Schalt die Angst aus und den Kopf ein
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Schalt die Angst aus und den Kopf ein

Würzburg, München, Reutlingen, Ansbach: Der Schrecken hat Deutschland erreicht. Ich entscheide mich trotzdem fürs Vertrauen.

Profilbild von Esther Göbel
Reporterin für Feminismus

Auf einmal war alles ganz nah. Die Angst, der Terror. Es war Freitagabend, 22. Juli, kurz vor 19 Uhr. Ein Sommerabend in Berlin, ich verabschiedete mich gerade von meinen Kollegen, mit denen ich im Biergarten nach einem langen Arbeitstag noch ein Radler getrunken hatte. Der Amoklauf von München, die Macheten-Attacke von Reutlingen, die Bombe von Ansbach: Noch waren diese Ereignisse keine Realität für mich. Im Gegenteil: Ich freute mich an diesem Freitagabend aufs Wochenende, wollte mit Freunden eine Ausstellung besuchen, am anderen Tag in der Sonne liegen.

Dann klingelte mein Telefon.

Am anderen Ende der Leitung: mein Freund, er lebt in München. Er erzählte mir, er laufe gerade zu Fuß durch die Innenstadt, auf dem Weg vom Büro nach Hause. Seine Wohnung liegt im Norden der Stadt, in der Nähe des Olympiaparks. Die öffentlichen Verkehrsmittel führen nicht mehr, sagte mein Freund, es habe wohl eine Schießerei gegeben, Verletzte, mehrere Tote.

Ich verstand nicht, was er sagte, obwohl ich seine Worte klar und deutlich hören konnte. Wie jetzt? Verletzte, Tote? Welche Schießerei?

Im nächsten Moment schoss mir der Terroranschlag von Paris in den Kopf, „mehrere Anschlagsorte in der Stadt“, „IS“, „dutzende Tote und Verletzte“ – in Sekundenschnelle waren die Schlagworte in meinem Gehirn angekommen. Ich ging von einem Terroranschlag aus, als wäre die Vermutung schon ein Fakt. Und ich merkte, wie ein tiefes Unwohlsein sich plötzlich in mir ausbreitete; wie schwarze Tinte, die man auf ein Blatt Papier kippt.

Ich versuchte, die spärlichen Infos, die ich hatte, zu einem Bild zu ordnen, das mir Orientierung bot in jenem Moment. Sicherheit. Wo genau war die Schießerei gewesen? Und wo genau war mein Freund?

Meine Vernunft hatte sich verabschiedet, ich war nur noch Emotion

Er sei gerade am Stachus, sagte der ins Telefon, in der Innenstadt also. Es habe eine Panik gegeben, er klang irritiert, aber ruhig und gefasst. Über ihm kreise ein Hubschrauber, überall rasten Polizeiautos an ihm vorbei, er höre Sirenen, die Menschen wirkten verängstigt und schauten alle auf ihr Smartphone oder telefonierten. Seine mobile Internetverbindung streike, ich solle im Netz nachschauen, was los sei. Man wisse noch nicht, ob nur ein Täter geschossen habe, ob noch welche auf der Flucht waren; ob ich irgendwas wisse zur aktuellen Lage, fragte er.

Ich wusste nichts. Die News von der Schießerei hatten mich noch nicht erreicht. Ich wusste nur: Auf einmal war sie da, die Angst. Und der potentielle Terror – nämlich am anderen Ende meines Telefons, als ich nach München telefonierte.

Ich bin kein Mensch, der zu Hysterie neigt, eher jemand, der immer versucht, sachlich zu argumentieren. Aber in diesem Moment hatte sich meine Vernunft verabschiedet. Ich war nur noch Emotion. Ich verstand es erst im Nachhinein, aber: Die Vernunft hat es schwer in diesen Zeiten. Nie war es leichter, sich emotional verführen zu lassen.

Zu meinem Freund sagte ich lauter als nötig ins Telefon, er solle schnurstracks zu seiner Wohnung laufen, ich selbst raste in der Zwischenzeit in Berlin auf meinem Rad heim, um dort die News zu überprüfen. Selten radelte ich so schnell. Atemlos kam ich zu Hause an, checkte die Nachrichtenlage, rief meinen Freund zurück, von dem in der Zwischenzeit ein Anruf in Abwesenheit eingegangen war. Mein Puls schlug mir bis zum Hals. Mein Freund hatte währenddessen seine Wohnung unversehrt erreicht, auch den anderen Bewohnern seiner WG, seinen Kollegen und Freunden in München ging es gut, soweit wir es nach ein, zwei Stunden an diesem Freitagabend wussten. Wir waren – Gott sein Dank – nicht direkt betroffen.

Und sind es am Ende doch.

Das Axt-Attentat von Würzburg, der Amoklauf von München, der Macheten-Vorfall in Reutlingen und zuletzt die Bombe von Ansbach, zu der sich der IS wie auch im Falle Würzburgs bekannt haben will: All das passierte innerhalb weniger Tage. Wir haben das Gefühl, die Welt gerät aus den Fugen. Schon dieser Satz sagt aus, was gerade passiert: Wir sind ganz viel Gefühl - und sehr wenig Vernunft. Wie ich selbst am Freitagabend, als ich mit meinem Freund telefonierte.

Die Tat in München hatte rein subjektive Motive, der Schütze stammte aus Deutschland. Die anderen drei Taten wurden von Flüchtlingen verübt. Und ich spüre, wie sich in mir ein Gefühl der Distanz ausbreitet, leise, aber hartnäckig. Wie ich mich im Stillen frage, wie labil oder stabil all die jungen Männer tatsächlich sind, die in den vergangenen Monaten aus Syrien, Afghanistan oder dem Irak nach Deutschland gekommen sind.

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Als ich mich am Samstag auf den Weg nach München machte, spürte ich eine Veränderung: Auf einmal blickte ich den arabisch aussehenden jungen Mann, der im Fernbus drei Reihen vor mir saß, anders an. Obwohl ich zu diesem Zeitpunkt schon wusste, dass die Schießerei am Olympia-Einkaufszentrum vom Abend zuvor kein islamistisch motivierter Terroranschlag gewesen war. Und doch: Auf einmal war da dieser Moment des Misstrauens, des Zögerns. Wieder krochen die Emotionen in mir hoch. Mir fällt seit diesem Wochenende auf, wie ich mich anders durch den öffentlichen Raum bewege. Wie ich nicht mehr gedankenverloren in der U-Bahn stehe, sondern eine mögliche Gefahrensituation auf einmal mit bedenke, wenn ich einsteige.

Ich schäme mich für meine Gedanken, denn sie sind schrecklich verallgemeinernd. Trotzdem aber sind sie da. Es ist leicht, sich jetzt diesem Gefühl eines voreiligen Misstrauens hinzugeben. Der Gedanke liegt nahe, dass wir uns an Ereignisse wie die genannten gewöhnen werden müssen. Sie verschieben unsere Wahrnehmung, schüren die Ängste, die jeder von uns in sich trägt – genau deswegen aber müssen wir uns gegen ein aufsteigendes Misstrauen wehren. Es reicht in diesen Zeiten nicht, die eigene Angst nur wahrzunehmen, sie als Emotion zuzulassen. Wir sollten an unseren Verstand, an Rationalität und Sachlichkeit appellieren. Und uns aktiver denn je für ein Gefühl von Vertrauen engagieren.

Es war der Soziologe Niklas Luhmann, der Vertrauen als „Reduktion von Komplexität“ definierte. Demnach vertrauen wir, um unsere chaotische, von Unsicherheiten geprägte Welt einfacher und übersichtlicher zu machen. Weil wir nicht jedes Wort zu jeder Zeit von jeder Person auf ihren Wahrheitsgehalt abtasten können. Deswegen gestalten wir uns die Welt ein Stück einfacher, indem wir Vertrauen im Voraus schenken.

Ohne Vertrauen geht es nicht, dafür brauchen wir heute unsere Vernunft

Was aber passiert, wenn in einer immer komplexer werdenden Welt die Fähigkeit zur „Reduktion von Komplexität“ verloren geht und wir uns stattdessen in Gefühlen wie Angst und Unsicherheit verzetteln? Wenn also, kurz gesagt, der seinerseits hoch komplexe Vorgang der Vertrauensbildung nicht mehr ausreichend stattfindet?

Dann bricht eine Gesellschaft auseinander. Ohne Vertrauen geht es nicht, ohne dieses Gefühl kommen und bleiben Menschen nicht zusammen. Weder im Kleinen noch im Großen.

Vertrauen zu bewahren, fällt heute, nach dem vergangenen Wochenende, nicht leicht. Es ist sogar harte Arbeit. „Kein Vormarsch ist so schwer wie der zurück zur Vernunft”, sagte Bertold Brecht. Das gilt vor allem für unsere heutige Zeit. Eben, weil die Dinge so komplex sind, sich die Nachrichtenspirale schneller dreht denn je und wir mittlerweile im Tagestakt mit Schreckensereignissen konfrontiert werden.

Die Sozialpsychologie kennt den sogenannten Halo-Effekt (von englisch halo für Heiligenschein): Von bekannten Eigenschaften einer Person schließt unser Gehirn blitzschnell Rückschlüsse auf andere Eigenschaften der Person. Das funktioniert sowohl im Positiven als auch im Negativen. Der Nachbar beispielsweise spielt doch so lieb mit den Kindern; bestimmt ist er vertrauenswürdig. Die Kollegin aus der anderen Abteilung grüßt immer so wohl gelaunt; bestimmt ist sie ein positiver Mensch. Der junge Mann drei Reihen vor mir im Fernbus sieht aus als käme er aus einem arabischen Land; bestimmt ist er ein Flüchtling aus Syrien, labil und traumatisiert, also eine Gefahr.

So schnell entstehen Mutmaßungen. Oft sogar, ohne dass wir es merken. Vernünftig zu sein bedeutet, diese Muster zu hinterfragen. Das ist anstrengender als sich nur von seinen Emotionen leiten zu lassen, sozusagen der „längere Weg“. Aber der richtigere.

Deswegen sind jetzt zwei Dinge wichtig: Sich erstens trotz der Geschehnisse in Würzburg/München/Reutlingen und Ansbach immer wieder zur eigenen Vernunft aufzurufen und zur ruhigen Analyse. Zweitens: sich noch mehr als vorher aktiv zu engagieren. Mit Flüchtlingen zu sprechen, ein Gegenwort einzulegen, wenn ein Freund oder jemand aus der Familie einen Generalverdacht gegen Muslime ausspricht, jene Organisationen zu unterstützen, die sich aktiv gegen eine Polarisierung der öffentlichen Stimmung einsetzen (wie die Münchner Moscheen beispielsweise, die am Freitagabend ihre Türen für Schutzsuchende öffneten). Denn all diese Aktionen bringen Vertrauen zurück.

Der Polizeisprecher von München, Martin da Gloria Martins, wird gerade von vielen Menschen, auch von vielen Medien, als Held gefeiert. Weil er Freitagnacht und am vergangenen Wochenende die Ruhe bewahrte in einer unübersichtlichen Situation. Er ließ sich nicht fehlleiten oder hinreißen zu Mutmaßungen, auch nicht von all den Medienanfragen. Stattdessen blieb er sachlich und so rational wie die Situation es zuließ. Dies ist, zugegeben, sein Job. Doch, ebenfalls zugegeben, hätten viele das wohl nicht geschafft, wären sie in da Gloria Martins’ Situation gewesen. Deswegen macht er deutlich, was in unserer Zeit einer immer stärkeren Emotionalisierung von Sachverhalten gern mal vergessen wird: Der Mensch ist mehr als sein Gefühl. Daran und an unsere Rationalität sollten wir uns jetzt erinnern.


Aufmacherbild: Münchner Olympia-Einkaufszentrum; Foto: Google earth; Redaktion: Sebastian Esser; Produktion: Vera Fröhlich.