Die Diktatur, die aus der Kälte kam

© Blankspot / Johan Persson

Nachrichten, erklärt

Die Diktatur, die aus der Kälte kam

Eritrea hat sich jahrelang abgeschottet. Jetzt können Martin Schibbye und Johan Persson überprüfen, ob Eritrea wirklich das Nordkorea Afrikas ist. Was gar nicht so einfach ist, wenn die Menschen dort nicht mit Journalisten reden und die Regierung alle Missstände auf den Krieg mit dem Nachbarland Äthiopien schiebt.

Profilbild von von Martin Schibbye, Ostafrika

Was bisher geschah

Im ersten Teil der Reportage haben Autor Martin Schibbye und sein Fotograf Johan Persson die jüngste Geschichte Eritreas erzählt und Menschen aus dem ostafrikanischen Land sowohl in Genf als auch in Stockholm getroffen. Dann bekamen sie Visa für Eritrea, flogen los und haben immer vor Augen, dass sie fünf Jahre zuvor im Nachbarland Äthiopien 438 Tage im Gefängnis saßen. Im zweiten Teil der Reportage besuchten sie einen Panzerfriedhof, interviewten die Regierung, waren im größten Hafen des Landes und besuchten ein Kinderkrankenhaus.


Der Taxifahrer schaut verwirrt, als ich ihn bitte, mich zur „Parteizentrale“ zu fahren. Verwirrung gibt es nicht darüber, welche Partei gemeint ist - es gibt nur eine - sondern welche der Zentralen. Nach einem Hin und Her hält das Taxi vor einem großen und eindrucksvollen Gebäude mit dem Namen „Red Sea Corporation“. Der eritreische Staat wickelt über dieses Unternehmen die Geschäfte mit ausländischen Investoren ab.

Nach neuen Anweisungen bringt uns der Taxifahrer zu einem anderen, ebenso beeindruckenden Gebäude, geschmückt mit eritreischen Flaggen und der Parole „Awet N’ Hafash!“ Das heißt auf Deutsch in etwa: „Sieg für das Volk!“

Im ersten Stock empfängt uns Yemane Gebreab, der Berater des Präsidenten. Er sieht besser aus als vor sechs Monaten in Stockholm - nach neun Runden gegen die europäischen Medien. Wir setzen uns um eine kleine Gruppe Sofas herum, die wir laut umherrücken, um Platz für die Kamera zu haben. Yemane Gebreab betrachtet uns neugierig.

Er scheint guter Laune zu sein, und nicht nur, weil das Interview bei ihm zu Hause stattfindet. Dank eines Abkommens mit der EU dreht sich der Wind für Eritrea. Das Land erhält 200 Millionen Euro aus dem Entwicklungsfonds, trotz lauten Protests seitens des EU-Parlaments.

Die EU hat angesichts der massiven Flüchtlingswelle ein Interesse an stabilen Verhältnissen in Eritrea. Das Land will seine junge Generation nicht verlieren, und Europa will sie auch nicht an seine Tür klopfen hören. Darüber hinaus kooperiert wegen des Kriegs im Jemen Eritrea mit Saudi-Arabien. Außerdem haben europäische Politiker ihre Haltung zur Flüchtlingsfrage geändert.

„Viele europäische Länder fangen an, die Situation in Eritrea zu verstehen. Sie überlegen, ob es klug ist, jedem Asyl zu geben, der sagt, es sei Eritreer”, erklärt Yemane Gebreab. Er habe die Veränderungen aufmerksam verfolgt. “Immer mehr Politiker, Journalisten und Investoren besuchen Eritrea und bekommen ein ausgeglicheneres Bild. Sie sehen, dass die Menschen hier in Frieden und Harmonie leben und dass die Regierung nicht korrupt ist.”

Nach Angaben von Yemane Gebreab diskutieren mehrere Länder darüber, ob es sicher ist, abgelehnte Asylbewerber nach Eritrea zurückzuschicken. „Aber wir sind noch weit davon entfernt, dass Europa Eritrea als einen Ort der Chance sieht und nicht nur als ein Problem, das gelöst werden muss.” Er glaubt, dass die bestehenden Unterschiede durch offene Diskussionen angegangen werden können.

Es gibt nur wenige Gemälde im Stadtbild von Asmara, die an den Krieg erinnern.

Es gibt nur wenige Gemälde im Stadtbild von Asmara, die an den Krieg erinnern.

Johan unterbricht das Interview. Er möchte die Linse seiner Kamera wechseln, damit er statt meines Rückens das Gesicht des Präsidentenberaters ins Bild bekommt. Der beobachtet die Szene mit Interesse. Während des 30-jährigen Kriegs war er selbst Reporter in den Schützengräben. Wir plaudern darüber, dass heutzutage alle Medien mehr und mehr visuelle Inhalte und Multimedia benötigen.

Beim Thema Gefangene macht der Berater dicht

Während unseres letzten Interviews sprachen wir viel über Dawit Isaak. Als die Linse getauscht ist, komme ich direkt zur Sache. „Yemane Gebreab”, sage ich, „haben Sie irgendwelche Neuigkeiten über Dawit Isaak?”

Der Berater des Präsidenten lehnt sich zurück und atmet ein. Ich starre auf seine Nase. Was, wenn ich jetzt einen Exklusivbericht bekomme?, denke ich. Zu meiner Überraschung antwortet er: „Ich bin nicht befugt, in diesem Interview über seinen Fall zu sprechen.“ Ich bin verwundert. Der Berater des Präsidenten, der vor sechs Monaten offen über den schwedisch-eritreischen Journalisten Dawit Isaak und die Pressefreiheit redete, ist nun überhaupt nicht befugt, über den Fall zu sprechen?

Ich versuche es mit einem anderen Ansatz und frage nach einer möglichen Amnestie.

„Ist es nicht Zeit, das hinter sich zu lassen, jetzt, wo Eritrea jetzt 25 Jahre Unabhängigkeit feiert?”

„In Bezug auf die Amnestie kann das Regime entscheiden und sie gewähren, dennoch bin ich nicht befugt, über diese Angelegenheit in diesem Interview zu sprechen”, wiederholt er.

Auf so eine schroffe Antwort war ich nicht vorbereitet. Ich schlucke und antworte, dass ich seinen Widerwillen respektiere, über dieses Thema zu diskutieren. Vielleicht gebe ich auf, weil ich immer noch auf ein Interview mit dem Präsidenten hoffe.

Ich studiere sein Gesicht und denke, dass ein Mann wie er in den Jahrzehnten in den Schützengräben Träume und Hoffnungen gehabt haben muss. Er und seine Partei haben nicht nur für Unabhängigkeit, sondern auch für „Demokratie und Gerechtigkeit” gekämpft.

„Nach 25 Jahren Unabhängigkeit gibt es keine privaten Zeitungen, Wahlen wurden nicht abgehalten, um nur zwei Dinge zu nennen, die ich mit dem Begriff Demokratie verbinde. Ist das Eritrea von heute die Nation, von der Sie geträumt haben?”

Yemane Gebreab rutscht auf seinem Stuhl hin und her. „Heutzutage werden die meisten Wahlen in der Welt überbewertet. Ich glaube nicht, dass alle diese Wahlen den Wunsch des Volkes repräsentieren. Wir können darüber verschiedener Meinung sein, aber sehen Sie sich die Wahl in Äthiopien an, wo die regierende Fraktion 100 Prozent der Sitze gewonnen hat. Ist das demokratisch?”

Er glaubt an ein „einzigartiges Wahlsystem”, mit dem sie selbst experimentieren. Kein Außenstehender soll glauben, Eritrea mit ihren Zurechtweisungen und „gutgemeintem Rat“ beeinflussen zu können.

„Ideologisch sind wir nicht gegen Wahlen, aber wir versuchen auch nicht, das zu tun, was in diesem bestimmten Monat die beliebteste Art zu sein scheint, Dinge in der Welt zu tun”, sagt Yemane Gebreab.

„Wir haben uns nicht bereichert“

Er weist die Unterstellung zurück, es gebe nur deshalb keine Wahlen, weil die Regierenden den Machtverlust befürchten. „Wir sind nicht daran interessiert, die Macht zu behalten. Niemand unter uns ist durch seine Position reich geworden. Wir hätten alle mehr Geld verdient, wenn wir etwas anderes getan hätten, als Politiker zu werden. Wir wollen Freiheit für unser Volk und wir sind bereit, darüber zu diskutieren, was funktioniert und was nicht.“

Aber aufgrund des Krieges und des Grenzkonfliktes hätten sie ihr Ziel nicht erreichen können. „Der Aufbau des Landes gestaltete sich schwieriger, als wir gedacht hatten, und aus diesem Grund wurden wir in einen neuen Krieg hineingezogen und mussten den Aufbau in einer turbulenten Zeit bewerkstelligen.”

Um seine Aussagen in einen Zusammenhang zu stellen, fordert er von denjenigen, die Eritrea verurteilen, auch all das zu betrachten, was im Land noch hätte geschehen können und vermieden wurde – die Tatsache, dass es in Eritrea weder gewalttätige ethnische Konflikte gab, noch dass die Mitglieder der herrschenden Partei sich zur herrschenden Klasse gemacht haben.

„Wir haben uns nicht bereichert und wir reisen nicht in großen Konvois mit Leibwächtern. Wir waren immer loyal gegenüber den Menschen, die im Krieg gekämpft haben. Wir leben in Nachbarschaft, und unsere Kinder besuchen dieselben Schulen.”

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Trotz der aufgeheizten Rhetorik zwischen Eritrea und Äthiopien glaubt Yemane Gebreab, dass ein weiterer Krieg unwahrscheinlich ist. Aber Kriege brechen manchmal vollkommen überraschend aus. Nach seiner Ansicht gründet sich die Ablehnung Äthiopiens, Gebiete in Eritrea zu räumen, auf der „Hoffnung, dass wir zusammenbrechen werden”. Aber die Vorstellung, dass „wir eine schwache Nation sind und sie selbst durch die USA und die EU unterstützt werden”, gründe auf veralteten Annahmen.

„Unsere Wirtschaft wächst, und der Rest der Welt hat begonnen, an Äthiopien als Partner zu zweifeln. Diejenigen, die Geld in unseren Zusammenbruch investieren, werden tief enttäuscht werden”, sagt er.

Eine Rückkehrerin, die ohne Honorar arbeitet

Am nächsten Tag baue ich das Tonbandgerät auf einem wackligen Beistelltisch auf. Johan spielt rastlos mit seiner neuen Kamera herum und macht ein paar Schnappschüsse. Wir sind beide allmählich frustriert darüber, dass wir schon so viele Interviews gemacht haben, ohne die Stimmen zu bekommen, die wir suchen. Und jetzt ist es Zeit für ein weiteres. Es ist klar, dass wir einen weiteren Ausflug machen müssen, dass diese Reportage eine fortdauernde Reise ist.

Das Facebook-Logo ist auf eine Wand des Internet-Cafés gemalt. Eine Stunde Internetsurfen kostet 10 US-Dollar. Niemand überprüft den Pass bei der Anmeldung und es sind keine Websites zensiert. Eine handgeschriebene Notiz fordert Benutzer auf, keine Pornos zu schauen. Um uns sind junge Leute, die sich mit Verwandten auf der ganzen Welt unterhalten. Trotzdem fühlt sich das Online-Gehen wegen der extrem langsamen Verbindung an, als würde man durch einen Strohhalm atmen.

Wir reden über Eritrea als Urlaubsziel. Darüber, ob es eine Art von Nationalismus in Dritte-Welt-Ländern gibt, die den sogenannten Erste-Welt-Ländern fremd ist. Es fühlt sich an, als würde der derzeitige Ausnahmezustand langsam, aber sicher zur Normalität – sogar für uns. Wir haben uns daran gewöhnt, und diese Erkenntnis ist ernüchternd.

Wir sind jetzt Teil einer Anzahl journalistischer Teams, die sagen können, ihnen wurde „Zutritt gewährt”. Man ist frei, ist es aber gleichzeitig auch nicht. Egal, wie viele Fragen man stellt oder welchen Blickwinkel man einnimmt, man kann nicht ganz hineinkommen. Uns wird bewusst, dass wir nach diesem Ausflug auch zu den Flüchtlingslagern im Sudan gehen müssen.

Während wir unser Dilemma diskutieren, läuft Meala Tesfamichael zu dem silbernen Beistelltisch und setzt sich. Sie schiebt ihre Sonnenbrille auf den Kopf und bestellt Tee.

„Ich bin die Frage ‚ Warum bist du nach Eritrea zurückgekehrt, wenn so viele andere von hier geflohen sind?‘ so leid”, sagt sie und lacht.

Vor drei Jahren entschied sich Meala Tesfamichael, von der Schweiz nach Asmara zu ziehen und ohne Honorar beim Informationsministerium zu arbeiten. „Das Leben in der Schweiz war anders. Ich hatte alles: ein Auto, eine Wohnung, einen Job. Ich postete mein Frühstück bei Instagram und zahlte meine Rechnungen. Aber war ich glücklich? Hier in Asmara fühle ich mich lebendig, dieses Leben ist wirklich, echt.”

In der Schweiz fühlte sie sich als Bürgerin zweiter Klasse und wurde von Anfang an ständig darüber belehrt, „wie es hier in der Schweiz so läuft”.

Was die Regierung vermitteln will: Es gibt ein Leben in Asmara, das nichts mit Unterdrückung und Krieg zu tun hat.

Was die Regierung vermitteln will: Es gibt ein Leben in Asmara, das nichts mit Unterdrückung und Krieg zu tun hat.

Meala Tesfamichael wollte auch Eritreas Isolationismus durchbrechen und den Eritreern eine Stimme geben. „Ich weiß, dass ich gegen den Strom schwimme, aber ich spüre, dass mein Land fortlaufend gemobbt wird, in den Social Media und in der Weltpolitik. Ich wollte Eritrea vor Ort verteidigen und nicht nur hinter einem Schreibtisch sitzend unterstützen.”

Eritreer, die nur zeitweise in ihrem Geburtsland leben, sozusagen in der Urlaubs-Diaspora, werden „Beles” genannt – nach einem Kaktus, der nur im Sommer blüht. „Viele kommen mit sehr viel Geld an, leben in Luxus-Hotels und fahren anschließend wieder nach Hause. Sie glauben, dass wir, die hier wirklich leben, von nichts eine Ahnung haben, aber ganz offen gesagt, sind sie es, die es hier nicht aushalten würden.”

Ich kenne Meala Tesfamichael aus Reportagen der BBC und von France 24. Sie ist diejenige, die das Ministerium für Information zur „Begleitung” von ausländischen Journalisten in Eritrea sendet. Mit ihrer Erfahrung in Strategischer Kommunikation bietet sie oft ihre Dienste an, wenn ihre Regierung sie um Unterstützung bittet.

„Ich werde nicht bezahlt. Ich bin freiwillig hier. Die Politiker baten mich, die englischsprachigen Zeitungen zu unterstützen und die Qualität der Medien Eritreas zu verbessern.“ Sie unterrichtet auf freiwilliger Basis andere in Journalismus.

„Wenn Menschen von unserer zwingenden Wehrpflicht hören, glauben sie oft, dass es nur darum geht, Waffen an der Grenze zu tragen. Im Ministerium für Information jedoch gibt es viele, die ihren Dienst als Journalisten ableisten. Sie erlernen einen Beruf und dienen ihrem Land.”

Sie verteidigt das System, weil der Staat so zu billigen Arbeitskräften kommt. „Ohne die Wehrpflicht könnten wir uns niemals leisten, Journalisten mit ordentlichen Löhnen einzustellen. Auf diese Weise halten wir sogar die Arbeitslosigkeit unter jungen Leuten auf einem Minimum”, sagt sie.

Ist Eritrea wirklich das „Nordkorea Afrikas“?

Derzeit wird sie das Gefühl nicht los, dass zu viele der Berichte über Eritrea von „gönnerhaften Europäern“ stammen, verfasst in einer „Menschenrechtssprache”. Jedes Mal gehe es um die Pressefreiheit und nicht um die UN- Resolution über das Recht, Essen und einen Platz zum Leben zu haben. „Ich vermute, das Recht, nicht zu hungern, ist nicht sexy genug für euch Journalisten. Ihr wollt Berichte, die provozieren und piesacken.“

Meala Tesfamichael ist eine der Architekten der neuen Medienstrategie, die es ausländischen Journalisten gestattet, nach Eritrea zu kommen. „Im vergangenen Jahr hat sich das Land geöffnet, und wir möchten, dass die Menschen herkommen und versuchen, uns zu verstehen.“

Sie hat diese vielen Überschriften über das „Nordkorea von Afrika“ satt. „Es sind jedes Mal die gleichen Geschichten – die Flüchtlinge aus Eritrea, die Zwei-Prozent-Steuer, Unterdrückung. Ich kann spüren, dass wir in Bezug auf Öffentlichkeitsarbeit weit entfernt sind von dem, wo wir sein könnten. Wir sind nicht stark genug.”

Laut Meala Tesfamichael dient die neue Strategie dazu, dem Rest der Welt zu zeigen, dass in Asmara Menschen ein „normales“ Leben leben. „Ich denke, zu viele Menschen glauben, dass mein Land ein Kriegsgebiet ist. Wenn sie herkommen, werden sie aus erster Hand erfahren, dass die Menschen ihr Leben genießen. Kaffee trinkend, werden sie ein Gespür für das touristische Potenzial bekommen. Aber wir wollen auch mit Eritrea vor potenziellen Investoren angeben.“

Auch ihrer Meinung nach geht es im Journalismus nicht nur darum, „gute Nachrichten” zu produzieren. „Natürlich ist es die Aufgabe eines Journalisten, Probleme und Herausforderungen hervorzuheben. Nicht alles ist perfekt. Aber vieles, was über Eritrea berichtet wird, ist einfach billig gemacht. Es ist zu oft ein ‚Copy-and-Paste‘-Journalismus. Die gleichen Zitate werden wieder und wieder verwendet. Zu sehen bei BBC und Al-Jazeera.”

Der einzige Weg, das zu ändern, sei die Öffnung des Landes für Journalisten, sagt sie. „Selbst, wenn sie dann zu Hause einen negativen Bericht schreiben, immerhin waren sie hier und haben mit echten Menschen gesprochen. Und auch Journalisten, die mit einem negativen Blickwinkel berichtet haben, sind gern wiedergesehen.”

Niemand spricht öffentlich über Probleme

Als ich Meala Tesfamichael erzähle, wie schwierig es ist, normale Leute für ein Videointerview zu gewinnen, sagt sie, dabei könnten kulturelle Aspekte eine Rolle spielen. „Hier in Eritrea sprechen wir nicht einmal mit unseren Nachbarn über unsere Probleme, wir sagen ‚alles bestens‘. Zudem wollen nur wenige Menschen Lösungen für Probleme mit Ausländern diskutieren, weil es als Kritik am eigenen Land aufgefasst werden könnte. Aber mit meiner Generation wird sich das ändern.” Sie glaubt, dass die neue Generation und die sozialen Medien das Land sehr beeinflussen werden.

„Aber ich denke nicht, dass wir hier einen Arabischen Frühling wie in Ägypten erleben werden, der zu einer Revolution wurde. So eine Mentalität gibt es hier nicht. Die Menschen sind Konflikte leid. Sie wollen ein einfaches Leben: arbeiten und dafür bezahlt werden. Schau auf das Hashtag #eritrea bei Twitter – da bekommst du etwas Action”, sagt sie lachend.

Meala Tesfamichael glaubt, dass Social Media, „konstruktiv” genutzt, eine großartige Plattform für Debatten sein kann. „Das Internet ist frei zugänglich. Es gibt keine gesperrten Internetseiten. Alle können Radiosender hören, die einen Regimewechsel verlangen. Jeder kann äthiopisches Fernsehen oder Dokumentationen zum Thema ‚Unterdrückung‘ auf dem Sender Al-Jazeera schauen. Berichte von Human Rights Watch und Amnesty International können heruntergeladen werden.“ Als Journalistin in Eritrea fühlt sie sich frei, über alles, was sie möchte, zu schreiben.

Mitten in der Stadt - die große katholische Kathedrale Santa Maria.

Mitten in der Stadt - die große katholische Kathedrale Santa Maria.

Jedoch kommt immer wieder das Wort „konstruktiv” in ihren Antworten auf meine Fragen vor. „Wenn ich einen Artikel schreibe, in dem ich die Eritreer dazu aufrufe, die Regierung zu stürzen, würde er nicht veröffentlicht werden, da er eine Gefahr für die nationale Sicherheit bedeute. Möchte ich jedoch eine Debatte vorantreiben, sagen wir beispielsweise, ich denke, dass es Wahlen mit vielen Parteien geben sollte, dann könnte ich einen Leitartikel darüber schreiben.”

Ein solcher Beitrag müsse aber im Zusammenhang gesehen werden, sagt sie. „Wir könnten eine Wahl abhalten mit zig vorgeblich politischen Parteien, wie es in anderen Ländern Afrikas gemacht wird, aber welche Art von Demokratie ist das? Wir wurden 1991 unabhängig und können aus den Fehlern anderer Staaten lernen, um unsere Demokratie von Grund auf zu entwickeln.“

Meala Tesfamichael ist eine der wenigen aus ihrer Generation, die nach Eritrea zurückgekehrt ist. Eine beträchtliche Zahl junger Menschen flieht in die entgegengesetzte Richtung.

„Ich gehöre der selben Generation an wie viele der Flüchtlinge. Ich weiß, wie sie denken. Sie haben Ehrgeiz, sie möchten die Welt sehen, sie sind lebenshungrig. Wenn sie sich dafür entscheiden, dann werden sie es auch durchziehen, ungeachtet der Risiken.”

Der wahre Grund der Massenflucht

Und dann kommt das Argument, das ich inzwischen im Schlaf aufsagen kann. „Viele sagen, sie seien vor der Wehrpflicht geflohen. Aber sie haben noch nie in ihrem Leben einen Armeestiefel geschnürt. Ein Teil der Flüchtlinge ist 14 Jahre alt – nicht einmal alt genug, um eingezogen zu werden. Ein weiterer Teil sind Frauen über 25 Jahren. In dem Alter werden sie hier demobilisiert.“

Der wahre Grund für die Massenflucht sei die Armut und nicht Unterdrückung, sagt Meala Tesfamichael. „Diejenigen, die flüchten, verdienen nicht genug Geld in Eritrea. Natürlich gehen sie, sobald sie hören, dass es dort kostenlose Bildung für ihre Kinder und monatliche Geldzahlungen gibt.”

„Aber sie riskieren ihr Leben dort draußen auf dem Mittelmeer. Sie ertrinken und verschwinden in der Wüste.”

„Ja, das ist traurig, aber es hat viel mit der Tatsache zu tun, dass sich die europäischen Botschaften in Asmara weigern, ihnen Visa auszustellen”, sagt sie überzeugt und trinkt ihren Tee aus.

Meala Tesfamichael zufolge ist die Strategie der Flüchtlinge, erst zu fliehen und dann in den Botschaften in Europa alle Dinge zu klären, damit sie im Urlaub zurückreisen können. „Wenn sie derart verfolgt würden, warum würden sie dann für ihren Urlaub hierher zurückkommen und mit ihrem Geld angeben? Wenn Sie mich fragen, scheinen sie nicht wirklich verfolgt zu werden”, sagt sie.

Ich merke, dass die ständige Diskussion über die Flüchtlinge Meala Tesfamichael nervt.

„Ich versuche nicht zu sagen, dass alles perfekt ist, aber es scheint ein Trend zu sein, aus der Armee zu flüchten und dann zu behaupten, man wäre in Containern transportiert worden. Vor ein paar Jahren gehörte jeder zu irgendeiner Religionsgemeinschaft und davor waren alle homosexuell. Ich sage Ihnen, es gibt Trends unter den Flüchtlingen.“

In letzter Zeit hat sie nicht nur Fernsehteams, sondern auch ausländische Delegationen empfangen und bemerkt, dass mehr europäische Regierungen ein engeres Verhältnis zu Eritrea wollen. „Das ist Politik. Sie entwickeln keine freundlichere Haltung gegenüber Eritrea, weil sie denken, dass es ein gutes Land ist, sondern weil Eritrea strategisch sehr günstig gelegen ist. Das ist wertvoll für sie, aber zu sagen, dass sie uns respektieren würden – da bin ich nicht so sicher.”

Wenn der Rest der Welt Eritrea wirklich respektiere würde, gäbe es eine einfach und diplomatische Sache zu tun. „Wenn das der Fall wäre, würden sie sich an internationales Recht halten und beweisen, dass es für alle Länder, auch für Eritrea gilt. Die Besetzung ist ein Angriff und durch ihr Schweigen in dieser Angelegenheit zeigen diese Nationen, dass sie ihn akzeptieren.”

Meala Tesfamichael kann verstehen, warum sich Leute, die nicht aus Eritrea kommen, fragen, weshalb der Grenze so viel Bedeutung beigemessen wird. Sie sagt, die Gründe dafür seien sowohl politischer als auch emotionaler Natur. „Während des 30 Jahre dauernden Krieges haben unsere Bürger ohne jegliche Hilfe der Außenwelt gekämpft. Die Grenzstreitigkeiten sind eine offene Wunde; ein Wunde, die schmerzt und uns ständig daran hindert zu entspannen.”

Die italienische Kolonialzeit hat ihre Spuren hinterlassen.

Die italienische Kolonialzeit hat ihre Spuren hinterlassen.

Der Klang von Hufen auf Asphalt ist das einzige Geräusch, das wir hören. Getrockneter Schweiß bezeugt, dass ein Sattel vom Rücken des Pferdes entfernt wurde. Es ist knochig, aber nicht ausgehungert. Hinter dem Pferd, auf den Häuserdächern, zeigen Satellitenschüsseln abgewinkelt Richtung Himmel. Das Pferd steht jetzt ganz still, einen seiner Hufe angehoben.

Auf der Straße ist der Fußgängerüberweg für die Feier des Unabhängigkeitstages weiß gestrichen worden. Die Ampeln sind noch immer ausgeschaltet. Etwas scheint trügerisch in Eritrea. Das Chaos, das in anderen Hauptstädten des Kontinents herrscht, fehlt hier genauso wie Demokratie.

„Ist dir aufgefallen … wo sind die ganzen Leute in dieser Stadt?”, fragt Johan plötzlich. „Fühlt es sich nicht so an, als ob sie fehlten?“

Während wir über das fehlende menschliche Element plaudern, kommt ein Eritreer, der in Kanada lebt, auf uns zu und fragt, ob wir eine Erlaubnis zu fotografieren haben. Ich nicke.

„Ich frage nur zu eurer eigenen Sicherheit. Es kann hässlich werden, wenn ihr nicht die richtigen Papiere habt,” sagt er. Wieder nicke ich.

Auf den Spuren von Dawit Isaak

Wir laufen an den Häusern vorbei, in denen Dawit Isaak eine Zukunft mit seiner Familie plante. Moderne Architektur, Rasensprenger, Satellitenschüsseln, üppige Gärten. Wir kommen auch an dem Ort vorbei, wo die Zeitung Setit einst ihren Sitz hatte. Setit, das eritreische Wort für frei fließende Flüsse, war die erste unabhängige Zeitung nach der Unabhängigkeit. Dawit Isaak arbeitete dort als Reporter und wurde schließlich Teilhaber, bevor er gefangen genommen wurde.

Gegenüber dem Reihenhaus, in dem sie wohnten, ging Dawit Isaaks Tochter zur Schule. Diese Orte erwähnt er in einigen seiner Gedichte. Einer der Gründer der Zeitung sagt, als die erste Ausgabe aus der Druckerei kam, verkaufte eine Gruppe Schulkinder 50 Stück auf den Straßen von Asmara und holte gleich Nachschub.

Alle 5.000 Stück der ersten Auflage waren innerhalb eines Tages verkauft. Die nächste Ausgabe verkaufte sich genauso schnell. Nach Jahren des Krieges und den neuen Pressegesetzen von 1996 boomten die Medien. Alle zwei Wochen schoss eine neue Publikation aus dem Boden. Das Land war voller Optimismus.

Es gab allerdings einen Paragraphen im Pressegesetz von 1996, der davor warnte, „Dokumente oder geheime Informationen von Interesse für die Nation, das Volk und die Sicherheit” zu verbreiten. Die Details waren unklar. Niemand wusste, wie das Gesetz im Alltag ausgelegt werden würde.

Eine einzige Forderung der Tochter

Bevor ich nach Eritrea reiste, traf ich mich in einem Straßencafé in Göteborg mit Dawits Tochter, Betlehem Isaak. Wir tranken Espresso. Die Sonne wärmte uns in der kühlen Frühlingsluft. Sie erzählte mir, dass sie sieben Jahre alt war, als es zu Hause in Asmara an der Tür klingelte. Zwei Männer mit Sonnenbrillen fragten nach ihrem Vater. Sie wurden auf einen Tee und etwas Brot hereingebeten, dann nahmen sie ihren Vater mit. „Ich komme wieder”, sagte er seiner Familie. Betlehem wird dieses Jahr 23.

Ich hatte um ein Treffen mit ihr gebeten, weil ich eine kurze Botschaft von ihr aufnehmen wollte, die ich in Interviews mit eritreischen Politikern abspielen könnte. Als ich ihr meinen Vorschlag unterbreitete, betrachtete sie mich ernst und sagte: „Ich werde sie nie um irgendetwas bitten. Sie sollten mich um Verzeihung bitten, die Menschenrechte respektieren und ihm ein Verfahren zugestehen oder ihn frei lassen. Das ist das einzige, was ich zu sagen habe. Ich will so stur sein, wie sie es scheinbar sind, während sie mir meinen Vater genommen haben. Ich will, dass er einen Anwalt bekommt, das ist meine einzige Forderung.”

Eritrea lässt sich nicht in die Knie zwingen

Während ich dieselben Straßen in Asmara entlang laufe, die Dawit Isaak einst nahm, denke ich an die lebhafte Diskussion in Schweden über die beste Strategie zu seiner Befreiung. Einige einflussreiche Eritreer empfinden den Kampf, ihn zu befreien, als entwürdigend. Sie denken, dass Eritrea sich deshalb den schwedischen Bemühungen gegenüber verschloss: kein Dialog, keine Verhandlungen, keine stille Diplomatie.

Der Organisation „Free Dawit” zufolge, hat die Kampagne bisher nicht seine Freilassung erreicht, aber „ihn am Leben gehalten”. Das Ziel der laufenden Kampagne ist es, „die schwedische Regierung dazu zu bringen, sich gegenüber Eritrea standhafter zu zeigen”.

Doch ich frage mich, womit Schweden Eritrea drohen soll. Welche schlagkräftige Sprache ist nach 15 Jahren Gefängnis noch übrig?

Kritiker dieser Strategie meinen, dass die Versuche, Eritrea durch Sanktionen (oder Sanktionsdrohungen) unter Druck zu setzen, zum Scheitern verurteilt sind, da sie von der aktuellen Führung Eritreas ignoriert werden. Nach 30 Jahren in Schützengräben kann kein Druckmittel der Welt Eritrea so in die Knie zwingen, dass das Land schwedischen Anweisungen folgt.

Nachdem ich mit so vielen Ministern und Soldaten gesprochen habe, glaube ich nicht einmal, dass eine militärische Intervention zu solchen Ergebnissen führen würde. Es würde eher darauf hinauslaufen, dass die Eritreer sich wieder in die Berge zurückziehen, von Fladenbrot aus Teffmehl leben, auf ihrem Standpunkt beharren und weitere 30 Jahre abwarten.

Parallelen zur Gefangennahme in Äthiopien

Es ist unmöglich, all das nicht mit meinem eigenen Fall zu vergleichen. Ich gehe durch die Straßen von Asmara als freier Mann, weil Schweden seit meiner Gefangennahme Prioritäten auf die Beziehung zu Äthiopien setzte. Schweden kam umgehend zu dem Schluss, dass ein Dialog mit der Diktatur die beste Möglichkeit wäre, das gewünschte Ziel zu erreichen: die Freilassung von zwei schwedischen Staatsbürgern. Dabei ließ man Äthiopien den Eindruck, das Ruder in der Hand zu haben, wodurch das Regime das Gesicht wahren konnte. Im Mittelpunkt stand, die schwedischen Staatsbürger nach Hause zu bekommen, nicht die Demütigung der Diktatur.

Als die Europäische Union kürzlich 200 Millionen Euro Hilfsgelder an Eritrea gab, wurde der Name Dawit Isaak nicht erwähnt. Erschütternd, sagen die einen. Schlau, sagen die anderen.

In Kanada warnt die Website des Außenministeriums alle Exil-Eritreer davor, die Steuer zu zahlen, die die Botschaften Eritreas in der ganzen Welt einsammeln. Das schwedische Außenministerium hat entschieden, beim Thema Steuern den Ball flach zu halten.

Allerdings wird diese Strategie ein Ende finden, wenn die UN-Untersuchungskommission für Menschenrechte das Regime für schuldig hält, die Menschenrechte der eigenen Bürger verletzt zu haben. Das Fehlen eines angemessenen Justizwesens, einer freien Presse, einer Verfassung, freier Wahlen und ein Militärdienst, der sich über Jahrzehnte hinzieht, wird als Versklavung und als Verbrechen gegen die Menschlichkeit bewertet werden. Vorauszusehen, wie die künftige Antwort Eritreas aussehen könnte, ist, wie einem Unfall in Zeitlupe zu zuschauen.


Vor einer großen Tribüne spielen rund hundert Jugendliche Fußball.

Vor einer großen Tribüne spielen rund hundert Jugendliche Fußball.

Träume auf dem Fußballplatz

Auf einem Schotterplatz, vor einer großen gelben Tribüne, spielen etwa 100 Jugendliche Fußball. Sie wirbeln eine Staubwolke auf. Einer der Spieler gibt alles und schießt den Ball weit über die Behälter, die das Tor markieren. Ihre Trikots schmücken Schriftzüge wie „Arsenal” und „Manchester United”.

In einiger Entfernung macht ein junger Mann im Schatten der Akazien eine Pause.

„Ob ich ein internationaler Fußballprofi werden möchte? Ja klar, du musst immer Träume haben. Ambitionen sind wichtig”, sagt er und lächelt verschmitzt.

Nächstes Jahr wird er 18 werden. Dann werden er und seine Freunde für das dreimonatige Militärtraining und den Abschluss nach Sawa reisen. „Wenn man gute Noten in den Abschlussprüfungen hat, kann man Medizin studieren, Agrarwissenschaftler oder Ingenieur werden”, sagt er. Wer schlechte Noten hat, muss 18 Monate beim Militär bleiben.

Er ist jeden Sonntag hier, um Fußball mit seinen Freunden zu spielen. „Ich muss los”, sagt er und rennt mit leichten Schritten über den staubig-roten Platz.

Am Rand des Schotterplatzes entfernt ein Mann mit einem Bagger Dreckhaufen. In einigen Wochen wird eine große Militärparade hier entlang marschieren. Es wird eine Blaskapelle geben und der Präsident von Eritrea, Isaias Afewerki, in Khaki gekleidet, wird eine seiner kompromisslosesten Reden seit langer Zeit halten.

Veteranin Kalshu Mohamed auf dem Märtyrer-Friedhof.

Veteranin Kalshu Mohamed auf dem Märtyrer-Friedhof.

Die neu gepflanzten Bäume reichen schon weit in den Himmel und bieten den streuenden Hunden Schatten, die eines der Denkmäler zu ihrem Zuhause gemacht haben. Auf dem Märtyrer-Friedhof reihen sich weiße Gedenktafeln aneinander, die wie Halbmonde aussehen. Vor jeder Tafel liegt ein kleiner Haufen Kieselsteine.

Das Gras unter meinen Schuhen ist so trocken, dass es knirscht, als ich herumlaufe und die Daten und die Namen lese. Als wir uns in Schweden davor fürchteten, dass unsere Computer den Eintritt in das neue Millennium nicht überleben würden, haben die Eritreer Zehntausende ihrer Mitbürger begraben.

„Ich lebe mit den Hoffnungen der Toten“

Veteranin Kalshu Mohamad sitzt vor einem der Gräber. „Ich fühle mich lebendig, wenn ich hier bin. Ich lebe mit den Hoffnungen der Toten, und werde hier daran erinnert, was sie geopfert haben. Dieser Ort gibt mir Kraft, das weiterzuführen, was sie angefangen haben, und mit all meiner Kraft und meinem Wissen für mein Land zu kämpfen”, sagt die heute 54-jährige Frau.

Sie ist eine der wenigen Besucher, die auf den Asphaltwegen durch den Friedhof gehen. Der Grund dafür ist, dass die Erinnerung an die Toten noch so frisch ist, sagen die Leute.

„Ich kann nicht beschreiben, was ich hier fühle, aber ich muss eine ganze Menge mehr tun als bisher.”

Sie besucht kein spezielles Grab. „Sie sind alle meine Brüder und Schwestern”, sagt sie und fügt hinzu, sie könnte, selbst wenn sie es wollte, ihre richtigen Namen nicht nennen. Damals hatte jeder nur einen Spitznamen. Am anderen Ende des Friedhofs hebt ein Bagger neue Gräber aus. Eine Nation, die mehr im Krieg als im Frieden gelebt hat, plant neue Märtyrer ein.

„Ich erinnere mich, wie ich als Achtjährige Frauen mit großen Afro-Frisuren und Waffen über der Schulter gesehen habe, wie sie stolz durch unser Dorf gingen.”

Kalshu Mohamed trat der EPLF (Eritreische Volksbefreiungsfront) im Oktober 1978 bei und in ihrem ersten Jahr als Rebellin war sie immer auf der Flucht, immer auf dem Rückzug, höher und höher in die Berge. „Es war eine harte Zeit. Alle waren auf dem Rückzug und alles war rationiert - Seife, Kleidung, Essen. Wir liefen Tag und Nacht, weil wir gehört hatten, dass der Feind näher rückte.”

Damals wusste sie nicht, dass sie auf Jahre im größten Untergrund-Krankenhaus der Welt arbeiten würde. „Ich kümmerte mich um die Verwundeten, kochte für sie, reinigte ihre Wunden, baute Labors auf und alles, was sonst gebraucht wurde. Männer und Frauen gemeinsam bewegten Steine, trugen Waffen, schlugen Feuerholz.”

Das Untergrund-Krankenhaus hatte alles: Stromgeneratoren, Operationssäle, Klassenräume, sogar ein Theater. „Jeden Mittwoch hatten wir frei und tranken dann unser eigenes Bier, spielten Theater, sangen, spielten Volleyball und tanzten.” Während der langen Nächte, in denen die russischen Antonow-Flugzeuge Bomben warfen, hörten sie oft Lesungen von anderen Soldaten, Doktoren oder ausländischen Gästen. „Das Krankenhaus war meine Universität. Wir studierten Philosophie, Politikwissenschaften und lernten Dinge über die Welt außerhalb Eritreas.”

Manchmal wurde das Krankenhaus bombardiert. „Es war ein Alptraum zu evakuieren. Wir machten uns ständig Sorgen um die Verletzten und hofften, sie würden überleben.”

Der Zusammenhalt während des Krieges wird oft als Grund für den Sieg gesehen, aber einige Leute sagen, dass die absolute Disziplin und die politische Ausbildung auch der Schlüssel dazu waren, dass es lief, wie es lief.

Wie lässt sich nach 30 Jahren Krieg eine Gesellschaft in eine friedliebende verändern?

Nach dem Ende des Kriegs fing Kalshu Mohamed an, für das Informationsministerium zu arbeiten: „Ich schaltete das Radio an und hörte die Berichte über den Kampf um Massawa. Selbstverständlich war ich glücklich, als ich vom Sieg hörte, aber ich musste auch weinen. Ich trauerte um all diejenigen, die ums Leben gekommen waren.”

Die Feiern waren schnell vorbei, und ihr wurde bewusst, dass sie nun alles unternehmen müssten, um die Nation wieder aufzubauen. „Alles war zerstört, die Menschen waren in alle Himmelsrichtungen verweht. Aber wir legten mit dem los, was wir hatten.”

25 Jahre später wünscht sich Kalshu Mohamed, es wäre mehr gemacht worden. „Ich denke, wir alle haben gehofft, dass die Verbesserungen, die Entwicklung schneller gehen würde. Aber worauf wir hofften und was eingetreten ist, sind zwei verschiedene Dinge.”

„Frieden – es ist so unglaublich schön“

Wenn ihre Kinder etwas über den Krieg wissen wollen, fällt es ihr schwer zu antworten.

„Ich erzähle ihnen, was wir aßen und wie wir auf Bomber lauschten. Sie schauen mich an, mit aufgerissenen Augen, aber für sie ist es wie eine Gute-Nacht-Geschichte. Sie werden nie verstehen, was wir durchgemacht haben. Wie wir, im wahrsten Sinne des Wortes, für Jahrzehnte in Höhlen lebten.”

Ihr Traum während des Krieges, neben dem offensichtlichen – einem unabhängigen Land – war, dass ihre Kinder im Frieden aufwachsen könnten. „Meine Generation hat alles für unsere Kinder geopfert und wir tun es weiterhin. Leider ist der Traum bis jetzt noch nicht Realität geworden, aber er wird es werden. Eines Tages wird er wahr werden”, sagt Kalshu Mohamed und steht auf, während sie über Reihen um Reihen von Gräbern blickt.

Die Sonne geht langsam unter und taucht Asmara und den Märtyrerfriedhof in goldenes Licht. Kalshu Mohamed zieht ihr Umhängetuch fest und geht Richtung Ausgang. Dann bleibt sie stehen, dreht sich um und sagt leise:

„Sieh dich um, keine Bomben sind heute gefallen, keine Zivilisten in ihren Häusern verbrannt. Frieden – es ist so unglaublich schön.”


Autor Martin Schibbye arbeitet von Stockholm aus in der ganzen Welt. Während eines Einsatzes in Äthiopien im Jahr 2011 wurde er festgenommen und für 438 Tage ins Gefängnis gesteckt.

Autor Martin Schibbye arbeitet von Stockholm aus in der ganzen Welt. Während eines Einsatzes in Äthiopien im Jahr 2011 wurde er festgenommen und für 438 Tage ins Gefängnis gesteckt.

Fotograf Johan Persson, der alle beindruckenden Bilder in diesem Artikel gemacht hat, wurde zusammen mit Schibbye inhaftiert.

Fotograf Johan Persson, der alle beindruckenden Bilder in diesem Artikel gemacht hat, wurde zusammen mit Schibbye inhaftiert.

Das Blank Spot Project ist ein Online-Magazin für Reportagen und Berichte aus der ganzen Welt. Der Schwerpunkt liegt dabei auf Geschichten, die andere nicht aufgreifen. Als Martin Schibbye aus dem Gefängnis in Äthiopien freigelassen wurde, flüsterte ihm ein Mitgefangener zu: "Erzähle der Welt, was du gesehen hast."

Das Blank Spot Project ist ein Online-Magazin für Reportagen und Berichte aus der ganzen Welt. Der Schwerpunkt liegt dabei auf Geschichten, die andere nicht aufgreifen. Als Martin Schibbye aus dem Gefängnis in Äthiopien freigelassen wurde, flüsterte ihm ein Mitgefangener zu: “Erzähle der Welt, was du gesehen hast.”

Krautreporter kann diese Reportage auf Deutsch veröffentlichen, weil Dutzende von Mitgliedern und Lesern den Text aus dem Englischen übersetzt haben – viele von ihnen übernahmen gleich mehrere Seiten. Ganz herzlichen Dank dafür!

Die Übersetzer von Teil 3:
JB, Daniela Baum, Trixi Bücker, Ulla Decker, Dietmar Ehinger, Karin Gerken, Nina Gersdorf, RH, Esther Hoffmann, Helge Holler, Albrecht Köhler, Nela Maag, Stefanie Müller, Yasmin Nasrudin, Lothar Neumann, Jürgen Nickelsen, David Ostertag, Henrike Rempel, Christian Rüggeberg, Laura Schlichting, Alexander Schumitz, R. Stehmann, Jörg Stratmann, S. Weydner, Friederike Winter.

Redaktion und Produktion: Vera Fröhlich.