Stimmen von der anderen Seite

© Blankspot / Johan Persson

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Stimmen von der anderen Seite

Eritrea ist so abgeschottet wie kaum ein anderes Land. Jedes Jahr fliehen Tausende Bewohner nach Europa. Nach vielen, vielen Jahren lässt das Land jetzt ausländische Journalisten einreisen. Martin Schibbye und Johan Persson vom schwedischen Blank-Spot-Projekt sind hingefahren und wollen herausfinden, wie sich die eritreischen Minister die Zukunft vorstellen.

Profilbild von von Martin Schibbye, Ostafrika

Was bisher geschah

Im ersten Teil der Reportage haben Martin Schibbye und sein Fotograf Johan Persson die jüngste Geschichte Eritreas erzählt und Menschen aus dem ostafrikanischen Land sowohl in Genf als auch in Stockholm getroffen. Dann beantragten sie Visa für Eritrea. Jetzt reisen sie los und haben immer vor Augen, dass sie fünf Jahre zuvor im Nachbarland Äthiopien 438 Tage im Gefängnis saßen.


Flug in die „sicherste Hauptstadt“ Afrikas

Im April 2016 rollt das Flugzeug am Hamad International Airport in Doha, Katar, zur Startbahn. Dort hatten wir einen Zwischenstopp auf unserem Weg nach Eritrea. Die Sekunden fühlen sich an wie eine Ewigkeit, und ich trommele mit meinen Fingern auf meine Beine, während es in der Kabine laut wird. Das Flugzeug beschleunigt und donnert hinauf in den Himmel. Ich schließe meine Augen und öffne sie erst wieder, als ich das vertraute Geräusch der einklappenden Räder höre.

„Es fühlt sich an, als würden wir zum Mond fliegen”, sagt Johan.

Ich schaue hinunter ins Licht, das sich unter uns ausbreitet. Wir waren beide frühzeitig am Abflugschalter. Johan wird nicht mehr wahnsinnig, wenn er mehr als 30 Minuten auf ein Flugzeug warten muss. Wir werden alle älter.

5.000 Dollar sind im vollgepackten Handgepäck. In Eritrea gibt es keine Geldautomaten. Die anderen Passagiere sind aufgeregt. Viele tragen traditionelle Gewänder. Die Stimmung ist ausgelassen. Ich fühle mich eher, als wären wir auf dem Weg zu unserer Hinrichtung.

Durch meinen Kopf geistert die Information, dass etwa 20 Menschen getötet wurden. Mehrere von ihnen waren Zivilisten: Verwandte, die versuchten, ihre Söhne vor der Einziehung zur Armee zu bewahren. Es ist allerdings schwer, glaubwürdige Quellen zu finden, die den Vorfall bestätigen.

Kurz vor unserer Abreise erhielt ich einen Anruf der eritreischen Botschaft in Stockholm. Ein Mitarbeiter der Botschaft wollte wissen, ob ich die Neuigkeiten von den tödlichen Schusswechseln gehört hätte.

Ich antwortete mit „ah-ham”.

„In Afrika sterben ständig Menschen, aber sobald einer davon in Eritrea stirbt, wird daraus gleich eine Schlagzeile gemacht”, sagte der Botschaftsangestellte gereizt.
Er rief mich an, um mir zu sagen, ich solle mir keine Sorgen machen.

„Asmara ist die sicherste Hauptstadt des Kontinents. Man muss da vor nichts Angst haben. Man kann sich frei bewegen und mit wem auch immer reden. Wir werden niemanden zu ihrer Begleitung mitschicken, weil Sie das sonst schreiben werden. Sie sind auf sich selbst gestellt. Viel Glück.”

Der letzte Ostafrika-Trip endete im Gefängnis

Während ich den Trip vorbereite, kommt mir die Reise unwirklich vor. Ist es wirklich möglich, nach Asmara zu fliegen? Ich starre auf die Flugroute in der Karte auf der Rückseite des Sitzes vor mir und lese sie laut vor. Da wird tatsächlich Asmara als Ziel aufgeführt. In einem Moment fühlt es sich an wie ein Spaziergang dorthin und im nächsten Moment scheint es völlig unerreichbar. Auch wenn wir unsere Hausaufgaben gemacht haben und jede Menge Reportage-Trips wie diesen unternommen haben: Wir sind unterwegs zu einem der härtesten Orte der Welt, die es für Journalisten gibt.

Meine größte Sorge ist, dass wir uns keine Sorgen machen. Das hier ist weit entfernt von einer „normalen” oder einfachen Story – letztes Mal, als wir hier waren, landeten wir im Gefängnis, verurteilt zu elf Jahren Haft.

Ich döse weg. Plötzlich wache ich auf, weil ein grelles Licht in meine Augen sticht. Ich schaue aus dem Fenster und versuche, mich zu orientieren. Medina? Nein, es muss Mekka sein! Ich kann gerade noch ein Foto mit meinem Handy machen, da lassen wir Saudi-Arabien schon hinter uns. Unter uns das dunkle Meer.

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Dann erscheint ein Licht auf der schwarzen Oberfläche. Und ein weiteres, und noch eins. Ich brauchte eine Weile, bevor ich erkenne, dass es sich um Positionslichter der Schiffe im Roten Meer handelt. Tausende Tanker und Frachtschiffe, die sich den Weg durch die Aorta der Welt-Ökonomie bahnen, beladen mit Öl, Elektronik und Waffen. Das unter uns ist ein Gemälde aus leuchtenden Positionslichtern.

Ich sehe auf der Karte, dass das Flugzeug den kriegsgeplagten Jemen umflogen hat. Jetzt sind wir auf direktem Weg nach Asmara unterwegs. Kürzlich ist Eritrea einen neuen strategischen Bund mit Saudi-Arabien und den Arabischen Emiraten eingegangen, der der Arabischen Liga das Recht einräumt, eritreisches Hoheitsgebiet, den Luftraum und die Gewässer für die Militäraktion im Jemen zu nutzen. Im Gegenzug erhielt Eritrea Treibstoff und Devisen.

Aus zehntausend Meter Höhe wird die strategisch-geographische Lage Eritreas deutlich. Einerseits hat das Land eine lange Küstenlinie am Roten Meer. Andererseits verbaut es Äthiopien den Zugang zum Meer.

Der Flugkapitän sagt das Wetter in Asmara durch, während die Maschine an Höhe verliert und ich ein Flattern im Magen spüre. Wie verrückt sind diese Eritreer? Könnten sie die Idee haben, uns als Pfand in einem bizarren Gefangenenaustausch einzusetzen? Und wenn nicht und wir aus diesem Land wieder rauskommen: Ist es überhaupt möglich, journalistisch über dieses Land zu berichten?

Ich weiß, was ich von Kollegen halte, die nur über eisessende Äthiopier in Addis Abeba oder das wirtschaftliche Wachstum oder eine afrikanische Renaissance berichteten, während ich im Gefängnis war. Ich mochte keine Journalisten, die nicht über diejenigen schrieben, die gefangen waren.

Die Landeklappen öffnen sich, das Geräusch schickt Anspannung durch meinen Körper. Es ist eine sehr schlechte Idee, zum Horn von Afrika zurückzukehren, denke ich wieder einmal.

Keine Uniformen, keine Porträts des Präsidenten

Das erste Gefühl am Boden: Mit der Ausweiskontrolle am Flughafen Asmara ist etwas nicht in Ordnung. Niemand trägt eine Uniform. Es gibt keine Porträts des Präsidenten an der Wand, keine waffenstarrenden Soldaten. Unsere Mitpassagiere reihen sich brav in eine lange Schlange vor dem Einreiseschalter ein. Dort arbeiten Männer und Frauen in Zivilkleidung.

Es fühlt sich an wie der Kauf einer Konzertkarte in einem Jugendclub. Niemand überprüft unser Gepäck, und wir bekommen unsere Kameraausrüstung und das Satellitentelefon ohne Probleme durch.

„Arbeiten Sie hier in der Mine?”, fragt uns ein gutangezogener Mann in der Ankunftshalle. Ich schüttele den Kopf. Dennoch bietet er an, uns mitzunehmen, da wir in demselben Hotel wohnen wie die Ingenieure aus aller Herren Länder, die hierherkommen, um in der Kupfermine in Bisha zu arbeite. Sie waren im selben Flugzeug.

Draußen vor dem Terminal raucht ein Kanadier in der kühlen Sommernacht eine Zigarette. Unter einem Arm trägt er einen 24er Karton Heineken. „Ich reise mit leichtem Gepäck”, sagt er und lacht.

Dann gibt es einen Stromausfall und alles wird pechschwarz. Der Mond, der wie eine sichelförmige Hängematte aussieht, und die hellen Sterne sind die einzige Beleuchtung.

Einige Gerüche sind mir vertraut.

Als der Strom wieder da ist, erklärt der Kanadier sein Gepäck. „Das einheimische Bier schmeckt scheiße”, sagt er, lächelt verschmitzt und steigt in den Minibus ein, der uns zum Hotel bringt.

Sein Bergbauunternehmen ist seit acht Jahren hier. Nevsun war die erste internationale Minengesellschaft, die zugelassen wurde. Bei Testbohrungen fanden sie erst Gold und dann Kupfer. Er verliert nicht viele Worte darüber, sagt aber, die in der Bergbauindustrie erwirtschafteten Gewinne seien beträchtlich gewesen, für Eritrea und für sein Unternehmen. „Die Mine konnte Kupfer nach China exportieren, als die Preise am höchsten waren.”

Das Auto fährt durch das verdunkelte Asmara. Es ist schwierig, Richtungen auszumachen. Es gibt einige Straßenlampen, aber Ampeln scheinen nicht zu funktionieren. In meinem Hotelzimmer angekommen, schlafe ich sofort ein, erschöpft vom Stress.


Der Panzer-Friedhof – April 2016

Gepanzerte Fahrzeuge aus 30 Jahren Krieg, gesammelt außerhalb von Asmara.

Gepanzerte Fahrzeuge aus 30 Jahren Krieg, gesammelt außerhalb von Asmara.

Verrostete und zerschossene Panzer trotzen der Schwerkraft und ragen hoch vor dem wolkenlosen Himmel auf. Unter ihnen drücken sich verbogene Eisenträger, verhedderte Stromkabel, weggeworfene Panzerteile, verstreute Metallstücke und ausgebrannte Motoren so in die Erde, als wären sie namenlose Grabsteine.

„Hiermit haben sie Befehle an die anderen Panzer gegeben”, sagt der 57 Jahre alte Ex-Panzerschütze Solomon Berhe und zieht dabei den geriffelten Griff des alten Panzer-Kommunikations-Systems hoch. Mit erfahrenen Bewegungen streichen seine alten und narbenbedeckten Hände über die Installation aus heißem Metall; er berührt rostige Schalter, Tachometer, Dieseltanks und Motoren, die allesamt zu diesem Meer aus Trümmern gehören.

„Wir haben mit einfacher Bewaffnung angefangen, dann haben wir diese Panzer vom Feind erobert. Sie waren leicht zu reparieren. Wir mussten dann nur noch lernen, wie man sie bedient, lädt und zielt. Langsam, sehr langsam gewannen wir so die Überhand”, erinnert er sich.

Die meisten Motoren sind mit kyrillischen Buchstaben verziert. Die Sowjetunion hat sie während des dreißigjährigen Krieges dem äthiopischen Diktator Mengistu Haile Mariam geschenkt. Wenn Solomon Berhe seine Augen schließt, hört er noch den Lärm der dröhnenden Motoren, das Knallen der Kugeln gegen Metall, riecht wieder verbrannten Gummi und schmeckt erneut Blut und Sand in seinem Mund.

„Es ist ein Friedhof für Panzer”, sagt er und deutet mit seinen Armen in alle Richtungen.

Ein apokalyptischer Platz, Kilometer für Kilometer nur Panzer. Ein unbeabsichtigtes Armee-Museum aus Trümmern. Sie zeigen die Zerstörungskraft des 20. Jahrhunderts in konzentrierter Form.

Diese Gegenstände symbolisieren die Materialkosten des Krieges, der von 1961 bis 1991 dauerte. Sie offenbaren nicht den Preis für Menschenleben. Wäre das hier ein Gemälde, es würde den Namen tragen „Das Guernica von Eritrea”. Aber es ist kein Gemälde, es ist Realität.

„Es war ein langer, schrecklicher und blutiger Krieg. Nur ein paar meiner Freunde haben ihn überlebt”, sagt Solomon Berhe und läuft zwischen den Überbleibseln einer Geschichte herum, die sein ganzes Leben charakterisieren.

Während der ersten Kriegsjahre wurde er volljährig. Die Bomben der äthiopischen Luftangriffe waren der Grund, warum er schon Soldat werden wollte, als er 15 Jahre alt war. Doch er musste bis zu seinem 18. Geburtstag warten, bevor er seine militärische Ausbildung bekam.

Er rattert Berichte von rund 50 verschiedenen Panzerschlachten herunter. „Was unseren Unabhängigkeitskampf so anders macht, ist, dass er nur teilweise als Guerilla-Krieg geführt wurde. Lange Zeit war er ein ganz normaler Kampf zwischen zwei professionellen Armeen.”

Die Namen von Schlachtfeldern sind für alle Ewigkeit in die Weltgeschichte eingraviert: Verdun, Somme, Kursk und Stalingrad. Einige der größten Kämpfe auf dem Land nach dem Zweiten Weltkrieg wurden in Eritrea ausgetragen. Aber das ist außerhalb der Landesgrenzen weitgehend unbekannt. Während dieser Zeit war das Augenmerk auf den Zerfall Jugoslawiens gerichtet.

„Am schlimmsten war die Schlacht von Afabet. Nach drei Tagen hatten wir 50 Panzer erobert. Das war unser ‚Dien Bien Phu‘ – unser Wendepunkt. Bis dahin hatten wir uns nur verteidigt, nun aber konnten wir aus den Schützengräben klettern”, sagt Solomon Berhe.

Den Rest seiner Worte schlucken die Windgeräusche am Mikrofon. Der Windschutz ist von dem kleinen empfindlichen Mikrofon weggeflogen. Johan, der den Veteranen filmt, repariert das, während Solomon Berhe in den Trümmern stochert.

Die Jungen verstehen die Alten nicht

Es ist unser erster Tag in Asmara. Die Sonne brennt vom Himmel. Wie am Anfang jeder Reise ist es schwer zu sagen, wohin uns diese Reportage führen wird. Als wir die Fotos des Panzer-Friedhofs sahen, hatten wir die Idee, diese als Kulisse zu benutzen. Ein oder zwei Veteranen sollten uns dort herumführen – denn wenn es von etwas reichlich gibt in Eritrea, dann sind das Veteranen.

Einige Journalisten, denen die Einreise nach Eritrea erlaubt worden ist, haben einfach ihre Kamera aufgestellt und dann versucht Menschen zu interviewen. Die lehnten aber ab. Unser Plan ist dramaturgisch perfekt, aber wie könnten wir näher an einige Veteranen herankommen und ihre Geschichte erfahren?

Als das Mikrofon repariert und eingeschaltet ist, erzählt uns Solomon Berhe, wie sich seine Mechaniker-Brigade während der letzten Jahre des Krieges ihren Weg südwärts in Richtung Addis Abeba freigekämpft hat, gemeinsam mit der äthiopischen Rebellengruppe Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF).

Erinnerungen an Schlachten, Städte und Namen verlorener Freunde kommen hoch. Er rollte 1991 in seinem Panzer in die äthiopische Hauptstadt ein. Aber das Gefühl des Sieges war nur von kurzer Dauer.

„Die letzten 25 Jahre waren sehr, sehr anstrengend aufgrund der neuerlichen äthiopischen Aggression und dem nicht enden wollenden Grenzkonflikt. Ich höre Schlachten-Getöse. Ich hatte gehofft, wir wären schon weiter. Aber ich vermute, das ist der Preis, den meine Generation zahlen musste. Bis heute konnten wir nicht mit der Entwicklung dieses Landes beginnen.”

Wir setzen uns in den Schatten eines Containers, um mit dem eher offiziellen Teil des Interviews fortzufahren. Solomon Berhe erzählt uns, seine Kinder seien nun alt genug, um Fragen über den Krieg zu stellen.

„Nachdem ich ihnen darüber berichtet hatte, war es, als hätte sie jemand stumm geschaltet. Die junge Generation ist nicht wie wir. Sie werden nie verstehen, warum wir getan haben, was wir getan haben. Wir haben uns geopfert, wir haben alles für unsere Kinder geopfert”, sagt er.

Wir gehen ein paar Schritte und kommen an einem alten, umgekippten Bus vorbei. Seine Generation sei von Idealen getrieben worden, erklärt Solomon Berhe. Er und seine Mitstreiter waren die ersten, die aus den Gräben sprangen und in den Kampf stürmten. Die eritreischen Jugendlichen von heute haben andere Ambitionen. „Sie erwarten andere Dinge für sich, als 30 Jahre in einem Schützengraben zu verbringen. Sie wollen ein besseres Leben und sie haben ein Recht, das zu fordern”, sagt er mit entschlossener Stimme.

Solomon Berhe hat einen Bruder, der in Schweden lebt und andere Verwandte, die in anderen Ländern leben. Er versteht ihre Entscheidungen.

„Die Lage ist schwierig, Krieg ist blutig, und ein normaler Teenager denkt an andere Dinge. Wir brauchen einen stabilen Frieden, wir müssen ein Land wie Schweden werden”, sagt er.

Mit Frieden komme auch die wirtschaftliche Entwicklung in Gange.

„So, wie es heute ist, gibt es viele, die nach Europa gehen wollen. Wenn sich aber die Situation hier, zu Hause, verbessert, glaube ich, dass junge Menschen, die weggegangen sind, auch zurückkommen werden”, meint Solomon Berhe, klettert auf einen rostigen Motor und blickt über den Park alter Panzer.

Dann geht er langsam zum Ausgang, die Hände fest zusammengepresst.

„Was ist die wichtigste Lehre, die du für dich aus dem Krieg gezogen hast?”, frage ich ihn.

„Wende deinem Feind nie den Rücken zu – Angriff ist die beste Verteidigung. In einem Panzer hast du 30 Zentimeter Stahl und eine Kanone vor dir, aber hinten sind bloß ein paar läppische Zentimeter Metall. Zeig immer dein Gesicht und nie deine Schwächen, denn dann bist du verloren”, sagt er.

Journalisten-Visum – Fluch und Segen zugleich

In dieser Nacht schalteten wir die Klimaanlage aus und ließen die Fenster offen. Ich machte den Fernseher an und zappte zwischen den Nachrichtensendern aus aller Welt hin und her: Al-Jazeera, BBC, CNN und sogar dem äthiopischen, staatseigenen Nachrichtensender.

Wieder erlebe ich einen Moment der Reue und frage mich, ob diese Reise überhaupt Sinn macht. Ich denke an ein italienisches Fernseh-Team, von dem ich gehört hatte. Das Team entschied nach der Rückreise, nichts von ihrem Filmmaterial zu senden, weil es als zu „flauschig“ wahrgenommen werden würde, als zu positiv.

Die Schwierigkeit dabei ist die Herangehensweise. Als Journalist kann man nur berichten, was man sieht und hört. Mit einem Journalisten-Visum eingeladen zu sein, ist gleichermaßen Fluch und Segen. Man bleibt nicht unerkannt.

Bevor sie untergingen, riefen sie ihre Namen

Um mich auf die heutigen Treffen vorzubereiten, betrieb ich Recherche. Ich las ein Interview mit einem Eritreer, der über das Mittelmeer nach Lampedusa geflohen ist, der italienischen Insel im Süden Siziliens.

Ich las darüber, wie sich die Menschen in Panik gegenseitig unter Wasser gezogen haben. Wie diejenigen, die es nicht schafften und nicht mehr in der Dunkelheit im Wasser strampeln konnten, ihre Namen riefen, damit die Überlebenden erzählen konnten, wie sie starben und dass sie ihre Kinder liebten.

Ich las darüber, wie diese Flüchtlingsfrau den Sonnenaufgang sah und zu müde war, den Rettungsring zu halten, als sie aus dem Wasser gezogen wurde, voller Öl. In dieser Nacht ertranken 366 Menschen. In Italien wurden alle Opfer als Einheimische behandelt und erhielten ein angemessenes Begräbnis. Den Überlebenden wurde die italienische Staatsbürgerschaft verweigert. Die Frau war eine von ihnen.

Ich kritzelte in mein Notizbuch, dass Leute ihre Kinder nicht einfach in klapprige Boote stecken, es sei denn, ihre derzeitige Lebenssituation ist furchteinflößender als der Tod.

In Asmara ist Fiat Tagliero, als Tankstelle gebaut, eines der berühmtesten Beispiele für den Art-Deco-Stil der Zwischenkriegszeit.

In Asmara ist Fiat Tagliero, als Tankstelle gebaut, eines der berühmtesten Beispiele für den Art-Deco-Stil der Zwischenkriegszeit.

„Ist es hier wie in Nordkorea?“

Vor dem riesigen Frühstücksraum stauben zwei Putzfrauen ein Geländer ab. Eine Nacht in diesem Hotel kostet so viel wie ein Monatsgehalt der Angestellten. Der Raum ist leer bis auf einen finnischen Minenarbeiter, der zurückgeschickt wurde, weil er nicht die richtigen Papiere hatte, um in der Kupfermine zu arbeiten.

Von hier blickt man auf zwei türkisfarbene Pools. Niemand schwimmt. Dies ist das teuerste Hotel von Asmara. Es ist auch das Hotel, in dem 2001 eine Gruppe von Eritreern eine Konferenz abhielt, bei der es um die Notwendigkeit der Demokratisierung des Landes ging. Dawit Isaak war einer von ihnen. Mehrere Teilnehmer der Konferenz, Mitglieder der sogenannten G-15-Gruppe, sind entweder tot oder im Gefängnis.

An einem der Tische genießt ein eritreischer Geschäftsmann seinen Espresso. Als er hört, dass wir schwedische Journalisten sind, reagiert er leicht gereizt. „Werdet ihr jetzt schreiben, dass es hier wie in Nordkorea ist?”, sagt er mehr als er fragt und legt sein Handy auf den Tisch. „Ich bin hier, um herauszufinden, was wahr ist und was nicht”, sage ich und höre, wie anmaßend das klingt.

„Okay, wir haben keine Wahlen, wo Menschen wählen, deshalb vermute ich, dass wir eine Diktatur sind, gut, schreib das”, sprudelt es weiter aus ihm heraus. „Aber im Grenzstreit haben wir recht. Warum erkennt das der Rest der Welt nicht? Warum werden wir weiter von jedem schikaniert? Warum haben sie an Katar und Saudi-Arabien nichts auszusetzen, wo sie Demonstrationen niederschlagen? Alles, was wir hier versuchen, ist, ein bisschen soziale Gerechtigkeit zu schaffen. Klar könnten wir Reformen gebrauchen, aber sieh dir den Arabischen Frühling an, der wurde von Extremisten instrumentalisiert. Und Wandel, was ist das denn tatsächlich? Sollen wir alle unsere Kleider tauschen? Soll ich mein Hemd wechseln?”

Johan fragt, ob er ein Foto machen kann, aber der Mann lehnt ab und gestikuliert mit den Händen. Ich schalte mein Handy an und nehme auf, um nichts zu verpassen, was dieser Zitatelieferant von sich gibt.

„Es war Krieg. Wir kämpften. Bis zum letzten Mann. Währenddessen saßen 15 Menschen im Hotel, nippten am Wein und aßen Kekse. Sie stachen uns in den Rücken, als wir am verwundbarsten waren. Sie hatten Pläne, wer die Macht übernehmen sollte. Dawit Isaak war keiner von ihnen, aber er hat ihre Liste veröffentlicht. Sie sollten alle ins Gefängnis, alle!”

Ich bestelle ebenfalls einen Espresso und lehne mich zurück, während unser neugewonnener Freund weitererzählt.

„Die sogenannte Opposition, ich mag sie nicht einmal so nennen. Sie sitzen in bequemen Sesseln vor ihren Computern und beklagen sich. Wer sind sie? Ich kenne jeden einzelnen von ihnen aus dem Krieg. Ich weiß, wer sie sind, und sie sind nichts. Sie klagen über unseren Präsidenten, er, der billige Schuhe trägt, der keinen Whiskey trinkt oder Wein, nur Wasser aus kleinen, kleinen Gläsern“, sagt er, und zeigt auf ein Glas auf dem Tisch.

Ich nicke und sage, dass wir hoffen, Präsident Isaias Afwerki interviewen zu können.

„Was machen Sie, wenn es kein Wasser gibt? Nun, Sie krempeln die Ärmel hoch und fangen an, welches zu suchen. Was machen Sie, wenn es keine Elektrizität gibt? Nun, Sie legen Leitungen und bauen Kraftwerke, damit es Elektrizität gibt. Und was macht die Opposition? Statt zu arbeiten, sitzen sie auf ihren Hintern und reden über freie Wahlen. Ich weiß, was für Typen das sind …”

Diese Argumente kenne ich vom Järva-Feld zu Hause in Stockholm und der Demonstration in Genf. Die Entfremdung, das Misstrauen und eine brennende Leidenschaft für den Aufbau einer Nation.

„Wir sind diejenigen, die verletzlich sind, warum greifen uns alle an? Sehen Sie sich Abraham Lincoln an – der hat Tausende von Menschen ins Gefängnis gesteckt – aber er ist trotzdem ein Held. Versetzen Sie sich mal an die Stelle des Präsidenten. Was hätten Sie getan, als Äthiopien angriff? Aufgegeben?”

Ich antworte diplomatisch irgendetwas in Richtung, dass es bestimmt nicht leicht ist, ein Präsident zu sein.

Asmara gilt als eine der sichersten Städte in Afrika.

Asmara gilt als eine der sichersten Städte in Afrika.

Ampeln abgeschaltet, Straßen sauber

Da klingelt das Telefon. Johan geht nach dem ersten Klingeln dran. Man hat uns ein Interview mit dem Minister für Information, Yemane Gebremeskel, gewährt.

Mit schneller Fahrt geht es durch Asmara. Die Cafés entlang der Straßen sind voller Menschen, hohe Palmen säumen in geraden Reihen die breiten Boulevards. Alle Ampeln sind abgeschaltet, aber die Straßen sind sehr sauber. In wenigen anderen afrikanischen Hauptstädten sieht es aus wie hier. Überall ein schwer zu erklärendes Gefühl von Normalität.

„Benzin ist teuer, 45 Nakfa [umgerechnet 3,80 Euro] pro Liter, aber durch Währungsreform von 2015 sind die Preise für Tomaten und Grundnahrungsmittel gesunken“, sagt der Fahrer. Ihm zufolge gibt es seit der Währungsreform keinen Schwarzmarkt für Devisen mehr. Für Ausländer, die mit Dollar reisen, haben sich die Preise verdreifacht.

Einige der vorbeifliegenden Gebäude erkenne ich als die futuristisch gestaltete Tankstelle Fiat Tagliero, das brutal Art Deco gestaltete Kino Roma und die gewaltige katholische Kathedrale von Asmara, die das Herz der Stadt überragt. Der italienische Einfluss aus der Kolonialzeit ist offensichtlich. Aber es hat schon lange niemand mehr Asmara Afrikas „Kleines Rom” genannt.

Als das Auto an einer Kreuzung hält, schau ich mich um. Ich sehe Fassaden mit Uhren, die nicht mehr gehen, Farbe, die abbröckelt und Fensterläden, die schief hängen. „Die Zeit steht still”, schreibe ich in mein Notizbuch. Das ist ein Klischee, das die meisten Besucher von Asmara benutzen. Doch es passt.

Ein paar Minuten später hält der Fahrer vor dem Gebäude des Informationsministeriums. Auf einem Felsen gelegen, schwebt es symbolisch über der Stadt. Ich steige aus und sehe, dass die Wache unbesetzt ist. Eine Matratze darin sieht aus, als hätte gerade noch jemand auf ihr geschlafen. Vor dem Wachposten sitzt ein älterer Mann auf einem zerbrochenen weißen Plastikstuhl. Neben ihm eine Krücke und eine Kalaschnikow. Es ist die erste Waffe, die wir in Eritrea sehen.

Er lächelt und zeigt auf eines der größeren Gebäude auf dem Grundstück, wir gehen hinein, ohne Papiere zu zeigen oder unser Anliegen zu nennen. An der Glastür am Eingang steht auf einem Zettel „Ich bin ein stolzer Eritreer”. Im Eingang hängt ein Banner des Staatssenders ERI-TV mit dem Motto: „Der Wahrheit dienen.” Im ersten Stock finden wir Eritreas Informationsminister Yemane Gebremeskel, anscheinend komplett ohne Sicherheitsleute.

Informationsminister Yemane Gebremeskel.

Informationsminister Yemane Gebremeskel.

Die englische Übersetzung unseres Buches „438 Tage” liegt auf seinem Schreibtisch aus Holz und Glas. „So, was wollen Sie in Eritrea machen?” fragt er, öffnet seine Arme und sinkt im Sofa zusammen.

Ich erkläre ihm, dass die meisten, die ins Land durften, nur berichten können, wie Leute in Cafés Espresso trinken und Gebäck essen. Andererseits gibt es Berichte über Menschen gibt, die aus dem Land fliehen. Wenn sie hofften, andere Sichtweisen von Eritrea vermittelt zu bekommen, müssten sie uns auch erlauben, uns im Land zu bewegen. Frei.

Ich hole meine Karte hervor und sage, dass ich liebend gerne die äthiopische Grenze besuchen würde, um über den Grenzkonflikt zu schreiben, und dass wir ans Meer gehen, den Präsidenten interviewen, Dawit Isaak treffen und die Militär-Schule Sawa besuchen wollten. Fühlt sich an, wie ein Wunschzettel für den Weihnachtsmann.

Der Minister schreibt unsere Wünsche auf einen Zettel und sagt uns, dass er die Details mit seinen Mitarbeitern besprechen will. Keinesfalls wird es möglich sein, mit Militärs zu sprechen. Auch ein Besuch bei Dawit Isaak wird nicht stattfinden. Und der Besuch einer Militär-Schule steht ebenfalls außer Frage. Aber die Grenze und das Meer könnten wir besuchen.

„Wie kommen wir dort hin?”, fragen wir.

„Wie wäre es, wenn sie sich ein Auto mieten? Dies ist ein freies Land”, sagt Yemane Gebremeskel. „Sie können mit wem auch immer sprechen. Sie können das äthiopische Fernsehen anschauen und sie können frei im Internet surfen. Zensur gibt es für niemanden. Wir blockieren keine Websites, weil die Menschen ein Recht auf Information haben und wir haben keine Angst, ihnen diese zu geben.” Er ist der neue Typ eines eritreischen Politikers.

Online-Detektiv mit Twitter-Account

Weil ihm sehr wohl bewusst ist, dass sein Land einen schlechten Ruf in der Welt hat, ist er eine Art Online-Detektiv geworden. Er verfolgt alles, was sich viral über Eritrea verbreitet.

Erst kürzlich hat er einer Falschmeldung widersprochen, wonach Eritreer gezwungen wurden, zwei Frauen zu haben. Einen BBC-Bericht über zwei tödliche Schießereien in Asmara kommentierte er in seinem Twitter-Account mit 3.698 Followern, dass es sich um zwei Wehrpflichtige gehandelt habe, die „von einem Lastwagen gefallen waren”.

Wie alle Gespräche mit Ministern, beginnt auch dieses mit dem Krieg. Yemane Gebremeskel erzählt von der Fackel, die 2016 durch das Land getragen werden wird, anlässlich des 25. Jahrestags der Unabhängigkeit, zu Ehren der 60.000 Menschen, die dafür gestorben sind.

„Im zweiten Krieg, 1998 bis 2000, sind weitere 20.000 Soldaten gestorben. Addiert man die zivilen Opfer, erreicht man schnell Hunderttausende“, sagt er mit Grabesstimme.

Er vergleicht das mit den 9-11-Anschlägen in den USA und wie diese ein Land mit 300 Millionen Einwohnern und dessen Außenpolitik beeinflusst haben.

„Ich möchte nicht wirklich Zahlen miteinander vergleichen, weil jedes Leben wichtig ist, aber welchen Einfluss haben unsere Verluste auf ein Land mit 3 Millionen Einwohnern?”

Yemane Gebremeskel ist überzeugt, dass die Dinge sich für sein Land anders entwickelt hätten, wenn nicht ein weiterer Krieg sein Land getroffen hätte. Er selbst war einer der Unterhändler während des „Grenzkonfliktes”. Für ihn ist es bis heute eine offene Aggression und eine blutende Wunde – jedenfalls „alles andere als ein Grenzkonflikt”.

„Dieser Krieg mit Äthiopien war überflüssig, er wurde von anderen Themen angeheizt, aber als Grenzkonflikt präsentiert.“ Er wirft dem Rest der Welt vor, dass sie keine Verantwortung dafür übernimmt, dass Äthiopien noch immer Teile von Eritrea besetzt hält. „Wir können in der Politik keine zweischneidigen Schwerter gebrauchen. Man kann sich nicht aussuchen, ob man sich an Internationales Recht hält oder nicht”, sagt der Informationsminister.

Wehrpflicht als push-factor

Er spricht schneller und schneller und lenkt das Gespräch auf den Punkt, dass die eritreische Wehrpflicht eine direkte Konsequenz aus den „äthiopischen Kriegstrommeln” ist und damit auch ein Grund ist, weshalb die Jungen das Land verlassen.

„Die Wehrpflicht ist sicher ein push-factor, also etwas, das die Menschen aus dem Land treibt. Wer heute jung in Eritrea ist, muss für eine lange Zeit an einem Ort dienen und kann nicht frei reisen. All das macht das Land offensichtlich äußerst unattraktiv. Selbst wenn sie Patrioten sind und selbst, wenn sie ihr Land lieben, werden nur wenige diese ehrenhafte Verantwortung übernehmen”, sagt Yemane Gebremeskel.

Ich bin überrascht. Ich erlebe zum ersten Mal einen Minister, der zugibt, dass die Wehrpflicht ein Grund dafür ist, dass Menschen aus Eritrea fliehen. Ungeachtet dessen steht er der schwedischen Asylpolitik zutiefst kritisch gegenüber. Er denkt, dass sie die Situation verschlechtert und mehr Menschen dazu treibt, das Land zu verlassen.

„Man kann nicht automatisch irgendjemand einen Flüchtlingsstatus geben. Politisches Asyl sollten nur diejenigen erhalten, die Schutz brauchen und verfolgt werden”, sagt er.

„Ja, aber zu desertieren ist eine Straftat, für die man ins Gefängnis kommt und schon ist man asylberechtigt, wenn man nach Schweden kommt.”

„Ja, von der Armee zu desertieren, ist eine Straftat, aber das kann nach einigen Monaten auch in einer Art Rehabilitation münden, es ist nicht besonders hart. Wir können nicht hart durchgreifen, denn wir wissen, dass die Bedingungen in der Armee nicht einfach sind”, erklärt der Informationsminister.

Willkommenspolitik angeblich schuld an Flüchtlingswelle

Yemane Gebremeskel sagt, das „Flüchtlings-Thema” falle nicht in seinen Aufgabenbereich. Aber das mediale Bild interessiert ihn. Seiner Meinung dient Asyl lediglich dazu, Eritreas Militär zu unterminieren und die Besten der Jugend des Landes wegzulocken. Er erinnert auch an die Aussage eines österreichischen Ministers, wonach 40 Prozent derer, die behaupten, Eritreer zu sein, tatsächlich aus Somalia oder Äthiopien stammen.

„Es ist die europäische Willkommenspolitik, die diese Flüchtlingswelle verursacht hat. Im Sudan warten zwei Millionen Flüchtlinge, die diesen Sommer ihre Flucht beginnen. Wie viele von denen, meinen Sie, werden sagen, dass sie aus Eritrea sind?”

Ich vermeide diese Zahlenspiele, wechsele das Thema und frage ihn, ob es nicht schwierig sei, in einem Land, in dem es keine Pressefreiheit gibt, Informationsminister zu sein.

„Es stimmt, dass wir hier keine Presse im Privatbesitz haben. Aber es gibt Zeitungen, und selbst, wenn diese von der Regierung betrieben werden, äußern Leute ihre Meinung in Medien ohne Furcht vor den Folgen”, sagt er.

Als ich ihm erzähle, dass ich die englischsprachige Zeitung „Profile” gelesen habe und darin keinen einzigen kritischen Artikel gefunden habe, lächelt er.

„Können die Reporter dieser Publikation die Reformen unseres Regimes infrage stellen? Theoretisch ja. Es ist nicht ungesetzlich, aber in der Praxis geschieht das nicht. Weil es ja nicht viele negative Dinge über Eritrea zu berichten gibt. Außerdem wollen unsere Journalisten auch die Hetzkampagne nicht weiter anfeuern.”

„Aber ist es nicht die Rolle des Journalismus, ein Wachhund zu sein, der ein Auge auf die Machtverhältnisse hat?”

„So sollte es funktionieren – auf dem Papier – aber passiert das in der Realität? Ich habe meine Zweifel, ich habe meine Zweifel”, sagt der Minister für Information nachdenklich.

Es ist ein großer Unterschied, ob man einen Politiker aus Eritrea in einem Hotel in Stockholm interviewt oder hier in Asmara. Ich kann spüren, wie meine Fragen weniger scharf werden. Wie ich mich zurückhalte, in der Hoffnung, ein Interview mit dem Präsidenten persönlich zu bekommen.

Ich beginne mit einer langen Erklärung über die große Delegation aus Eritrea, die zur Beerdigung unseres ermordeten Ministerpräsidenten Olof Palme angereist war. Über die schwedischen Missionare und über die längst vergangenen Zeiten, als die Beziehungen zwischen unseren Ländern gut waren. Und während ich spreche, denke ich mir, dass ich mich gerade mehr wie ein Politiker anhöre als wie ein Journalist. Es ist, als hätte man zwei gute Freunde, von denen man glaubt, dass sie eigentlich ein Paar sein sollten. Dann sagt man dem einen, der andere habe etwas wirklich Großartiges über ihn gesagt – und umgekehrt. Ich fühle mich nicht besonders wohl dabei.

Die belastende Frage nach den Beziehungen zwischen unseren Ländern beantwortet Yemane Gebremeskel so: „Schwedische Politiker betonen laufend den Fall eines gewissen Journalisten, der in eine Reihe heimischer politischer Verfilzungen verwickelt ist, und sie haben versucht, jede bilaterale Zusammenarbeit und Kontakte mit diesem einen Fall zu verbinden.”

Nach seinen Worten macht die Tatsache, dass „alles” immer auch Dawit Isaak betrifft, Schwedens Rolle und Absichten „fraglich”. Doch er hofft auch auf engere Beziehungen, auch wenn Eritrea und Schweden unterschiedlicher Meinungen seien.

„Menschen können unterschiedliche Meinungen haben, eine Beziehung ist auf mehr als nur einer Sache aufgebaut. Das große Problem in unserer Beziehung zu Schweden ist die starke Position Amerikas in der Region. Schweden wollte sich der Position Eritreas nicht annähern, weil das bedeuten würde, dass sie sich gegen die USA stellen.“

„Und dafür ist Schweden ist nicht gewappnet?”

„Theoretisch unterstützt Schweden die Schlussfolgerung der Grenzkommission, dass Äthiopien Teile des eritreischen Territoriums okkupiert. Aber Schweden lässt keine Taten folgen, da seine Verbindungen mit Äthiopien so stark sind. Sie reden, ziehen aber keine Konsequenzen daraus“, sagt der Informationsminister.

Die Grenze, immer die Grenze.

Schwedisch-eritreischer Journalist seit 15 Jahren in Haft

Ich schaue in mein grünes Notizbuch, obwohl ich meine nächste Frage schon kenne.

„Sie feiern 25 Jahre als unabhängige Nation. Während 15 dieser 25 Jahre war Dawit Isaak im Gefängnis. Ist es nicht denkbar, dass, wessen auch immer Sie ihn beschuldigen, die Zeit für eine Begnadigung gekommen ist?“

Der Informationsminister versucht mehrfach, mich zu unterbrechen, während ich diese Frage stelle.

„Das sind komplexe Fragen, weit außerhalb meines Zuständigkeitsbereiches. Ich kann nicht anfangen, Fragen zu beantworten, die außerhalb des Rahmens dieses Interviews liegen”, sagt er.

„Sie haben also keine Neuigkeiten zu diesem Fall?”

„Ich möchte nichts kommentieren, was nicht Teil der Absprachen für dieses Interview war.”

„Ist es möglich ihn zu treffen?”

„Das glaube ich nicht.”

„Wer kann Fragen über ihn beantworten?”

„Dieser besondere Fall wurde speziell behandelt und Sie können nicht einfach hierherkommen und über eine Einzelperson reden, als sei das eine Einzelfrage. Ich möchte keine Fragen mehr zu seinem Fall beantworten oder darüber wie auch immer diskutieren”, sagt Yemane Gebremeskel und schaut zu Boden.

Die Grenze der Offenherzigkeit ist erreicht und ich weiß jetzt genau, wo die Linie der nationalen Sicherheit verläuft. Wir verlassen das Informationsministerium mit einer Erlaubnis, uns außerhalb der Hauptstadt zu bewegen. Wir dürfen weder fotografieren noch Fragen stellen und haben ein Papier, das uns den Kauf einer örtlichen SIM-Karte für unser Mobiltelefon erlaubt. Als wir in die frische Luft hinausgehen, fallen alle Spannungen und Unbehagen ab, die ich bei der Landung in Eritrea empfand.

Wir haben jetzt die Lage gepeilt und vorsichtig eine neue Realität betreten. Langsam, aber sicher sind wir in eine andere Normalität eingelullt. Wir tasten nach etwas Festem zum Greifen. Aber jeder Türknauf, den wir erreichen, führt uns zur nächsten und zu einer weiteren Tür. Auch wenn wir die erhofften Antworten auf unsere Fragen bekommen, ist keine der Türen verschlossen und das ist ein sehr gutes Zeichen. Ordentlicher Journalismus ist also doch möglich.

Draußen vor dem Informationsministerium sitzt der alte Mann immer noch auf seinem Plastikstuhl. Er lächelt und winkt mit seiner Krücke. Seine Kalaschnikow ist auf den Boden gerutscht. Ich lege eine Hand aufs Herz.

Die Sonne steht noch hoch am Himmel. Es fühlt sich wie eine dieser Geschichten an, wo man sich glücklich preist, wenn man es schafft, ein Puzzlesteinchen pro Tag zu legen. Für uns stellt sich die Frage, aus wie vielen Teilchen dieses Puzzle besteht. Und welches Motiv es hat.


Das Rote Meer – April 2016

Von der Hauptstadt in die Hafenstadt - eine Fahrt "von zwei Stunden und drei Jahreszeiten"

Von der Hauptstadt in die Hafenstadt - eine Fahrt “von zwei Stunden und drei Jahreszeiten”

Hoch oben über dem Tal – oberhalb des Nebels unter den Wolken – ist es, als hätte die heftige Geschichte Eritreas einen tiefen Atemzug genommen und hielte die Luft an. Nicht alle Werbebotschaften des eritreischen Ministeriums für Tourismus sind zutreffend, aber dass die Strecke von Asmara in die Hafenstadt Massawa eine Reise „von zwei Stunden und drei Jahreszeiten“ ist, stellt sich als richtig heraus.

Die Straße schlängelt sich vom Berggipfel über 2.500 Höhenmeter hinunter bis zum Meer. Eine Landschaft, wie man sie sonst aus dem Kino kennt. Schnell steigt die Temperaturanzeige auf dem Armaturenbrett von 25 auf 35 Grad Celsius. Das Licht wird stahlblau und nach einer weiteren Stunde Fahrt sehen wir nur noch eine undurchdringliche weiße Nebelwand. Es fühlt sich an, als wären wir irgendwo an den Berghängen des Himalayas. Der Höhenunterschied drückt auf mein Trommelfell.

Als der Nebel dünner wird, trifft uns eine Explosion an Blattgrün. Ich verstehe plötzlich die Auslandskorrespondenten, die sich während des Krieges in Eritrea verliebt haben. Diese Natur und dazu die Guerillakämpfer, die philosophische Werke lesen und über italienische Architektur diskutieren - all das musste unwiderstehlich gewesen sein.

Wir halten an und kaufen eine Wassermelone. Der Händler versichert uns, dass sie exakt 1,3 Kilogramm wiege und „süßer als Zucker“ sei. Unser Fahrer macht sich nicht die Mühe, sie noch einmal wiegen zu lassen und erklärt uns, gerade dieses einzigartige Vertrauen halte das Land zusammen.

„Wenn sie nicht süß ist, kannst du zurückkommen und sie vor mir auf den Boden schmeißen, dann werde ich dir dein Geld zurückgeben“, insistiert der Händler.

Wir fahren weiter nach Osten in Richtung Rotes Meer. Das Mietauto mit Fahrer haben wir selbst gebucht, und wir sehen keine Straßenblockaden oder Kontrollpunkte. Der Asphalt ist neu und glatt. Die Italiener haben in der Kolonialzeit diese Straße gebaut, die seither eine wichtige Verbindung zwischen Asmara und dem Roten Meer ist. Die parallel laufende Eisenbahn aus dem späten 19. Jahrhundert ist ein beeindruckendes Zeugnis technischer Ingenieurkunst. Sporadisch sehen wir entlang der Straße Soldaten, die Steine tragen oder Bäume pflanzen. Ich erinnere mich an die Worte des Ministers, dass die meisten Soldaten während ihres Militärdienstes nicht in den Schützengräben steckenbleiben. Es scheint zu stimmen.

Während der zweistündigen Fahrt begegnen wir nicht einem einzigen Auto. Vielleicht wegen der hohen Benzinpreise, vielleicht wegen der UN-Sanktionen, die über Eritrea verhängt wurden, wegen der angeblichen Unterstützung für die islamistische Al-Shabaab-Miliz und Asmaras Streit mit Dschibuti. Gelegentlich sehen wir einen der gelben Lastwagen auf der Straße unter uns, die Kupfer von der Bisha-Mine transportieren. Sie bewegen sich wie kleine Ameisen mit kostbarer Fracht in Richtung Küste. Wir reisen entlang Eritreas Finanz-Arterie.

Hinter uns türmen sich die Berge wie ein Fort auf und die Hitze trifft mich mit voller Kraft. Wir sind in einer der heißesten Städte der Welt mit hoher Luftfeuchtigkeit und einer Durchschnitts-Temperatur von 30 Grad Celsius. Plötzlich rieche ich den vertrauten Duft von Seegras und Meerwasser.

Seit Eritreas Unabhängigkeit im Jahr 1993 wurde Massawa und sein Hafen neu aufgebaut.

Seit Eritreas Unabhängigkeit im Jahr 1993 wurde Massawa und sein Hafen neu aufgebaut.

Früher war Massawa auch Äthiopiens Zugang zum Meer.

Früher war Massawa auch Äthiopiens Zugang zum Meer.

Ein dunkelgrauer Container voller Kupfer schwebt durch die Luft. Ein großer Kran verlädt ihn auf die „African Swan“, ein Frachtschiff mit Ziel China. Es ist überraschend still, fast schon gespenstig. Während der Erzfrachter mit Waren im Wert von mehreren Millionen beladen wird, ist nur das Surren eines Gabelstaplers zu hören.

Auf dem Dach eines großen Holzgebäudes, am Rande des Piers, steht der Hafenmeister und behält die Arbeit im Blick. „In den vergangenen fünf Jahren ist der Hafen dank der Kupfermine enorm gewachsen. Wir haben neue Kräne, neue Lastwagen und arbeiten inzwischen im Zwei-Schicht-Betrieb, um die Mengen zu bewältigen”, sagt er voller Leidenschaft.

Er will kein Interview geben. „Von meinen Vorgesetzten habe ich die Anweisung, Ihnen nur Auskunft zu den Fakten zu geben”, sagt er. Aber der Stolz auf seinen Hafen und die Arbeit dort ist so groß, dass er mir erlaubt, Notizen zu machen.

„Der ganze Treibstoff, das eingeführte Obst und alle Elektronikartikel für das Land passieren diesen Hafen. Draußen auf dem Wasser warten drei weitere Containerschiffe darauf, anlegen zu dürfen”, erklärt er.

Zu behaupten, der Hafen von Massawa liege an einer strategisch wichtigen Stelle, wäre eine Untertreibung. Er liegt in der Mitte des rund 1.000 Kilometer langen Küstenstreifens von Eritrea. Der Hafen ist die Projektionsfläche für die Träume von einer Nation, eine Art afrikanisches Singapur. Er ist der Ausweg aus der eritreischen Isolation.

„Die Entwicklung kommt jetzt schneller voran, nachdem die Investoren Eritrea entdeckt haben”, sagt der Hafenmeister. Er hofft, den Hafen erweitern zu können, um mehr Platz für Container und feststehende Kräne zu haben. Der Hafen sieht wie ein großes Legoprojekt aus, mit den gelben, roten und blauen Containern, die sich leise über den Kai bewegen, um durch das Nadelöhr geschleust zu werden.

Sogar mit den im Vergleich zu früheren Jahren niedrigeren Kupferpreisen – als die Nachfrage aus China am höchsten war – laufen die Geschäfte für Eritrea nach wie vor gut.

„Wir haben einzig und allein die Einschränkung, beim Be- und Entladen auf mobile Kräne oder die Kräne auf den Schiffen angewiesen zu sein. Mit stationären Kränen wären wir leistungsfähiger“, sagt der Hafenmeister und geht einem Gabelstapler der Marke Kalmar aus dem Weg.

„Ein Teil dieses Hafens ist speziell dafür konstruiert, Benzin und Diesel anzulanden. Ein anderer Bereich wurde als Container-Terminal ausgebaut ”, sagt er. „Belgier aus dem Hafen Antwerpen waren hier, um uns auszubilden. Aber inzwischen können wir alles selbst betreiben. Deshalb haben wir sie in den Urlaub geschickt. Uns gefällt es, von ausländischen Partnern zu lernen. Sie trainieren uns und gehen wieder, so dass wir unseren eigenen Hafen betreiben können.“ Der Hafenmeister ist auch der einzige Mensch in Eritrea, der mir erzählt, dass er kürzlich eine Gehaltserhöhung bekommen hat.

Unten am Wasser brechen sich die Wellen am kilometerlangen Strand, den wir vom Pier aus sehen. Zwar erfreut sich das Import- und Exportgeschäft eines Aufschwungs, aber die Strandkörbe bleiben leer. An diesem Wochenende erwarteten sie Touristen aus der Region in der Strandanlage, heißt es, aber im Moment ist niemand dort. Außerhalb des eritreischen Archipels liegen weitere dreihundert, beinahe unberührte Inseln mit langen, sandigen Stränden.

Bereit sein ist alles

Hotel da, Pool da, Zimmer da - aber die Gäste fehlen.

Hotel da, Pool da, Zimmer da - aber die Gäste fehlen.

Das „Grand Hotel Dahlak“ im Urlaubsressort der Stadt Massawa, scheint verlassen. Der riesige Pool ist spiegelglatt; niemand schwimmt. Weil aber jederzeit Touristen kommen könnten, hält der Eigentümer alle Zimmer makellos sauber und die Böden blitzblank.

Es wäre einfach, Massawa eine Geisterstadt zu nennen, aber auch ein bisschen unfair. Die Spuren des Krieges sind noch an den Fassaden der Stadt zu sehen. Nachdem die Äthiopier aus der Stadt gejagt worden waren, bombardierten sie im Februar 1990 sechs ganze Tage lang die Stadt. Fast alle Gebäude wurden zerstört oder beschädigt.

In einem der Gebäude, die restauriert worden sind, ist heute das „Northern Red Sea Museum”. Es wurde im Jahr 2000 gegründet und erinnert an die Befreiung der Stadt. Vor dem Museum sieht man gekaperte äthiopische Militär-Boote. An jedem Lichtmast flattert die Fahne Eritreas im Wind. Drinnen ist das das erste Objekt ein 14 Meter langer Wal ist. Fotografieren verboten.

„Viele Museen zeigen Nachbildungen der Artefakte. Deshalb ist es verboten, dort zu fotografieren”, erklärt unser Führer.

Schnell notiere ich die Anzahl der in Eritrea heimischen Schildkröten, Fische und Korallen. In Glasbehältern liegen Meeres-Weichtiere, halb aufgelöst in Alkohol. Das Museum bietet eine Mischung aus ethnographischen und militärischen Erinnerungsstücken, zusammen mit Naturgeschichte.

Der Führer zeigt uns das Bett des äthiopischen Kaisers Haile Selassie, das in seinem Sommer-Palast stand, und erklärt uns, dass die Italiener Massawa 1885 besetzt haben und dass es die koloniale Hauptstadt Eritreas bis 1897 war. Dann verlegten die Italiener sie nach Asmara, weil dort das Klima angenehmer war.

Wir sehen grimmig dreinschauende Askaris – Eritreer, die während des Zweiten Weltkriegs für den Faschistenführer Benito Mussolini kämpften. 1941 vertrieben die Briten die Italiener und übernahmen Eritreas Verwaltung.

„Die Briten sagten, dass wir zwei Dinge besitzen: unsere Freiheitsliebe und unseren Bildungshunger. Die Italiener sahen uns nur als Soldaten oder Bauern”, erläutert der Führer.

Nach dem Zweiten Weltkrieg hofften viele auf Eritreas Unabhängigkeit, aber die UNO entschied, dass das Land Teil einer Föderation mit Äthiopien sein sollte.

An den Museumswänden hängen Porträts von den Führern der Widerstandsbewegung, die 1958 begann. Ungefähr ein Jahr später begann der bewaffnete Kampf für die Unabhängigkeit. Der Führer bringt uns in die nächste Abteilung des Museums. Sie zeigt, den Abbildungen zufolge, die „Bitterkeit des Kampfes, die Kreativität der Freiheitskämpfer und die Bösartigkeit des Feindes”.

Weltberühmte Plastiksandalen

Auf einem Foto befragt Präsidentenberater Yememe Gebreab einen russischen Kriegsgefangenen. Das Foto hat “wegen der nationalen Sicherheit” keine Jahresangabe, aber ich erkenne den Berater.

Ich hatte schon von diesen Fotos gehört, bevor ich in Eritrea ankam. Vermutlich hat sie der eritreische Kriegsfotograf Seyoum Tsehaye gemacht, der zur selben Zeit wie Dawit Isaak festgenommen wurde und auch seit 15 Jahren im Gefängnis sitzt. In einer Glasvitrine neben den Schwarzweißfotos sind die weltberühmten Plastiksandalen, die die eritreische Armee trug, mit verkehrt herum angebrachten Sohlen, um Verfolger zu verwirren.

Andere Darstellungen zeigen, wie die Kamele Wasser, selbstgemachte Gasmasken und sehr kurze Leinenhosen (short-shorts) zu den Soldaten trugen. Die Erklärung hinter diesen „short-shorts” der eritreischen Armee ist, dass der Schneider aus seinem Material so viele Hosen wie möglich machen wollte. Ein anderer Raum zeigt die Schlacht von Afabet, in der es den Eritreern gelang, größere äthiopische Verbände einzukesseln und zu besiegen, und die Panzer.

„Die Rache der äthiopischen Armee nach dem Verlust war schrecklich, sie griffen ein Dorf an und massakrierten jeden”, sagt der Führer.

Auf dem Fußboden sind Gipsfiguren eines äthiopischen Soldaten zu sehen, der ein Kind getötet hat und mit dem Fuß auf dessen Rücken steht, bereit, die Mutter zu erschießen. Dreißig Jahre und 100.000 Tote später endet der Krieg. Die Unabhängigkeit ist besiegelt.

Es scheint, als sei die Zeit 1991 eingefroren. Die Uhren sind stehengeblieben, die Vitrinen verschlossen und die Texte einlaminiert. Der Kriegszustand und der Notstand werden ewig. Der Fuß des äthiopischen Soldaten auf dem Kinderrücken ist unverrückbar.

Aber dann sehe ich ein Artefakt vom 7. März 2007. An einer Wand ist eine Seemöwe montiert, die im Roten Meer gefangen wurde. Am linken Bein hatte die Möwe einen Ring des schwedischen naturhistorischen Museums in Stockholm. Nach einem Flug von 5.435 Kilometern wurde die Möwe gefangen. Der Museumsführer berichtet uns, dass sie sofort seziert wurde, um zu überprüfen, ob sie Vogelgrippe hatte. Sie hatte keine.


Der Ex-Verteidigungsminister – April 2016

Sebhat Efrem

Sebhat Efrem

Er trägt einen Anzug, Lederschuhe und ein weißes Hemd. Sein Handschlag ist kräftig, und er bittet mich, Platz zu nehmen.

„Sie müssen verstehen, was für ein Land Eritrea ist. Wir sind Kinder des Krieges, wir haben eine Mentalität, die im Überlebenskampf wurzelt“, sagt Eritreas ehemaliger Verteidigungsminister Sebhat Efrem und macht es sich auf seinem Stuhl bequem. Sein Büro ist geräumig und voller Karten, Bücher, Fotografien und Souvenirs aus einem Leben in den Schützengräben und dem inneren Zirkel der Politik. Jetzt ist er Minister für Energie und Bergbau in Eritrea.

Die Sofas sind abgenutzt und schlicht. Und wieder einmal sind vor seinem Büro weder Wachen noch Metalldetektoren. Wir sind zurück in Asmara. Vor dem Gebäude singen die Webervögel.

„Wenn man die Gebäude und die Infrastruktur betrachtet, könnte man meinen, die Zeit sei stehengeblieben. In den 1930er Jahren lagen wir mit Südafrika gleichauf, heute ist der Unterschied enorm. Was ist mit uns passiert?”, fragt er, und stellt seine Kaffeetasse auf den Tisch ab, bevor er seine eigene Frage beantwortet.

„Krieg mit Äthiopien, Krieg mit dem Sudan, Krieg mit Dschibuti und wieder Krieg mit Äthiopien”, sagt er und klopft mit seinen Fingerknöcheln auf den Tisch.

In Eritrea ist Sebhat Efrem für seine deutlichen Worte bekannt. Seine Philosophie nach dem Krieg fasst er wie folgt zusammen: „Wenn ein Riss im Boot ist, wird das Boot sinken. Eritrea ist wie ein Boot – und das Ziel seiner Gegner besteht darin, einen Riss zu verursachen, während wir sicherstellen müssen, dass das eritreische Boot nicht zerbricht.“

„Äthiopien beging immer wieder denselben Fehler“

Er sagt, die Zukunft Eritreas würden die „weichen Werte” prägen.„Nationale Sicherheit setzt sich aus mehreren Dingen zusammen. Waffentechnik ist eine Sache, aber über die psychosozialen Aspekte eines Landes, den weichen Werten, werden die Dinge wirklich entschieden - und wenn du daran scheiterst, scheiterst du mit allem.”

Als Verteidigungsminister war er dafür verantwortlich, die Armee nach der Unabhängigkeit zu entwaffnen. Die Entlassung aus dem Kriegsdienst begann 1994, als der heutzutage verrufene verpflichtende Wehrdienst eingerichtet wurde, um Dämme und Straßen zu bauen”.

Vier Jahre später hatte Sebhat Efrem alle Hände voll mit einem neuen Krieg zu tun.

Seiner Ansicht nach lag die Ursache des Krieges nicht in Grenzkonflikten oder der Stadt Badme, sondern in der „Innenpolitik Äthiopiens”.

„Unser Land ist klein und hat keinerlei strategischen Rückhalt. Wir hatten keine andere Wahl, als zu bleiben und zu kämpfen. Wir konnten uns nirgendwohin zurückziehen“, sagt er.

Während der drei Angriffe der Äthiopier konnte er nur den einzigen Befehl geben, durchzuhalten und bis zum letzten Mann zu kämpfen. Er zieht Parallelen zu Sparta und der Schlacht bei den Thermopylen. Für ihn war Äthiopiens Vorgehen während des Krieges schlicht „Wahnsinn”.

„Einsteins Definition von Wahnsinn ist, immer wieder den gleichen Fehler zu begehen. Genau das hat Äthiopien gemacht.“

Der frühere Verteidigungsminister beschreibt das Regime des Nachbarlandes als starr vor Angst, Macht zu verlieren, als ständig paranoid. Für ihn ist die derzeitige Lage mit einem “Kein-Krieg-kein-Frieden”-Szenario ein Problem, das nur die Zeit lösen kann.

„Es gab eine Tragödie, und trotzdem hat niemand irgendetwas gelernt. In der Situation, in der wir uns gerade befinden, ist Zeit der beste Lehrer sowohl für unser Land und Äthiopien, aber ebenso für die internationale Gemeinschaft”, sagt er und schenkt sich mehr Kaffee ein.

Ich habe um ein Treffen mit Sebhat Efrem gebeten, um über Äthiopien zu reden und zu erfahren, für wie hoch er das Risiko eines neuen Krieges einschätzt. Zuerst möchte er wissen, ob ich in Fisksätra gewesen bin, einer kleinen Stadt am Rande Stockholms. Ich nicke. “Ich habe eine Schwester, die dort lebt”, sagt er, entschuldigt sich und geht zu seinem Schreibtisch, um seinen Laptop zu holen.

Er erzählt von den schwedischen Missionaren, die die Grundlage für das Bildungssystem in Eritrea gelegt haben. Dann sagt er, es sei lange her, seit er das letzte Mal Besucher aus Schweden hatte. „Ich wünschte, mehr Schweden interessierten sich für Eritrea, damit wir neue Partnerschaften beginnen könnten”, sagt er und setzt sich wieder.

Ich setze mich neben ihn und warte einen Moment, bis sein alter Laptop hochfährt. Der Monitor färbt sich blau und er klickt auf eine PowerPoint-Präsentation mit dem Namen Nationale Sicherheitsstrategie.

„Auf dem Papier ist Äthiopien eine Großmacht, durch die Legende von einem Imperium gestützt, aber es hat im Land einen Paradigmenwechsel gegeben, den die Außenwelt nicht bemerkt hat”, sagt der frühere Verteidigungsminister und klickt weitere Seiten der Präsentation durch, während er erklärt, wieso das Land zu viel Vertrauen in seine Militärmacht hat.

Ich rücke näher an den Exminister heran, um den Monitor besser sehen zu können. Er beschreibt eine Paranoia in Äthiopien, die seiner Ansicht nach zum Zusammenbruch des Staates führen wird. „Eine Minderheit versucht, eine Mehrheit zu beherrschen, und damit es ihnen gelingt, haben sie den Krieg gewählt. Das ist ihre einzige Chance, das Land zusammenzuhalten und die Aufmerksamkeit von den tatsächlichen Problemen abzulenken.”

Kriege, Zeitbombe, Weltuntergangsszenario

Sebhat Efrems Analyse führt ihn zu dem Schluss, es bestehe ein großes Risiko, dass es weitere Kriege gibt. Was er von der anderen Seite der Grenze hört, macht ihm Sorgen. „Der äthiopische Staat zerfällt, und wir wissen, wie so ein Staat kollabiert. Diejenigen, in deren Händen die letzte Entscheidung liegt, besitzen keine rebellische Kraft, sondern die Schwäche der Machthaber. Aufständische waren früher Fantasieprodukte, mit denen man den Bürgern Angst einjagte, aber heute gibt es sie wirklich. Sie haben ein Frankensteinsches Monster erschaffen.”

Ich mache mir Notizen und frage, wie er sich so sicher sein kann, dass der Zusammenbruch bevorsteht.

„Ihre ethnopolitische Kultur ist eine Zeitbombe, die explodieren wird, und als Folge davon wird Äthiopien verschwinden. Die gesamte riesige Armee wird sich auflösen, ohne dass wir eine einzige Waffe abfeuern müssen.” Er habe das äthiopische Regime schon während des letzten Krieges davor gewarnt, einen Staat aufzubauen, in dem eine Minderheit von sechs Prozent aus der Tigray-Region sämtliche Machtpositionen besetzt. Eritrea wählte einen anderen Weg und löste die ethnisch getrennten Einheiten schon vor der Unabhängigkeit auf. Er zeigt mir eine Folie von Äthiopien mit roten Pfeilen, die von den Regionen Amhara, Afar, Ogaden und Oromo weg und zur Hauptstadt hin zeigen.

„Das ist die Karte des Staatszusammenbruchs, wie bewaffnete Rebellengruppen aus allen geographischen Regionen auf das Epizentrum zufegen. Das wird eine Katastrophe von biblischen Ausmaßen.”

Das dringendste Problem sind die Proteste der Oromo-Bevölkerung. Allein in diesem Jahr haben die äthiopischen Sicherheitskräfte 120 zivile Demonstranten erschossen. „Sie wollen sich rächen, weil sie zu lange als Bürger zweiter Klasse behandelt worden sind. Sie stellen die Mehrheit der Bevölkerung und eine Macht, die alles auslöschen könnte”, sagt Sebhat Efrem.

Wenn die Verfassung nicht geändert wird, wird der Staatsapparat seiner Ansicht nach innerhalb weniger Jahre seine Legitimation verlieren. “Die Armee besteht zu 60 Prozent aus Leuten aus dem Oromo-Gebiet. Wenn die Politiker also die ethnische Karte ausspielen, ist das wie Öl ins Feuer zu gießen.”

Als ich den früheren Verteidigungsminister um ein paar Fakten bitte, um dieses Weltuntergangsszenario zu untermauern, meint er, es sei „schwierig, den Untergang in Zahlen auszudrücken”.

„Aber Sie können schon jetzt den massiven Flüchtlingsstrom vorhersehen, Epidemien, Gesetzlosigkeit, und wie der äthiopische Sicherheitsdienst immer mehr zum Staat im Staate wird?”

Er legt mir seine Theorien dar, nicht mit Bosheit, sondern traurig. Äthiopien steht vor einer Wahl, sagt er. Entweder wird die Gewalt weiter eskalieren, sich in ethnische Säuberungen und einen Staatskollaps steigern. Oder sie ändern die Verfassung und ziehen sich aus Badme zurück. Dann gibt es eine Chance, die Katastrophe zu verhindern.

„Äthiopien steht mit dem Rücken zur Wand, und das Land hat nur noch wenige Optionen. Wenn sie sich nicht zurückziehen, wird ihr Regime unter seiner eigenen Macht zusammenbrechen.”

Für ihn ist Äthiopien „ein armes Land, das noch nie einen Krieg gewonnen hat”. Er beschreibt eine rasant fortschreitende Krise, meint aber, der Prozess werden langsam sein. „Äthiopien ist wie ein Dinosaurier, man kann es nicht so schnell umbringen. Es wird seine Zeit dauern. Aber sie sind jetzt verängstigt, verwundet und umzingelt.”

Sebhat Efrem meint, Länder wie Schweden könnten eine Rolle dabei spielen, Äthiopien zu retten. Aber es müsste schnell gehandelt werden. „Die internationale Gemeinschaft hat die Alarmzeichen ignoriert, weil sie in das Land verliebt waren. Aber Politik muss sich auf Realität gründen, nicht auf Emotionen”, sagt er, klappt sein Laptop zu und ruft nach mehr Kaffee.

„Was werden Sie tun, um sicherzustellen, dass Eritrea nicht denselben Weg nimmt?”

Er sagt, auf diese Frage gebe es nur eine Antwort – die Entwicklung der eritreischen Kultur.

„Manche Politiker wollen ihre Rolle gerne aufbauschen. Nehmen Sie zum Beispiel den Kalten Krieg: Er endete von selbst. Mit einem Mal zerstörte das Volk die Berliner Mauer. Keiner sah es kommen. Politik steckt voller Überraschungen. Ich denke, wir sollten die Spontaneität der Menschheit nicht unterschätzen.”, sagt er.

Auch glaube er, dass die „weichen Kräfte” Eritreas im Augenblick stark sind. „Kulturell und psychosozial sind wir in einem großartigen Zustand, vor allem im Vergleich mit unseren Nachbarn. Wenn wir nur die moralische Stärke haben, kommt die Entwicklung von selbst.”

„Der beste Lehrmeister ist die Zeit“

Ein anderer Vorteil Eritreas sei die Zeit, sagt er. „Der Weg zu wirtschaftlichem Wachstum und Stabilität gleicht mehr einem steten Tropfen als einem schnellen ökonomischem Wunder. Der beste Lehrmeister ist die Zeit.”

Die Tatsache, dass Eritrea seine 25-jährige Unabhängigkeit feiert, sei vor allem ein Zahlenspiel. „Das ist wie die Federn eines fliegenden Vogels zu zählen. Was sagt das über irgendetwas mehr aus, als dass Zeit vergangen ist.”, fragt er.

Ein Beispiel, welch guter Lehrmeister die Zeit ist, sei, dass die neue Generation ein Land in verhältnismäßigem Frieden erbe. „Die Kinder dieses Landes treten nicht in die Fußstapfen ihrer Eltern. Die Tochter eines Bauern kann Ingenieurin werden.”

Das einzige beunruhigende Detail ist für den ehemaligen Verteidigungsminister, dass potenzielle Investoren durch all diesen „Lärm” abgeschreckt werden könnten.

Bald will die UN-Kommission ihre Ergebnisse der Untersuchung präsentieren, ob Eritrea sich Menschenrechtsverletzungen schuldig macht.

An den Wänden des früheren Verteidigungs- und heutigen Bergbauministers hängt ein Foto der Kupfermine Bisha. Ein Tagebau, der 150 Kilometer westlich von Asmara an der Grenze zum Sudan liegt. Er hat bislang 800 Millionen US-Dollar in die eritreische Staatskasse gespült. Auf die Frage, ob er den Bericht von Amnesty International gelesen habe, der die Betreiber der Bisha-Mine der Sklavenarbeit beschuldigt, nickt er.

„Ich lese alle Berichte von Amnesty International, jedes unserer Regierungsmitglieder tut das. Aber was machst du mit einem Bericht wie diesem, wenn dein Land von Krieg bedroht ist? Ich wünschte, wir bräuchten keine Wehrpflicht. Wenn sie versucht hätten, persönlich herzukommen, hätten sie sehen können, dass es uns großartig geht.”

In einem kanadischen Rechtsstreit fordern die Anwälte, dass die Mine geschlossen wird, da „jede Kooperation mit der eritreischen Regierung den Missbrauch unterstützt”. Einige Zeugen, die der Bericht anführt, beschreiben eine Foltermethode namens Helikopter, bei der das Opfer sich entkleiden muss und ihm Arme und Beine auf dem Rücken gefesselt werden.

Bergbau von Ausländern einmal anders

Der Minister für Bergbau und Energie Sebhat Efrem redet lieber über die einzigartigen Aspekte des Bisha-Minen-Projektes.

„In vielen afrikanischen Ländern bleibt nach ein paar Jahren ausländischen Bergbaus nur ein verunreinigtes Loch im Boden. Wir wollten sehen, ob es auch anders laufen könnte. Wir waren neugierig, ob eine Zusammenarbeit mit einem ausländischen Bergbauunternehmen bei der Gewinnung von Mineralien funktionieren würde.”

Das Ergebnis war ein eritreisch-kanadisches Projekt mit dem Ziel, dass die ausländischen Minenarbeiter die Eritreer schulen, damit die Kanadier irgendwann nicht mehr gebraucht werden. Der Bergbauminister möchte außerdem gern die gewaltigen Erwartungen an den Ertrag dieser einzelnen Mine herunterspielen.

„Bis jetzt haben wir nur eine Mine. Das damit gewonnene Geld wird nicht weit reichen. Gegenwärtig bezahlen wir Soldaten und Veteranen nicht gut.”

Jetzt, nach den Erfahrungen mit der Bisha-Mine haben, sollen weitere Minengesellschaften eingeladen sowie der Markt für Öl, Erdgas und Tourismus geöffnet werden.

„Kriege wüten um uns herum. Aber hier, im Auge des Sturms, gibt es Stabilität und Möglichkeiten. Wir stehen Investitionen offen gegenüber, müssen aber die Kontrolle über unsere kulturelle Identität bewahren. Wenn wir die verlieren, haben wir keine Verwendung für neue Einnahmen”, sagt er.

Draußen vor Sebhat Efrems Büro geht langsam die Sonne unter.

Wenn die eritreische Wirtschaft weiterhin wächst, hat der frühere Verteidigungsminister nur einen Wunsch. „Das Geld würde sofort in unser staatliches Gesundheitswesen investiert werden.”


Das Kinderkrankenhaus – April 2016

Kurz vor Mitternacht wird der Kinderarzt Samson Abay von seinen Kollegen des Mendefera Referral Krankenhauses geweckt. Halb gehend, halb rennend, legt er die kurze Entfernung zwischen dem von ihm gemieteten Haus und der Abteilung für Frühgeborene zurück.

Der Sauerstoffsättigungsalarm an einem der Brutkästen hatte sich gemeldet. Er wäscht schnell seine Hände, zieht ein Paar Handschuhe über und beginnt sofort damit, die Sauerstoffleitung, die in die Nase des Babys geht, zu richten.

Nach einigen Minuten ist der Sättigungsgrad fast wieder bei 100 Prozent und alle um ihn herum können sich entspannen. Samson Abay erteilt dem Personal der Nachtschicht Instruktionen und läuft mit müden Schritten zu seinem Haus zurück. In vier Stunden wird er wieder aufstehen müssen.

Als ich Samson Abay kennenlerne, hatte er nur ein paar Stunden geschlafen. Die Sonne steht hoch am Himmel, es ist warm in den Räumen des Krankenhauses. Herzfrequenzmonitore piepen im Hintergrund.

Berichte aus Eritrea handeln meist von Flüchtlingen, Repressionen und fehlender Pressefreiheit. Es gibt aber auch andere Geschichten. Geschichten, die selten über die Grenzen dieses kleinen Landes gelangen.

In den Warteräumen aller Abteilungen des Krankenhauses harren Familien darauf, Patienten zu besuchen. Im Hof um sie herum stehen die Obstbäume, von denen Personal und Patienten pflücken.

„Die meisten von denen, die medizinische Behandlung suchen, kommen mit unterschiedlichen Infektionen des Atemtraktes, mit Lungenentzündungen, einige mit Zahnbeschwerden. Aber zunehmend kommen auch Fälle mit hohem Blutdruck und Diabetes, sogenannte westliche Krankheiten”, sagt Samson Abay.

Lange Zeit war Eritrea das Land mit der höchsten Müttersterblichkeit weltweit. Mittlerweile konnte diese Rate um 75 Prozent gesenkt werden. Die Sterblichkeitsrate bei Kindern unter fünf Jahren verringerte sich um zwei Drittel. Sogar die Zahl der Fälle von Malaria reduzierte sich dramatisch.

„Mittlerweile kommen 93 Prozent aller Schwangeren dieser Region für Vorsorgeuntersuchungen ins Krankenhaus. Etwa die Hälfte von ihnen entscheidet sich aber immer noch, ihre Babys zu Hause zu bekommen”, sagt Samson Abay.

Ich dachte eine Weile nach und stimmte dann einer Krankenhausführung zu. Auf der einen Seite ist das genau die Art Geschichte, die die Regierung geschrieben haben möchte. Andererseits ist eine Besichtigung notwendig, um zu verstehen, was Regimefreunde verteidigen.

„Wir konnten die Säuglingssterblichkeit senken, aber die vorgeburtliche Sterberate bleibt unverändert. Sie ist so hoch wie vor 25 Jahren”, fährt Samson Abay fort. Mir fällt auf, dass er leicht hinkt.

Im Alter von vier Jahren stürzte er eine Treppe hinunter. Der behandelnde Doktor ließ ihn den Gips solange tragen, dass seine Beinmuskeln danach gelähmt waren.

Er öffnet die Türen zur pädiatrischen Abteilung, dahinter erstreckt sich eine Reihe mit etwa 10 leeren Betten. „Noch vor fünf Jahren war dieser Raum voller Babys. Durch unsere neue Arbeitsorganisation erreichen wir die Menschen in den Dörfern schon in frühen Stadien”, sagt er.

Die Säuglingssterblichkeit sinkt, aber die Rettung von Frühchen, die in den Dörfern zur Welt kommen, bleibt eine große Herausforderung. Das Krankenhaus ist für die Versorgung einer Region mit 800.000 Menschen zuständig. Jedes Jahr kommen hier 2.300 Kinder zur Welt.

Aufklärungsbuch über die Rettung von Frühchen

„Mehr von den Ressourcen müssen direkt in den Dörfern ankommen. Um die Sterblichkeitsraten zu senken, müssen wir vor Ort sein, um direkt dort zu helfen, wo die Babys zur Welt kommen. Wenn sie ins Krankenhaus kommen, kann es schon zu spät sein”, sagt Samson Abay.

Er hat über die Rettung frühgeborener Babys ein Aufklärungsbuch geschrieben. „Die Grundlagen sind Nahrung, Wärme und das Stillen. Darüber aufzuklären, kann die Mehrheit der Babys retten, die keine medizinisch-technische Versorgung benötigen.”
Die statistischen Daten verbesserten sich, weil viel mit den vorhandenen Ressourcen erreicht wurde.

„Wir können es uns nicht leisten, Millionen für Technologien auszugeben. Stattdessen setzen wir auf Aufklärung über die Behandlung. Die Mehrheit der Menschen in Eritrea stirbt nicht an Krebs oder in Autounfällen. Die Menschen sterben an einfachen und behandelbaren Krankheiten. Dem begegnet man am besten mit der Entwicklung unserer Gesellschaft. Hierzu gehört, den Zugang zu sauberem Wasser zu gewährleisten und Schulen zu bauen“, sagt Samson Abay.

In den nahegelegenen Dörfern unterrichtet er Freiwillige in der Behandlung von Durchfall, Lungenentzündung und Dehydrierung. Der letzte Malariafall wurde vor drei Jahren diagnostiziert. „Wir haben an diesen Killerkrankheiten gearbeitet.”

Obendrein will er Vorurteile über die moderne Medizin abbauen. „In Teilen Eritreas glauben die Menschen, dass kranke Kinder vom bösen Blick getroffen wurden. Und manche Menschen glauben, dass Kindern, die sich häufig übergeben, die Gaumenspalte aufgeschnitten werden muss.”

Manchmal nimmt das Krankenhaus Kinder auf, denen die Zähne gezogen wurden, weil ihre Verwandten glaubten, der Durchfall werde durch die Zähne verursacht.

„Aber so etwas geschieht immer seltener, je mehr das Bewusstsein wächst. Dabei haben Frauenorganisationen eine größere Bedeutung als Krankenhäuser”, sagt er.

Als 1998 der Krieg ausbrach, studierte Samson Abay gerade Medizin in Äthiopien. Kurz darauf erhielt er, wie 70.000 weitere Eritreer, die Ankündigung, dass er in sein Heimatland abgeschoben wird. Viele seiner Kollegen wurden buchstäblich aus laufenden Operationen abgezogen und zur Grenze geschickt, eine Busladung nach der anderen. „Ich versteckte mich, um meine Ausbildung beenden zu können. Meine kleine Körperstatur ließ die Leute denken, ich sei jünger, was für mich von Vorteil war.”

„Pure Propaganda“

Auf dem Krankenhausgelände wird in einem Klassenraum Mathematik unterrichtet. Wer länger in der Klinik bleiben muss, erhält neben der medizinischen Versorgung auch Unterricht. „Als ich hierherkam, wusste ich nichts. Jetzt habe ich schreiben und rechnen gelernt. Ich habe mein eigenes Handy und kann anrufen, wen immer ich will”, sagt die 28-jährige Fatima, die hier wegen einer Fistel behandelt wird.

Plötzlich fällt mir auf, dass Johan keine Bilder mehr macht. „Warum schießt du keine Fotos mehr?”, frage ich. „Wir können doch eine Szene wie diese nicht einbeziehen? Das ist die pure Propaganda!”, antwortet Johan.

„Es gibt hier eine Geschichte zu erzählen. Wie sie in die Reportage passt, werden wir sehen”, sage ich.

Nach dem Rundgang durch die verschiedenen Abteilungen des Krankenhauses setzen wir uns in den angenehmen Schatten eines Baumes in der Krankenhaus-Cafeteria.

Wir bekommen süßen Tee. Samson Abay holt sein iPad hervor, zeigt uns Bilder von Kindern, die er behandelt hat. Als ein Team der BBC vor kurzem Eritrea besuchte, war er auch derjenige, der sie durch das Krankenhaus führte.

„Nach dem Rundgang ging eine Reporterin um die Ecke herum und flüsterte in die Kamera, dass sich alles choreographiert anfühlte.” Er findet die Videoausschnitte auf seinem iPad, spielt sie uns vor. „Ich bin sehr enttäuscht. Das waren meine Patienten, die sie kennenlernte”, sagt er, schüttelt den Kopf und stoppt das Video. „Meine Patienten sind echt, dieses Krankenhaus ist echt.”

Jetzt zeigt sich sein Misstrauen gegenüber ausländischen Journalisten deutlich. „Wenn ich eine Mutter und ihr Kind treffe, die ich versorgt habe, und die beiden wissen, dass ich etwas bewirkt habe, dann kann die BBC über meine Arbeit sagen, was immer sie will”, schimpft er und stellt seine Teetasse ab.

Bevor er zu seiner Krankenhausabteilung zurückkehrt, schaut er noch einmal durch sein iPad. „Ich arbeite für mein Land, nicht für das Geld”, sagt er. „Wenn es ums Geld ginge, wäre ich ins Ausland gegangen. Warum versteht die BBC das nicht?”

Samson Abay erklärt, er habe sich entschieden, auf dem Krankenhausgelände zu wohnen, um nach den Kindern, die er behandelt, schauen zu können, um 20 Uhr, noch einmal um 22 Uhr und ein letztes Mal, bevor er um Mitternacht schlafen geht.

„Wir sind ein armes Land, das jahrzehntelang im Krieg war. Wir müssen tun, was wir können, mit dem, was wir haben. Viel Erfolg auf Ihrer Jagd nach Wahrheit”, sagt mir Samson Abay zum Abschied.


Autor Martin Schibbye arbeitet von Stockholm aus in der ganzen Welt. Während eines Einsatzes in Äthiopien im Jahr 2011 wurde er festgenommen und für 438 Tage ins Gefängnis gesteckt.

Autor Martin Schibbye arbeitet von Stockholm aus in der ganzen Welt. Während eines Einsatzes in Äthiopien im Jahr 2011 wurde er festgenommen und für 438 Tage ins Gefängnis gesteckt.

Fotograf Johan Persson, der alle beindruckenden Bilder in diesem Artikel gemacht hat, wurde zusammen mit Schibbye inhaftiert.

Fotograf Johan Persson, der alle beindruckenden Bilder in diesem Artikel gemacht hat, wurde zusammen mit Schibbye inhaftiert.

Das Blank Spot Project ist ein Online-Magazin für Reportagen und Berichte aus der ganzen Welt. Der Schwerpunkt liegt dabei auf Geschichten, die andere nicht aufgreifen. Als Martin Schibbye aus dem Gefängnis in Äthiopien freigelassen wurde, flüsterte ihm ein Mitgefangener zu: "Erzähle der Welt, was du gesehen hast."

Das Blank Spot Project ist ein Online-Magazin für Reportagen und Berichte aus der ganzen Welt. Der Schwerpunkt liegt dabei auf Geschichten, die andere nicht aufgreifen. Als Martin Schibbye aus dem Gefängnis in Äthiopien freigelassen wurde, flüsterte ihm ein Mitgefangener zu: “Erzähle der Welt, was du gesehen hast.”

Krautreporter kann diese Reportage auf Deutsch veröffentlichen, weil Dutzende von Mitgliedern und Lesern den Text aus dem Englischen übersetzt haben – viele von ihnen übernahmen gleich mehrere Seiten. Ganz herzlichen Dank dafür!

Die Übersetzer von Teil 2 sind:
Trixi Bücker, Dietmar Ehinger, Astrid Harris, Helge Holler, Andrea Kerker, Albrecht Köhler, Hung-min Krämer, Lea Lang, Sven Lüürsen, Steffanie Metzger, Stefanie Müller, Patrizia, Hanns-Jörg Rohwedder, Rico Schubert, Alexander Schumitz, Sebastian Schwäbe, Simon Trumpf, Lena Weiler, Kathrin Wilk, Alice Wolken.

Redaktion und Produktion: Vera Fröhlich.