht nicht nur auf die Fehler der Medien in diesem Wahlkampf ein, sondern sie beschreibt für die Washington Post 13 gelungene Momente.