Wer die Europäische Union verstehen will, muss den Fall der krummen Gurke anders sehen. Viele denken: „Die EU regelt den Krümmungsgrad von Gurken. Was für ein Bürokratenverein!“ Dabei ist das nur die oberflächliche, langweilige Betrachtungsweise – jene, die uns nichts über die Mechanik der EU verrät. Treten wir einen Schritt näher: Seit 2009 gibt es die Gurkenverordnung nicht mehr. Die EU hatte die Verordnung aber überhaupt erst auf den Wunsch des Handels und der Bauern hin eingeführt. Die nämlich brauchten standardisierte Güteklassen, um über den Preis verhandeln zu können.
Was also wie die Kopfgeburt völlig irrer Brüsseler Bürokraten wirkt, wurde ersonnen an den Schreibtischen von Lidl in Neckarsulm, des Bauernverbandes in Berlin und Carrefour in Boulogne-Billancourt, Frankreich. Sie ist genau das Gegenteil, Beweis einer funktionierenden EU. Und dennoch hatte der prominente Brexit-Befürworter Boris Johnson mit den Krümmungsgenossen der Gurken, den Bananen, für einen Austritt Großbritanniens aus der EU geworben. „Holt die Kontrolle wieder“, war der Schlachtruf der Brexit-Befürworter. Fortan sollten Zuwandererzahl und Krümmungsgrad des Obsts wieder völlig autonom von London aus gesteuert werden.
Aber was genau „kontrolliert“ denn die EU? Oder anders formuliert: Wie viele Gesetze in den Ländern haben ihren Ursprung in der EU?
1988 sagte der damalige Präsident der Kommission, Jacques Delors: „In zehn Jahren werden 80 Prozent der Wirtschafts-Gesetzgebung, und vielleicht auch der Steuer- und Sozialfragen, von der Europäischen Gemeinschaft geregelt werden“. Delors wagte eine Prognose, daraus machten Andere aber eine Feststellung. Deswegen wird seit mehr als zwei Jahrzehnten behauptet, dass die EU 80 Prozent aller Gesetze in ihren Mitgliedsländern beeinflussen würde. Wenn diese Zahl stimmen würde, wäre das doppelt problematisch. Erstens sieht die EU vor, Dinge national zu regeln, die nicht von ihr aufgrund von Sachzwängen geregelt werden müssen – kann das bei wirklich bei 80 Prozent der Gesetze der Fall sein? Zweitens ist die EU, das ist sogar unter EU-Mitarbeitern unstrittig, im Vergleich zu den Ländern weniger demokratisch: das Parlament hat weniger Rechte, der Rat der Regierungen zu viele.
Die Politikwissenschaftlerin Annette Töller hat sich ausführlich mit dieser Frage beschäftigt. 2012 schreibt sie: „Die berühmte 80-Prozent-Regel könnte in den Bereichen der Landwirtschaft, der Umweltpolitik oder der Finanzmärkte Realität sein.“ Könnte. Es ist schwer, ganz genau zu sagen, wie viel Einfluss die EU auf die Gesetze der Länder hat, weil die EU zwar grundsätzlich in jedem denkbaren Politikbereich mitmischt, aber mit unterschiedlicher Intensität. Auf manchen Feldern, zum Beispiel der Umweltpolitik, kann sie Richtlinien erlassen, die die Parlamente in nationale Gesetze überführen müssen, wenn sie nicht bestraft werden wollen. Auf anderen Feldern, wie etwa der Außenpolitik, ist sie kaum mehr als ein Papiertiger, der knackige Erklärungen abgibt, aber wenig Macht hat. Das ist die erste Erkenntnis:
1. Wie viel Einfluss die EU auf die Gesetze der Länder hat, hängt von dem jeweiligen Thema ab.
Aber was genau heißt „Einfluss“? Laut dem Vertrag von Lissabon kann die EU etwa in der Außenhandelspolitik völlig eigenständig arbeiten und Gesetze erlassen, nationale Gesetze gelten hier nichts. Ich lasse diesen Bereich fortan außen vor, weil hier der Einfluss der EU 100 Prozent beträgt. Praktisch heißt das, dass zum Beispiel kein Land allein ein Freihandelsabkommen abschließen darf. In Feldern der „geteilten Zuständigkeit“, etwa des Verbraucherschutzes, muss die EU nicht tätig werden, kann es aber. Wenn sie es tut, haben ihre Gesetze Vorrang vor denen der Länder. Zuletzt gibt es noch Felder, in denen die EU nur unterstützend tätig werden kann und darf, zum Beispiel im sehr sensiblen Bereich der Kultur.
Forscher interpretieren den „Einfluss“ der EU aber anders, sie sind zur gleichen Zeit allgemeiner und differenzierter. Arbeiten wir uns voran.
Eine Möglichkeit, den Einfluss der EU festzuhalten, ist so simpel wie komplex: Einfach zählen, wie viele Gesetze und Verordnungen in den Ländern auf einen Impuls aus Brüssel zurückzuführen sind. Wie genau dieser Impuls aussieht, ist unterschiedlich, aber für unsere Frage nicht so wichtig. Die erste Untersuchung dieser Art hat Annette Elisabeth Töller durchgeführt. Sie kam 2008 zu dem Ergebnis, dass 39,1 Prozent aller Gesetze in Deutschland auf die EU zurückzuführen sind. Dafür hat sie sich die Daten aus 22 Jahren (1983 bis 2005) angeschaut. In einer neueren Untersuchung für die Jahre 2005 bis heute kommt sie auf einen leicht niedrigeren Wert, was aber daran liegen könnte, dass der Bundestag sein Zählsystem umgestellt hat. Die Ergebnisse von Töller bestätigen Kollegen von der Universität Mannheim, die bis 2005 auf eine Zahl von maximal 32 Prozent kommen und sich zusätzlich anschauen, wie wichtig (gemessen an Kosten und Auswirkungen) jeweils die Gesetze sind. Wenn man diese Kategorie mit einbezieht, sinkt der Einfluss der EU noch weiter. Das ist die zweite Erkenntnis:
2. Die EU hat deutlich weniger Einfluss auf die Gesetze der Länder als angenommen. Ungefähr jedes dritte Gesetz in Deutschland hat seinen Ursprung in Brüssel.
Dass die EU in einigen Feldern mehr Einfluss hat als auf anderen, spiegelt sich auch in den Zahlen dieser Forscher. So hat Töller etwa für die Jahre 2009 bis 2013 diese Anteile ermittelt:
Das ist die dritte Erkenntnis:
3. Am stärksten „europäisiert“ sind Umwelt und Landwirtschaft. Am wenigsten Inneres, Arbeit und Soziales sowie Bildung.
Die Bereiche, die am wenigstens europäisiert sind, sind jene, die am stärksten einen Staat definieren. Der Staat hat die Gewalthoheit auf seinem Gebiet mit der Polizei („Inneres“), er verteilt Hunderte Milliarden Euro an Arbeitslose und Bedürftige („Arbeit und Soziales“) und schafft in der Bevölkerung ein Wir-Gefühl durch seinen Schulunterricht („Bildung“). Wenn falsch verstandene Gurkenkrümmungsverordnungen bereits so einen Furor auslösen, können Sie sich leicht vorstellen, was passieren würde, wenn EU-Polizisten in Köln patrouillieren würden, Brüssel über die Hartz-IV-Sätze entscheiden würde oder im Schulunterricht nicht mehr nationale Geschichte mit all ihren Schlüsselmomenten unterrichtet würde, sondern eine „europäische Geschichte“, die zwar faktisch richtig ist, aber für manche keinerlei Identitätspunkte mehr liefert. Auf der anderen Seite macht es viel Sinn, dass die EU einheitliche Umweltvorschriften für den ganzen Kontinent erlässt – schließlich kennen Flüsse, Berge und Luft keine Grenzen.
Als ich Töller per Mail auf ihre Forschungen ansprach, schickte sie eine Warnung mit: „Es muss einem klar sein, was die Zahlen nicht abbilden.“ Sie sagt, dass Gesetze allein nicht ausreichen, um ein realistisches Bild zu bekommen. Zum Beispiel kann die EU auch durch ihre Kartellverfahren in den Ländern wirken, ohne dass ein Parlament etwas beschlossen hat. Oder EU-Gerichte treffen Entscheidungen. Völlig außen vorgelassen sind auch Instrumente wie der Stabilitätspakt oder die verschiedenen Maßnahmen, die die Euro-Länder unternommen haben, um ihre Währung zu stützen.
Dann gibt es noch einen weiteren Punkt. Er ist in meinen Augen verantwortlich für die große Mehrheit der Missverständnisse, für die vermeintliche Bürgerferne der EU: Die EU lebt gerade nur durch ihre Mitgliedsländer. Es gibt keine europäische Sprache, keine europäische Öffentlichkeit und nur in Ansätzen eine europäische Zivilgesellschaft (die aber kein Vergleich zu Netzwerken in den Ländern darstellt). Die EU zu kritisieren, heißt immer auch: die eigene Regierung zu kritisieren. Denn sie sitzt im Rat der EU, dem mächtigsten Organ dieses in der Geschichte einzigartigen Staatenbundes.
In den Augen von Anette Töller ist es eine Ausnahme, dass die Mitgliedsstaaten „Opfer der Regulierungswut“ der EU werden. „Die Mitgliedsstaaten haben selbst Projekte, die sie in Brüssel verfolgen.“ Ein in Rest-Europa berüchtigtes Beispiel ist zum Beispiel der deutsche Einsatz für recht laxe Abgasnormen für Autos bzw. der französische Einsatz für die Agrarsubventionen. Es gibt sogar Fälle, in denen die Regierung eines Landes zu Hause kein Gesetz aus den verschiedensten Gründen erlassen konnte und dann über Bande gespielt hat und sich in der EU für eine neue Verordnung stark gemacht hat, die genau jene Vorschriften beinhaltet, die zu Hause auf nationalem Weg nicht mehrheitsfähig waren. So ist zum Beispiel Großbritannien im Falle sogenannter Öko-Audits vorgegangen, also im Falle von ökologischen Betriebsprüfungen. „Es wäre also deutlich zu einfach, die Mitgliedstaaten als passive Empfänger des europäischen Rechts zu verstehen“, schreibt Töller.
Daraus ergibt sich die vierte Erkenntnis:
4. Die Gesetzgebung der EU wird sehr häufig von nationalen Interessen beeinflusst. Nationale Regierungen, Bundesländer, nationale Verbände – alle reden mit.
Aber wie oben erwähnt: Gesetze sind nicht alles. Die EU wirkt auch noch auf anderem Wege. Der Münchner Politikwissenschaftler Christopher Knill hatte 1999 Pionierarbeit geleistet als er beschrieb, dass die EU auch einfach dadurch wirken kann, dass sie (rhetorisch) den Weg für Gesetze in den Ländern ebnet oder bestimmte, andere Praktiken, zum Beispiel Handelshemmnisse blockiert. Das ist die fünfte Erkenntnis:
5. Die EU nimmt nicht nur durch Gesetze Einfluss, sondern auch durch Entscheidungen und Verhalten der Kommission oder der Gerichte.
Kommen wir zum Schluss nochmal auf die Gurkenkrümmungsverordnung zu sprechen. Denn ihre Geschichte birgt eine Pointe, die Glanz und Elend der Europäischen Union auf den Punkt bringt: Nachdem also die EU auf Bitten der Händler diese Bestimmung erlassen hatte und sie nach dem Spott der Bevölkerung wieder einkassiert hat, haben einige Großhändler eine Entscheidung getroffen: Sie wenden die Vorgabe einfach weiter an. An den Schreibtischen in Neckarsulm, Berlin und Boulogne-Billancourt lebt die Gurkenkrümmungsverordnung so weiter.
Das Thema dieses Artikels haben unsere Leser aus insgesamt zehn Vorschlägen, die wiederum von Lesern kamen, ausgewählt. In der Krautreporter-Facebook-Gruppe zur Europäischen Union haben wir (Mitglieder und ich) diesen Artikel dann erarbeitet.
Redaktion: Marius Elfering; Produktion: Dominik Wurnig; Aufmachergrafik: Sibylle Jazra für Krautreporter.