Helden, Verbrecher, Politiker – im Kosovo schwer auseinanderzuhalten
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Helden, Verbrecher, Politiker – im Kosovo schwer auseinanderzuhalten

Ich bin in den Kosovo gefahren, um die Geschichte der Guerilla-Armee UÇK zu recherchieren. In Den Haag werden bald ihre Verbrechen behandelt. In der Heimat sind sie Helden.

Profilbild von Reportage von Christian Gesellmann

Warum bringen wir die Kinder nicht weg von hier? fragt Rexhep Selimi seinen Freund Adem Jashari. Selimi war nicht da, als die Polizei am Morgen zuvor das Anwesen der Jasharis umzingelt hatte, drei Bauernhäuser in Prekaz, einem Dorf im Herzen des Kosovo, umringt von sanften, bewaldeten Hügeln; eine Landschaft, die ein deutscher Schriftsteller mal als „unerhört weiblich“ bezeichnete: die Drenica.

Adem Jashari verschanzte sich mit seiner Familie im Haus und eröffnete das Feuer. Die Polizei schoss zurück, verwundete zwei seiner Töchter, gab aber schließlich auf. Sieben Jahre zuvor hatten sie schon einmal das Anwesen beschossen, drangen ins Haus ein und verprügelten mehrere Familienmitglieder. Damals versteckte Adem sich im Wald. Aber diese Zeiten sind vorbei.

Seit sieben Jahren ist Adem zur Fahndung ausgeschrieben, wegen terroristischer Aktivitäten und Mordes. Rexhep Selimi weiß, dass die Serben wiederkommen werden, als er an jenem Januarmorgen 1998 mit seinem Freund und Idol die Einschusslöcher im Mauerwerk betrachtet. „Warum bringen wir die Kinder nicht weg? Dann könnte das Kämpfen sogar richtig Spaß machen“, fragt er ihn.

Auch Selimi wird von der Polizei gesucht, seit fast drei Jahren lebt er bei den Jasharis. Er ist 27 Jahre alt, die AK 47 mit dem bananenförmigen Magazin hängt an einem Riemen von seiner Schulter. Er trägt Vollbart und eine Tarnfleck-Uniform der Schweizer Armee, versehen mit dem Wappen der UÇK, der „Armee zur Befreiung des Kosovo“.

Der 15 Jahre ältere Jashari, mit seinem wallenden Bart, den langen, an den Schläfen ergrauten Haaren und der weißen, Plis genannten Eierschalenkappe auf dem Kopf, trägt das Hemd unter seiner Tarnfleck-Uniform aufgeknöpft, zwei Patronengürtel über der Brust gekreuzt. Er sieht aus wie eine Mischung aus Karl Marx und Stationsleiter Kurtz; die Hauptfigur einer albanischen Version von Apocalypse Now.

Die Kinder wegbringen? - Jashari schaut Selimi in die Augen und sagt mit tiefer, ruhiger Stimme: „Glaubst du denn, ich liebe meine Kinder nicht? Glaubst du, ich würde nicht sterben für sie? Nur unter einer Bedingung lasse ich sie fortbringen: Wenn du auch für alle anderen Kinder im Dorf einen sicheren Platz findest. Ihr Schicksal ist das Schicksal aller.“

Ein Clan von 51 Menschen ausgelöscht

Einen Monat später kommt die Polizei wieder, um sechs Uhr morgens. Diesmal bringt sie das Militär mit, Panzer, Granaten, Mörser. Auf allen Zufahrtsstraßen der Drenica stehen Truppentransporter aufgefädelt.

Von einem 500 Meter entfernten Hügel aus beschießen sie das Anwesen der Jasharis. Nachbarn, die ihre Häuser in Panik verlassen, werden von Snipern erschossen, darunter auch zwei Kinder.

Rund 50 Mitglieder des Clans befinden sich in den drei Häusern. Die Männer und Jungs schießen mit Kalaschnikows, selbstgebauten Hinterladern und Maschinengewehren zurück, die Frauen und Mädchen kauern unter dem Fenster und laden Patronengurte und Magazine nach, während ohrenbetäubende Explosionen Löcher in die Wände reißen, groß wie Traktorräder.

Nach zwei Tagen Belagerung erlöscht der Widerstand. Der Dachstuhl des mittleren Hauses steht in Flammen. Am dritten Tag kommen Soldaten und werfen Handgranaten durch die Fenster. Als der Rauch verzogen ist, kommen sie rein und schießen auf die am Boden liegenden Körper. 51 Jasharis werden bei dem Angriff getötet, darunter 18 Frauen und 16 Kinder.

Einzige Überlebende ist Besarta, eine elf Jahre alte Nichte Jasharis, die sich unter einem Tisch zum Brotkneten versteckt hatte. „Bis zu seinem Tod hat Onkel Adem im Hof gesungen, damit wir keine Angst haben“, erzählt sie 15 Jahre später einem Fernsehteam.

Adem Jashari (links) auf einem Plakat mit Vater (Mitte) und Bruder

Adem Jashari (links) auf einem Plakat mit Vater (Mitte) und Bruder Foto: Christian Gesellmann

Mehr als zehntausend Menschen kommen zur Beerdigung. Die Zahl der Freiwilligen, die mit der bis dahin weitgehend unbekannten UÇK kämpfen wollen, vervielfacht sich danach, ebenso die Angriffe gegen serbische Einheiten, die wiederum mit noch brutaleren Vergeltungsschlägen reagieren.

Die Kosovaren fliehen, die NATO greift ein und bombardiert Serbien 78 Tage lang. Im Juni 1999 ist der Krieg offiziell vorbei. Kosovo wird ein Protektorat der Vereinten Nationen. 2008 erklärt das Land seine Unabhängigkeit, die unter anderem von Russland, Serbien, Spanien, Griechenland, Rumänien und Ungarn nicht anerkannt wird.

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Das Massaker an den Jasharis gilt als Auslöser des Kosovo-Krieges. Und als Ende des zehn Jahre währenden friedlichen Widerstandes der Kosovo-Albaner gegen das serbische Apartheidsregime. Der Zerfall Jugoslawiens begann und endete hier. Rund 12.500 Menschen starben im Kosovo, rund 1.700 gelten bis heute als vermisst.


Im Kosovo hatten mehrere Entscheidungen ihren Ursprung, die die deutsche und internationale Politik grundlegend verändert haben:

  • Die Bundeswehr hatte hier ihren ersten „robusten” Kampfeinsatz Im Ausland – ein Paradigmenwechsel in der deutschen Politik, beschlossen ausgerechnet unter der Ägide eines grünen Außenministers, der daraufhin von Mitgliedern seiner eigenen Partei mit roten Farbbeuteln beschmissen wurde.
  • Im Kosovo ist das Militärbündnis NATO nicht nur außerhalb des Territoriums der Mitgliedsstaaten, sondern auch ohne das obligatorische Mandat des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen mit Luftwaffe und Bodentruppen in den Krieg gezogen. Das Verteidigungsbündnis wurde zum Aktivbündnis.
  • Im Sicherheitsrat hatte Russland eine Resolution blockiert. Die NATO suchte einen Ausweg und der Begriff der Humanitären Intervention wurde definiert, der bis heute völkerrechtlich umstritten ist, weil er Eingriffe in innere Angelegenheiten souveräner Staaten legitimiert. Als Russland in Georgien und auf der Krim einmarschierte, wies Putin die Kritik an ihm mit Verweis auf den NATO-Einsatz im Kosovo zurück.
  • Für die Europäische Union sollte Kosovo das größte und teuerste Projekt der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik seiner Mitgliedsstaaten werden - der erste Versuch im State-Building. 2007 wurde die EULEX-Mission entsandt, rund 2.500 Richter, Polizisten und Staatsanwälte sollten beim Aufbau demokratischer Institutionen helfen und für Rechtsstaatlichkeit sorgen. Mehr als fünf Milliarden Euro hat die EU seit 1999 im Kosovo ausgegeben.

Aber in den vergangenen zehn Jahren hat sich das Leben für die Menschen hier kaum verbessert. Es gibt praktisch keine Industrie, die Lebenserwartung ist sieben Jahre geringer als im Rest des Balkans, die Jugendarbeitslosigkeit konstant hoch bei über 60 Prozent, die Wasserversorgung oft für Stunden unterbrochen, der Strom fällt regelmäßig aus. Autos zu waschen oder am Straßenrand Mais zu grillen gehören zu den populärsten Geschäftsmodellen. Heute leben rund 300.000 Kosovo-Albaner in Deutschland und 200.000 in der Schweiz.

Café-Besitzer in Prizren

Café-Besitzer in Prizren Foto: Christian Gesellmann

Insgesamt wird die Zahl der Kosovaren, die im Ausland lebt, auf rund zwei Millionen geschätzt – das sind mehr als im Kosovo selbst leben. Die Geldüberweisungen der Ausgewanderten an ihre Verwandten in die Heimat machen den Großteil des Bruttoinlandsproduktes aus.

Vor dem Krieg schickten viele Auslandskosovaren drei Prozent ihres Einkommens an die Parallelregierung Ibrahim Rugovas. Mit Bekanntwerden der UÇK schickten jedoch immer mehr Menschen Geld an die Guerilla-Armee anstatt zum Schattenpräsidenten Rugova. Und schließlich forderte die UÇK ihn auf, ihr die Spenden ganz zu übergeben. Fortan gab es eine zweite Front im Kosovo: die zwischen den urbanen Eliten und den Aufständischen vom Land. Auch in diesem Kampf gab es Tote.

Langfristig sollte die UÇK ihn gewinnen. Laut Europol hat sie in den fünf Jahren ihres Bestehens mindestens 500 Millionen Euro eingenommen, die Hälfte davon aus dem Handel beziehungsweise Schmuggel von Heroin und anderen Drogen. Die Kommandeure, die während dieser Zeit reich geworden sind, sind heute die einflussreichsten Politiker des Landes.

Mission EULEX sorgte für neue Skandale

EULEX sollte für Rechtsstaatlichkeit im Kosovo sorgen. Stattdessen ist die Mission selbst in Skandale verwickelt worden: Rumänische Polizisten sind hier beim Zigarettenschmuggel erwischt worden, ein italienischer Richter soll 300.000 Euro für einen Freispruch in einem Mordfall genommen haben, slowenische Diplomaten bedrohten Journalisten, französische Ex-Geheimdienstler sollten gegen Auftragskiller ermitteln, die sie mutmaßlich selbst ausgebildet haben.

„Die EULEX sollte den Kosovo europäisieren. Stattdessen haben wir die EULEX kosovarisiert“, sagte mir mal ein Enthüllungsjournalist aus Prishtina. Das einzige wirklich positive, das man über die EULEX sagen kann, ist wahrscheinlich, dass die UNMIK – die UN-Vorgängermission - noch schlimmer war. EULEX hat von UNMIK rund 1.200 Strafverfahren geerbt. Bisher hat sie gerade mal 15 Urteile gesprochen.

Knapp neun Jahre, nachdem sie ihre Arbeit aufgenommen hat, gibt es die EULEX zwar noch. Eine ihrer wichtigsten Aufgaben wird aber jetzt nach Den Haag delegiert: Die juristische Aufklärung der Aktionen der UÇK.

Das Parlament des Kosovo hat zugestimmt, von einem internationalen Gerichtshof Verbrechen von Mitgliedern der Guerilla während und nach dem Ende des Krieges untersuchen zu lassen: Es geht um Entführung, Folter, sexuellen Missbrauch und Ermordung von Roma, serbischen und albanischen Zivilisten in Gefangenenlagern sowie Organhandel.

Die Vorwürfe sind seit langem bekannt, wurden in Geheimdienstberichten gekabelt, von der Schweizer Staatsanwältin Carla Del Ponte 2008 in einem Buch veröffentlicht und zuletzt 2011 in einem Bericht des Schweizer Abgeordneten Dick Marty für den Europarat. Auf Martys Bericht hin wurde der neue Gerichtshof mandatiert.

Vom bestehenden Kriegsverbrechertribunal für Ex-Jugoslawien, ebenfalls in Den Haag, wurden viele der Verbrechen nicht verhandelt, weil sie nicht in die Zuständigkeit des Gerichts fielen – sie sind erst nach dem offiziellen Ende des Krieges oder außerhalb des Kosovo – und damit Ex-Jugoslawiens – in Albanien verübt worden.

Zu den Angeklagten werden aller Voraussicht nach Präsident und Ex-Premier Hashim Thaçi (ein Freund Adem Jasharis, Kampfname „Snake“) sowie weitere aktive und ehemalige Regierungsmitglieder gehören. Laut kosovarischem Gesetz sind sie durch ihre Ämter nicht vor den Verfahren geschützt. Bislang wurden sie durch die Ohnmacht der EULEX und durch die Immunität von Mafia-Bossen geschützt: der Angst, gegen sie auszusagen.

UÇK-Veteranen in Prekaz

UÇK-Veteranen in Prekaz Foto: Christian Gesellmann

Ex-Premier Ramush Haradinaj zum Beispiel wurde 2008 in Den Haag freigesprochen, nachdem neun von zehn Belastungszeugen während des Prozesses ums Leben gekommen waren – der letzte überlebende Zeuge zog seine Aussage zurück. Hunderte feierten den Freispruch, der im Zentrum Prishtinas auf einer Videoleinwand übertragen wurde.

Das neue Gericht wird ins ehemalige Europol-Hauptquartier einziehen und „Kosovo Relocated Specialist Judicial Institution“ heißen. Der Sondergerichtshof handelt nach kosovarischem Recht, ist aber ausschließlich mit internationalen Richtern und Strafverfolgern besetzt und wird von der EU sowie weiteren Geberländern, unter anderen den USA, finanziert. Für das erste Jahr sind 29,1 Millionen Euro veranschlagt. Das Gericht soll bis Mitte 2017 die Arbeit aufnehmen. Oberster Strafverfolger wird ein US-Amerikaner sein: David Schwendiman.


Nach dem Massaker an den Jasharis gab es eine Pressekonferenz in Prishtina, in dem Gebäude, in dem heute das Parlament seinen Sitz hat. Hinter dem Polizeisprecher hingen Fotos der Toten von Prekaz an der Wand. Auch ein Foto von Rexhep Selimi hing dort, seine Eltern saßen zu Hause auf dem Sofa und sahen es live im Fernsehen.

„Woran habt ihr gedacht, als ihr es gesehen habt?“, fragte Selimi sie später.

„Das hatten wir schon lange erwartet“, antwortete sein Vater.

„Nachdem wir uns getrennt haben, hat dann jeder für sich geheult“, erzählt Selimi mir, als ich ihn 18 Jahre später treffe.

Dass es die UÇK gibt, haben viele Kosovaren aus seinem Mund erfahren, am 28. November 1997. Die Guerilla hatte Polizisten erschossen, in einem Vergeltungsanschlag tötete die Polizei einen albanischen Lehrer. Während der im Fernsehen übertragenen Beerdigung las Selimi ein Manifest vor, er trug Uniform und eine Sturmhaube. Neben ihm stand ein Bruder Jasharis.

In diesem Block in Prishtina trafen sich die UÇK-Kommandeure vor dem Krieg

In diesem Block in Prishtina trafen sich die UÇK-Kommandeure vor dem Krieg Foto: Valentina Nicolae

Laut Selimi bestand die Führung der UÇK zu diesem Zeitpunkt aus einem Stab von acht Kommandeuren, die sich in Privatwohnungen in Prishtina trafen und Entscheidungen im Konsens fällten. Selimi war zunächst dafür zuständig, den Kontakt zu den Jahsaris zu halten. Später besorgte er auch Waffen aus Albanien und wurde schließlich verantwortlich für die Planung der Aktionen der UÇK.

Nach dem Krieg war Selimi ein Jahr lang Innenminister der Übergangsregierung von Hashim Thaçi – noch in Uniform. Britische KFOR-Kandidaten nahmen ihn einmal an einem Checkpoint wegen illegalen Waffenbesitzes fest. Als die Briten herausfanden, dass er die Waffen tragen darf, lud Selimi durch und zielte auf den Soldaten, der ihn aufgehalten hatte.

Heute ist er Parlamentarier – allerdings nicht mehr auf Thaçis Seite. 2010 wechselte er zur größten Oppositionspartei, Vetëvendosje (deutsch: Selbstbestimmung).

Rugova wollte der Gewalt nicht mit Gewalt begegnen

Als ich vor sieben Jahren das erste Mal durch Prishtina lief, fiel mir ein riesiges Wandbild auf. Es bedeckt die Front eines Hauses auf dem Mutter-Theresa-Boulevard und zeigt einen elegant gekleideten Mann in seinen Mitvierzigern mit Brille und langen Haaren, einen Seidenschal um den Hals, ein Buch in der Hand. Er läuft und lächelt, als hätte ihm gerade jemand etwas Witziges zugerufen.

Der Mann ist Ibrahim Rugova, „Kosovos Gandhi”, Symbol des friedlichen Widerstandes gegen Serbien, erklärte mir ein Freund aus Prishtina und führte mich nach Velania, ein ruhiges Viertel aus kleinen Gassen und unverputzten Häusern aus roten Ziegeln, über die Stromkabel wie Spinnennetze gespannt sind.

Rugova studierte Philosophie an der Sorbonne und war Präsident des Schriftstellerverbandes. Als Serbien dem Kosovo 1989 die Autonomierechte entzog und ethnische Albaner aus Schulen, Universitäten, Jobs und Ämtern ausschloss, gingen Hunderttausende auf die Straßen. Serbische Polizisten töteten mehrere Demonstranten, die Situation drohte zu einem Bürgerkrieg zu eskalieren.

Rugova rief im Fernsehen dazu auf, der Gewalt nicht mit Gewalt zu begegnen. Diplomatie sollte der Weg in die Unabhängigkeit werden. Die Kosovaren hörten auf Rugova, wählten ihn 1992 und 1998 zum Präsidenten einer Republik, die es noch nicht gab sowie 2002 und 2005 zum Präsidenten einer Republik ohne Souveränität. 2006 starb er an Krebs.

Jugendliche in Prizren

Jugendliche in Prizren Foto: Christian Gesellmann

Nachdem wir eine halbe Stunde lang bergan durch Velania gelaufen waren, kamen wir an Rugovas Grab an. Ein roter Teppich führte uns zu einem Sarg aus weißem Marmor, die Flaggen der EU, des Kosovo und Albaniens wehten im Wind, im Hintergrund das pixelige, ziegelrote Panorama der Stadt.

Zwei Kinder kletterten über die Samtkordel auf den Sarg, um Rosen darauf zu legen. Gerade noch rechtzeitig, bevor die gedenkstätteneigene Security eingreifen konnte, zog ihr Großvater sie am Jackenärmel wieder herunter.

Adnan verkauft Albanien-Merchandise

Adnan verkauft Albanien-Merchandise Foto: Valentina Nicolae

Rugovas Schattenregierung hatte in den 1990er Jahren geholfen, ein Parallelsystem für Bildung und Krankenversorgung aufzubauen. Professoren luden geschasste Studenten in ihre Privatwohnungen ein, in Hinterhöfen und Neubaublockwohnungen ringelten sich Grundschüler im Schichtsystem um ehrenamtliche Lehrer, Spenden wurden eingetrieben.

Wir müssen diese Situation aushalten, uns nicht provozieren lassen, war Rugovas Mantra, „irgendwann wird der Westen den friedlichen Widerstand der Kosovo-Albaner belohnen”. Die UÇK bezeichnete er einmal als „Erfindung des serbischen Geheimdienstes“.

Rugova lag mit beidem falsch.

Immer, wenn ich in den folgenden Jahren nach Velania zurückkehrte, fand ich den roten Teppich ein bisschen dreckiger und verblichener vor, die Flaggen ausgefranster, die Security schläfriger.

Während Rugovas Andenken verblasst, strahlt das von Adem Jashari umso mehr. Der neue Flughafen in Prishtina ist nach ihm benannt worden, die größte Kaserne des Landes, das Fußballstadion in Mitrovica. Sein Porträt, oft mit dem Titel „Der legendäre Kommandeur” oder dem Slogan „Baç U Kry!“ („Onkel, es ist geschafft!“) versehen, säumt als Plakate die Ausfallstraßen.

https://www.youtube.com/watch?v=e06gEe0_xpM

In Prekaz gibt es heute ein kleines Museum, in dem fast alles ausgestellt ist, was in den Ruinen gefunden wurde – ein Holzschlitten, halb verbrannte Kleidungsstücke, das Fahrerhaus eines roten Spielzeuglasters, eine Halskette, Geschirr und Blechschalen, aus Auspuffrohren zusammengebaute Gewehre, Sensen und Pflugschare. Es ist die meistbesuchte touristische Einrichtung des Landes.

Schüler während einer Gedenkveranstaltung in Prekaz

Schüler während einer Gedenkveranstaltung in Prekaz Foto: Christian Gesellmann

Das gesamte Anwesen ist im zerstörten Zustand erhalten und überdacht. Auf einem Gerüst kann man die drei Etagen ablaufen. Als ich im August das letzte Mal dort war, parkten Autos mit Kennzeichen aus Nürnberg, Minden, Göttingen, Dachau, Bern, Lyon, Graz, Skopje auf der einzigen Straße des Ortes.

Gegenüber stehen in einem kleinen Park 51 weiße Marmorsärge. Während der dreitägigen nationalen Gedenkveranstaltung vergangenen März legte eine endlose Kolonne Schulklassen, Politiker, Veteranen, Familien und Delegationen Blumen auf den Gräbern ab. Zunächst auf das von Adem, und, wenn dort kein Platz mehr war, auf eines der anderen.


Für unser zweites Treffen bin ich mit Rexhep Selimi im Garten des Manor House verabredet, einem noblen, freistehenden Restaurant, umgeben von grünen Hügeln, etwa zehn Minuten Autofahrt von Prishtina entfernt. Selimi kommt vom Tontaubenschießen mit seiner Frau Shqipe. Beide sind sportlich gebaut, tragen Cargo-Hosen, T-Shirt, Basecap.

Sie haben sich während des Krieges kennengelernt. Selimi zeigt mir Facebook-Fotos von damals, auf denen Shqipe in Tarnfleck zu sehen ist, im Hintergrund die Berge. „Guck mal, da trage ich eine deutsche Uniform“, sagt sie. Sie sieht heute noch fast genauso aus, kurze blondierte Haare. Selimi hat den Vollbart der Kriegsjahre abrasiert.

Shqipes Familie war Anfang der 90er nach Deutschland gegangen, weil ihr Vater seinen Job als Ingenieur verloren hatte. „Als er erfuhr, was in Prekaz geschah, beschloss er, dass die Familie zurückkehren und sich dem bewaffneten Widerstand anschließen würde“, sagt sie.

Shqipe ist 14 Jahre alt, als sie sich in der Drenica zum Einsatz meldet. Dort sieht sie Selimi das erste Mal, geheiratet haben sie 2007. Nach dem Krieg wurde Shqipe Major im Kosovo-Schutzkorps.

Ein Mann besucht mit seinen Kindern eine Gedenkveranstaltung zum 18. Jahrestag des "Jashari"-Massakers.

Ein Mann besucht mit seinen Kindern eine Gedenkveranstaltung zum 18. Jahrestag des “Jashari”-Massakers. Foto: Christian Gesellmann

„Okay, Christian”, sagt Selimi, „ich werde nun weiter ausführen, über was wir gestern gesprochen haben. Ich bin bei Vetëvendosje, weil ich bei der UÇK war. Beide Bewegungen dienen der gleichen Sache, wir haben die gleiche Flagge und das selbe politische Ziel: die Vereinigung aller Albaner auf dem Balkan.“ Wir sitzen unter einem weißen Pavillon, die Dämmerung bricht herein.


Haben Sie jemals an die Politik des friedlichen Widerstandes unter Ibrahim Rugova geglaubt?

Selimi: „Nie. Auf Milosevics Serbien hat das nie eine Wirkung gezeigt. Mein Schlüsselerlebnis hatte ich bei einer Demonstration in Klinë, 1991. Unsere einzige Forderung lautete Demokratie. Die Polizei schlug auf uns ein und trieb uns zu einem Feld. Dort warteten 20 oder 25 Polizisten mit Kalaschnikows im Anschlag, die erste Reihe auf Knien, die zweite stehend dahinter. Sie bekamen den Befehl und schossen in unsere Richtung. Mein Cousin, der neben mir stand, wurde von einer Kugel getroffen. Damals habe ich mir geschworen, diesen Leuten nie wieder ohne eine Waffe in der Hand entgegenzutreten. Und daran habe ich mich gehalten. Hätten wir mit dem friedlichen Widerstand weitergemacht, dann gäbe es im Kosovo heute vielleicht keine Albaner mehr.”

Die meisten Menschen haben sich trotz allem bewusst für den friedlichen Widerstand entschieden. Eine Waffe in die Hand zu nehmen und auf einen Polizisten zu schießen, das ist eine sehr drastische Entscheidung – wie war das bei Ihnen persönlich?

Selimi: „Mal angenommen, Russland würde Deutschland besetzen – was würdest du tun? Dich unterwerfen, oder für die Freiheit kämpfen? Ich denke, du würdest dich für das letztere entscheiden. So einfach ist das. Kosovo gehört nicht zu Serbien. Ich habe mich wie ein Sklave gefühlt, ich wollte mein Land befreien. Diktatoren wie Milosevic verstehen nur diese Sprache. War das jetzt patriotisch genug für dich?“

Selimi lacht und trinkt einen Schluck Weißwein. Inzwischen ist es dunkel geworden. Ich muss an die vielen Fotos auf seinem Facebook-Profil denken, die ihn in einer großen Runde Männer zeigen. Immer ist er der Mittelpunkt, er gestikuliert oder spielt Cifteli (eine zweisaitige albanische Gitarre). Im Hintergrund hängt meist eine wandfüllende Flagge Albaniens oder der UÇK.

Schüler während einer Gedenkveranstaltung in Prekaz

Schüler während einer Gedenkveranstaltung in Prekaz Foto: Christian Gesellmann

Eine typische Antwort von Selimi ist: „Lass mich zunächst eine kleine Anekdote erzählen - eine echte Geschichte!“ Es folgt eine irre, zehnminütige Erzählung, zum Beispiel darüber, wie ihn der serbische Geheimdienst während seiner Führerscheinprüfung mit einer Zigarette vergiften wollte.

Ich frage mich, ob er lügt oder sich nur kreativ erinnert. Eine häufige Frage im Kosovo. Gerade erst hat mir jemand erzählt, er habe einen ganzen Monat nicht geschlafen. „Ehrlich!” Einen anderen Mann habe ich vier Stunden interviewt, weil er behauptete, mit Adem Jashari in der UÇK gekämpft zu haben. Später stellte sich heraus, er hat ihm nur mal einen Burek ausgegeben.

Rund 15.000 Kosovaren haben unter dem Banner der UÇK gekämpft haben. Mehr als 30.000 haben die Veteranenrente in Höhe von 170 Euro pro Monat beantragt. Nicht nur ehemalige Kommandeure versuchen aus ihrer Kriegszeit Kapital zu schlagen.

Viele Fakten zur UÇK lassen sich nicht eindeutig belegen und sind in wissenschaftlicher Literatur, journalistischen Arbeiten, Wikipedia-Einträgen und den Erinnerungen von Primärquellen wie Besarta Jashari und Rexhep Selimi teilweise widersprüchlich (serbische und kosovarische Quellen widersprechen sich noch gründlicher).

Rexhep Selimi

Rexhep Selimi Foto: Valentina Nicolae

Was im Kosovo jedoch am meisten zählt, ist die mündliche Überlieferung. Die Erzählung wird Geschichte, der Mythos zum Faktischen. Laut Selimi hat die UÇK immer sauber gekämpft. An dieser Erzählung wird Den Haag sehr wahrscheinlich nicht viel ändern.

Selimis Verbindung zu den Jasharis geht zurück in den Dezember 1991. Adem war gerade aus einem Militärcamp in Albanien zurückgekehrt, als die Polizei versuchte, ihn zu Hause festzunehmen.

Es kam zu einer stundenlangen Schießerei, von der auch Selimis Onkel erfuhr, der 20 Kilometer entfernt lebte. „Aus Solidarität mit einer Familie, die von der serbischen Polizei angegriffen wird, hat er seine Waffen genommen und ist mit seinen Männern nach Prekaz gefahren, um Jashari zu helfen, obwohl er ihn gar nicht kannte. Das war eine große Inspiration für mich“, erzählt Selimi.

Sein Onkel wurde schwer verletzt, aber einen Monat später trafen sich die beiden Clans in Prekaz, um künftige Aktionen zu besprechen. Es begann die langsame Vernetzung bewaffneter Familien im ländlichen Kosovo, die drei Jahre später zur Gründung der UÇK führen sollte.

„Adem Jashari hat den Albanern im Kosovo gezeigt, dass in ihnen eine Kraft wohnt, die freigesetzt werden muss. Er redete nicht viel darüber, er tat einfach etwas. Er zeigte uns, dass Serbien gar nicht so stark ist, wie wir dachten, insbesondere nicht so stark, wie Rugova uns immer einredete.”
Ex-Guerilla Rexhep Selimi

Auf dem Mutter-Theresa-Boulevard in Prishtina, Mitte August. Die halbe Stadt flaniert die 600 Meter zwischen dem verfallenden orangefarbenen Kubus des Hotel Grand und der weißen Zuckertortenfassade des Swiss Diamond Hotels, in dessen Hinterhof Ferrari und Rolls Royce parken, rauf und runter.

Alte Männer in Westen, mit Spazierstöcken und Schnauzbärten, sitzen stumm auf Parkbänken, junge Männer stehen im Halbkreis um Box-Automaten, bei fliegenden Händlern gibt es Leuchtschwerter, viele Albanien- und wenige Kosovo-Flaggen, Skateboards, Wasserpistolen und Armbanduhren zu kaufen; Kinder singen für Kleingeld Volkslieder.

https://www.youtube.com/watch?v=kzhSycYxLR0

Video: Valentina Nicolae

Die Frauen tragen tiefe Ausschnitte, ziehen beim Laufen den Bauch ein und schauen einem sehr lang in die Augen, ohne zu lächeln. Junge Männer tragen hautenge T-Shirts auf denen Sprüche stehen wie „Montag ist ein Arschloch“ oder „Eat. Sleep. Fuck. Repeat.“ Die ganze Atmosphäre erinnert an Adria-Strandpromenaden.

Die Touristen hier sind die Familien der Einheimischen, die sogenannten Schatzis (auf albanisch: „Shaçis”). Die Diaspora ist im Sommer auf Heimatbesuch und auf Mutter Theresas Boulevard klingt es wie im Wedding:

„… die Schwester ist ja voll assi, als ich die gesehen hab …“

„… ey, da musst du dich übelst impfen lassen …“

„… und dann hat der Typ sie nicht angerufen …“

Kurz vor 23 Uhr explodiert eine Bombe. Erstmal weiß man natürlich nur, dass es sehr laut geknallt hat und ungefähr aus welcher Richtung. Neben mir steht ein 17-Jähriger, den seine Eltern nach Prishtina geschickt haben, weil er in London zu viel mit Drogen zu tun hatte. Er sagt sofort: It’s a bomb, man!, und verschwindet. Ilir, ein 22-Jähriger, sagt: Quatsch, das klingt anders.

Wir trinken und rauchen und sitzen bald allein auf dem Boulevard. Ilirs Familie ist während des Krieges nach Dortmund geflüchtet. Heute verkauft er selbstgemachten Schmuck aus einem Koffer und arbeitet in einem Call Center.

Am Mutter-Theresa-Boulevard in Prishtina

Am Mutter-Theresa-Boulevard in Prishtina Foto: Christian Gesellmann

Falls du schon mal die Kundenhotline der DHL angerufen hast, weil dein verdammtes Paket nicht ankam, kann es sein, dass du mit Ilir gesprochen hast. Er wird sich dann allerdings als Till Lindemann vorgestellt haben.

„Wir müssen deutsche Namen haben, Anweisung des Call-Centers. Meine Kollegen heißen alle Feuer, Stein, Weiß und Schneider und so“, sagt er.

Die Bombe – nur ein Ablenkungsmanöver?

Am nächsten Morgen berichten Medien, dass die Explosion von einer Bombe ausgelöst wurde, die auf dem Parkplatz des Parlaments hochging. Es gab keine Verletzten, aber Sachschaden, heißt es, obwohl niemand schreibt, was kaputtgegangen sein soll, und am nächsten Vormittag auch keine Schäden zu sehen sind.

Shuki, ein Radiomoderator, sagt mir: „Oh come on! Christian, du weißt, das Ganze war ein Inside Job” – ein Ablenkungsmanöver der Regierung. „Es muss immer mal krachen, damit die Leute nicht über die wirklichen Probleme nachdenken.“

Zum Beispiel über die sogenannte Pronto-Affäre, kürzlich an die Presse geleakte Wiretaps, die EULEX vor fünf Jahren von kosovarischen Regierungspolitikern gemacht hat, die sich am Telefon gegenseitig Jobs zugeschustert haben und Drohanrufe bei unliebsamen Parlamentariern machten.

Am Abend ist deshalb vor dem Parlament eine Demonstration angekündigt. Ilir schreibt mir eine Nachricht:

„Packt einen Schal ein!! Vielleicht schießt die Polizei wieder Tränengas in die Menge!!! Hahahahahaha!!!”

Er selbst kommt nicht, bei der letzten Demo habe die Polizei ihm ein Bein gebrochen und ihn für einen Monat in eine Hochsicherheitszelle gesteckt. Danach ist er bei Vetëvendosje ausgetreten. „Die haben einen Scheiß für mich gemacht, als ich im Knast saß“, sagt er. Trotzdem stellt er für mich den Kontakt zu Selimi her. „Vetëvendosje, das war wie Familie für mich.”

Die Demo am Abend bleibt friedlich. Nach einer halben Stunde lösen sich die kaum 200 Protestierenden wieder unter den Flanierenden auf. „Es ist noch zu heiß“, sagt einer der Demonstranten. Die Protestsaison gehe Mitte September los. „Und ich glaube diesmal, wird es heftig.“


Am nächsten Vormittag drängeln sich die Abgeordneten des Parlaments der Republik Kosovo mit tränenden Augen und Taschentüchern vor dem Gesicht aus der hölzernen Flügeltür des Plenarsaals.

Drinnen kickt ein Abgeordneter im schwarzen Anzug eine Blechdose über den Boden, aus der weißer, ätzender Nebel quillt und in schlanken Säulen aufsteigt. Ein dicker Abgeordneter beschimpft ihn von seiner Bank aus, aber nach ein paar Sekunden versagt ihm die Stimme, Tränen schießen auch aus seinen Augen, er tappt zum Ausgang.

https://www.youtube.com/watch?v=-__p6sLaloQ

Seit Oktober letzten Jahres hat Rexhep Selimis Partei Vetëvendosje fast jede Sitzung des Parlaments unterbrochen, in dem sie Reizgas versprühte. „So lange nicht das Volk entscheidet, werden wir dieses Parlament nicht anerkennen“, sagt Selimi.

Auf einem seiner Facebook-Fotos ist er zu sehen, wie er vor einer Reihe seiner Fraktionskollegen im vernebelten Halbrund des Plenarsaals steht, das Jackett offen, die Hände in den Taschen seiner Anzugshose. Er lächelt in die Kamera. Er ist der einzige im Bild, der keine Gasmaske trägt.


Diese Recherche wurde ermöglicht durch das Stipendium “Reporters in the Field” der Robert Bosch Stiftung und der Berliner Journalistenschule.

  • Mitarbeit: Valentina Nicolae und Adem Sylejmani;
    Fotos und Videos: Valentina Nicolae und Christian Gesellmann; Aufmacherbild: Häuserzeile in Prishtina; Foto: Christian Gesellmann;
    Redaktion und Produktion: Esther Göbel.*