Der Militäreinsatz in Afghanistan begann im Oktober 2001. Dennoch hat die Gewalt im Land laut der UN einen neuen Höhepunkt erreicht. Während die Taliban immer mehr Erfolge für sich verbuchen können, verlassen Tausende Afghanen tagtäglich das Land. Welches Resümee ziehen Sie?
Im Großen und Ganzen ein trauriges. Als die Vereinigten Staaten gemeinsam mit ihren Alliierten im Jahr 2001 nach Afghanistan kamen, stand das afghanische Volk ihnen zur Seite, um unser Land zu befreien. Afghanistan war durch die Taliban einer pakistanischen Invasion ausgesetzt (Anmerkung: Karsai spielt hier auf Pakistans Unterstützung für die afghanischen Taliban an, d. A.). Diese Invasion wurde vom Westen unter amerikanischer Führung geduldet.
Der Geistesblitz kam erst nach dem 11. September. Dann kam der Westen nach Afghanistan, um uns zu befreien und sein Erfolg war nur durch die Unterstützung des afghanischen Volkes möglich. Doch innerhalb weniger Jahre sahen wir, wie die Unsicherheit im Land wuchs. Ich habe den Amerikanern und unseren anderen westlichen Unterstützern immer wieder gesagt, dass der „Krieg gegen den Terror“ nicht in Afghanistan geführt werden kann. Der Grund ist ganz einfach: Die Wurzel des Terrors liegt nicht hier. Man findet den Terror nicht in afghanischen Dörfern. Durch brutale, nächtliche Hausdurchsuchungen erreicht man gar nichts. Man verliert nur das Vertrauen der Afghanen – und schadet ihnen. Der Grund, warum der Krieg immer noch im Gange ist und heute derart intensiv geführt wird, sind diese Fehler, die weiterhin begangen werden.
Die gegenwärtige Regierung der Nationalen Einheit von Aschraf Ghani und Abdullah Abdullah fällt von einer Krise in die nächste. Zum gleichen Zeitpunkt hört man immer wieder, dass Sie Ambitionen haben, wieder an die Macht zu gelangen. Ist das wahr?
Nein, solche Ambitionen habe ich gewiss nicht. Meine Zeit ist vorbei. Ich habe in den 14 Jahren meiner Amtszeit für das afghanische Volk mein Bestes gegeben. Ich glaube an ein demokratisches Afghanistan, in dem die Afghanen selbst über ihre Zukunft entscheiden. Ich wünsche mir, dass die junge Generation Afghanistans die Führung übernimmt. All diese Spekulationen über meine politische Rückkehr, vor allem in den westlichen Medien, entsprechen nicht der Wahrheit. Ich agiere lediglich als Bürger, der sich über die Zukunft seines Landes Sorgen macht und nicht als Politiker.
Als die Taliban im Jahr 2012 ihr Büro in Katar eröffneten, waren Sie außer sich vor Wut. Sie meinten damals, dass Afghanistan nicht zwei Regierungen haben könne. Ist genau dies nicht der Fall, seit Sie aus dem Präsidentenamt geschieden sind? Es ist ja kein Geheimnis, dass Präsident Ghani und Regierungschef Abdullah sich nicht gut verstehen und politisch in verschiedene Richtungen agieren.
Nein, das ist ein Unterschied. Wir haben heute eine Regierung, die von zwei Personen geführt wird. Im Falle der Taliban-Stelle in Katar hätten wir allerdings zwei Regierungen für ein Land gehabt. Dass Ghani und Abdullah interne Streitigkeiten haben, ist eine andere Geschichte. Als ich mich gegen die Eröffnung des Büros in Katar stellte, lag das Problem nicht direkt bei den Taliban. Es war ein Problem mit den Vereinigten Staaten. Schon vor der Eröffnung machte ich Präsident Obama klar, dass das Büro in Katar nur einen Zweck haben sollte: Den Weg zum Frieden mit den Taliban. Es sollte als Plattform für Friedensgespräche dienen und nicht als Repräsentation des sogenannten „Islamischen Emirats Afghanistan“, wie die Taliban unser Land bezeichnen. Ich wollte lediglich klarmachen, dass wir ein einziges, vereintes Land sind. Die Taliban verstanden mein Anliegen. Doch allem Anschein nach lag es damals im Interesse Washingtons, zwei Regierungen zu etablieren und das Land zu spalten.
Viele Menschen, vor allem die einfachen Menschen auf den Straßen Kabuls, loben ihre Amtszeit und betonen immer wieder, wie gut die Sicherheitslage damals war. Ihre Kritiker behaupten allerdings, dass das weniger mit Ihrer Person zu tun hatte, sondern lediglich mit der klug ausgewählten Zeit Ihres Abgangs. Als Sie aus dem Amt schieden, verringerte sich auch die Zahl der NATO-Truppen im Land erheblich. Wie stehen Sie dazu?
Ich habe nicht den Zeitpunkt meines Abgangs ausgewählt. Ich musste gehen, weil die afghanische Verfassung das so vorsah. Laut der Verfassung war es mir schlichtweg nicht erlaubt, eine dritte Amtsperiode zu bestreiten. Während meiner Amtszeit war Afghanistan sicherer. Ich führte meine Regierung souverän – und unseren amerikanischen Alliierten bot ich auch immer wieder die Stirn, wenn es sein musste.
Sie äußerten sich stets kritisch gegenüber den US-amerikanischen Luftangriffen im Land – und tun dies auch weiterhin. Vor Kurzem meinten Sie etwa, dass Sie Luftangriffe verbieten würden, wenn Sie an der Macht wären. Warum haben Sie das eigentlich nicht gemacht, als Sie tatsächlich regiert haben?
Das habe ich doch gemacht. Es war der Hauptstreitpunkt zwischen mir und den Amerikanern. Die Luftangriffe und die dadurch entstehenden zivilen Opfer wollte ich nicht dulden. Selbiges betraf die nächtlichen Spezialeinsätze. Das war auch der Grund, warum ich das bilaterale Sicherheitsabkommen mit Washington nicht unterzeichnen wollte.
Aber während Ihrer Amtszeit haben dennoch zahlreiche Luftangriffe stattgefunden. Laut der bekannten Zahlen fanden im Zeitraum von 2001 bis 2013 über 1.600 US-Drohnen-Angriffe auf Afghanistan statt. Wie kann man da von einem Verbot sprechen?
Sie dürfen mich nicht falsch verstehen. Ich habe diese Angriffe immer wieder öffentlich kritisiert und auch verbieten lassen. Doch die Amerikaner haben nicht auf mich gehört und meine Anweisungen einfach übergangen.
Der Medienmogul Saad Mohseni, Gründer des afghanischen Nachrichtensenders Tolo, antwortete auf Ihr jüngstes Statement, indem er behauptete, amerikanische Luftangriffe seien der „Wille des afghanischen Volkes“.
Wir sollten uns nicht darüber freuen, wenn Afghanistan bombardiert wird und wenn Afghanen getötet werden. Unsere Soldaten, Polizisten und auch Zivilisten sterben tagtäglich. Auch die Mehrheit der Taliban sind Afghanen. Es ist ein Trauerspiel, dass Einige von uns sich über amerikanische Bomben freuen. Kein Afghane wünscht sich, dass sein Land bombardiert wird. Genauso wie kein Amerikaner oder Australier es sich wünscht, dass seine Heimat bombardiert wird.
Laut einem aktuellen Bericht der Vereinten Nationen sind die Taliban weiterhin für die Mehrheit der zivilen Opfer im Land verantwortlich. Sie meinten einmal, dass Sie diesem jährlich erscheinenden Bericht nicht trauen würden. Warum trauen Sie der UN nicht?
Ich traue solchen Berichten nicht, weil ich weiß, wie sie zustande kommen. Die Fakten sehen oftmals anders aus. Wir kennen die Fakten in Afghanistan besser als die UN. Ich respektiere die Arbeit der UN in Afghanistan, allerdings kann ich mich nie voll und ganz auf ihre Daten und Statistiken verlassen. Die UN ist eine westliche Institution und agiert demnach auch nach westlichen Interessen. Im Endeffekt sollte jedoch eines klar sein: Egal, welche Seite für die Mehrheit der zivilen Opfer verantwortlich ist, das afghanische Volk leidet weiterhin. Dieses Leiden muss beendet werden.
Es gibt allerdings auch andere Akteure, die für schwere Menschenrechtsverletzungen in Afghanistan verantwortlich sind. Laut einem Bericht von Human Rights Watch töteten die Milizen von Vizepräsident Abdul Raschid Dostum vor wenigen Monaten mehrere Zivilisten im Norden des Landes. Dostum ist ein berüchtigter Warlord. Auch die Privatarmeen anderer Kriegsherren, die der Regierung nahestehen oder Teil von ihr sind, haben in der Vergangenheit immer wieder Zivilisten angegriffen. Denken Sie nicht, dass das auch eine direkte Folge Ihrer Politik ist? Immerhin haben Sie all diese Warlords 2001 an Bord geholt und ihnen Regierungsposten zugeteilt.
Nein, das denke ich nicht. Ich brachte die Warlords alle an einen Tisch und hatte sie unter meiner Kontrolle. Anfangs stellten sich die Vereinigten Staaten gegen diesen Schritt. Die Übergriffe von solchen bewaffneten Gruppen sind zu verurteilen und müssen untersucht werden. Verantwortung tragen vor allem jene, die diese Milizen unterstützen und bewaffnen.
Viele junge Afghanen flüchten weiterhin aus Afghanistan. Für sie gibt es hier keine Hoffnung. Gleichzeitig meinten sowohl Sie als auch führende Politiker immer wieder, dass diese jungen Menschen das Land nicht verlassen sollten. Ist das nicht unfair? Immerhin ist die junge Generation kaum für die gegenwärtige Situation verantwortlich. Außerdem leben die Familien vieler Politiker bereits im Ausland, etwa jene des Präsidenten oder des Regierungschefs.
Meines Erachtens nach ist das nicht unfair. Afghanistan ist auch das Land dieser jungen Menschen. Viele Staaten gehen irgendwann einmal durch schwere Zeiten. Doch diese muss man überstehen. Dass derartige Parolen jenen Politikern, die ihre Familien bereits ins Ausland geschafft haben, nicht abgekauft werden, ist vollkommen verständlich. Ihre Familien sollten auch hier sein! So sehe ich das. Meine Familie ist nämlich hier – und das wird sich auch nicht ändern.
Aufmacherbild: Flickr / Chatham House ( / CC BY 2.0; Redaktion Rico Grimm; Produktion: Susan Mücke.