Autobahn, Ikea, Mülldeponie: Dort, wo Wien Richtung Umland ausfranst, verliert die Stadt ihr Gesicht. Es gleicht den Rändern deutscher Großstädte. Doch hier gibt es etwas, das es nirgendwo in Deutschland gibt: eine legale Cannabisplantage. Hier wächst das „Gras“, das Tausenden deutschen Krebspatienten und Sterbenskranken das Leiden lindert.
Überwacht von Videokameras, gesichert durch hohe Zäune baut die staatliche Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit (AGES) in Wien Medizinalhanf für die Herstellung von Arzneien an. „Wir sind die Hanfbauern“, sagt der Pressesprecher Roland Achatz. Auftraggeber ist das Pharmaunternehmen Bionorica aus der Oberpfalz, das aus den getrockneten Blüten den reinen Wirkstoff Dronabinol gewinnt, das vor allem schwerkranken Patienten die Schmerzen lindern kann.
Der streng geregelte Anbau von THC-haltigem Hanf ist in Österreich schon seit 2008 gestattet, während er in Deutschland illegal ist. Deutsche Patienten, Apotheken, Pharmaunternehmen und Forscher importieren ihr Hanf deswegen aus Österreich und den Niederlanden. Das will die Bundesregierung jetzt ändern. Der Bundestag berät derzeit über deren Gesetzesentwurf. (Update: Am 19. Januar 2017 hat er ihn angenommen.)
Schon jetzt gibt es Medikamente, die Cannabis nutzen
Der Mittelständler Bionorica ist spezialisiert auf pflanzliche Arzneimittel und stellt unter anderem das Schnupfenmittel Sinupret her. Früher hat die Firma die Cannabisblüten aus den Niederlanden bezogen, doch die österreichische AGES liefert Cannabis mit deutlich höherem THC-Gehalt. Schon lange investiert Bionorica viel Geld und Anstrengung in die Entwicklung von Cannabis als Medizin; der Antrag auf Zulassung eines Cannabismedikaments läuft trotz Rückschlägen weiter. In Deutschland ist Sativex vom britischen Hersteller GW die einzige zugelassene Fertigarznei auf Cannabisbasis. Vorgesehen ist es für einen sehr engen Kreis von Patienten: Multiple-Sklerose-Kranke mit schweren Spastiken. Rund 22.000 Mal wurde Sativex laut Bundesregierung im Jahr 2015 verordnet. Der Wirkstoff Dronabinol, auf den Bionorica setzt, muss hingegen in den Apotheken noch zu einer Arznei zusammengemischt werden. Dronabinol gilt nicht als Arzneimittel, sondern als Betäubungsmittel. Deswegen ist eine Kostenerstattung durch die Krankenkassen nur schwer möglich.
Das alte Naturheilmittel Cannabis verspricht gute medizinische Effekte. „Das Wirkspektrum von Cannabis ist relativ groß: Es kann anti-spastisch, gegen Übelkeit, appetitsteigernd und auch gegen Schmerz wirken“, sagt Holger Rönitz von der Firma THC Pharm, die schon seit 1996 daran arbeitet Cannabis in der Medizin einzusetzen. Interessant sind Cannabinoide auch im Einsatz gegen Nebenwirkungen einer Chemotherapie. Am wichtigsten ist es aber für Schmerzpatienten in Palliativmedizin.
„Für die Palliativmedizin ist es interessant, weil es eine ganze Reihe von Problemen abdeckt, die teilweise auch durch andere Medikamente mithervorgerufen werden: Übelkeit, Erbrechen, Appetitlosigkeit und auch die antidepressive Wirkung ist etwas, was man beim Palliativpatienten ganz gerne hat,“ sagt Rönitz. „Dann hat man auch den Effekt, dass man zu dem eh schon umfangreichen Medikamentenmix nicht noch fünf weitere Präparate dazugeben muss.“
Nach der Liberalisierung soll eine Cannabisagentur in Deutschland entstehen
Der Gesetzesentwurf der Bundesregierung sieht vor, dass in Zukunft Cannabisblüten, -extrakte und -arzneimittel „verkehrs- und verschreibungsfähig“ sind. Damit entfällt der Canossagang für eine Ausnahmeerlaubnis, allerdings müssen Patienten weiterhin die Kostenübernahme bei der Krankenkasse vorab beantragen. Beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte soll eine Cannabisagentur nach niederländischem Vorbild geschaffen werden. Diese wird dann erstmals auch Aufträge zum legalen Anbau von Medizinalhanf vergeben. Schon jetzt gibt es viele Interessenten. „Für Bionorica könnte es interessant sein, wenn wir in Deutschland selbst unsere Hochleistungsklone für unsere Produkte auf Cannabisbasis anbauen könnten. Wir schließen daher nicht aus, dass wir uns um eine Anbaulizenz bei der Cannabisagentur bewerben“, sagt Jürgen Hoffmeister von Bionorica.
Ausdrückliches Ziel der Bundesregierung ist es, dass der Selbstanbau von Cannabis auch weiterhin verboten bleibt. Ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts in Leipzig hat wohl das Gesetz ein wenig beschleunigt. Ein schwerkranker Multiple-Sklerose-Patient hatte erfolgreich geklagt, selbst Cannabis anbauen zu dürfen, da er sich trotz Ausnahmegenehmigung das medizinische Cannabis aus der Apotheke nicht leisten konnte. Die Krankenkasse übernimmt die Kosten von ca. 600 Euro monatlich nicht. Doch statt den Selbstanbau zu erlauben, will die Regierung in Zukunft die Kassen zur Kostenübernahme zwingen. Einmal mehr hat damit eine oberste Instanz (wie schon 2005) die Cannabis-Liberalisierung vorangetrieben und die Bundesregierung zur Reaktion gezwungen. Denn: Die Menschenwürde ist wichtiger als ein Drogenverbot.
Die Lobbyisten vom Hanfverband begrüßen zwar das Gesetz, kritisieren aber, dass Patienten nicht selbst anbauen dürfen. Der Gesetzesentwurf sieht zudem eine wissenschaftliche Begleiterhebung vor, an der alle Patienten teilnehmen müssen, deren Kosten von der Krankenkasse übernommen werden. Maximilian Plenert vom Hanfverband sagt: „Der Zwang, für die Kostenerstattung an einer Begleiterhebung teilzunehmen, ist ethisch höchst fragwürdig. Wir fordern ein vernünftiges staatliches Forschungsprojekt zu Cannabis als Medizin.“
Einige Fragen sind aber noch ungeklärt. Die Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände erklärt: „Wir werden Qualitätsanforderungen definieren und auch Empfehlungen zu Darreichungsformen erarbeiten“, sagt Andreas Kiefer, Präsident der Bundesapothekerkammer. „Cannabis als ‚Joint‘ zu rauchen – egal ob zusammen mit Tabak oder alleine – ist zur Krankheitsbehandlung aus Apothekersicht nicht akzeptabel.“
Für Patienten wird es viel einfacher werden, an Cannabis-Medikamente zu kommen
Schon bisher konnten Deutsche unter schwer durchschaubaren Bedingungen medizinisches Cannabis verwenden. Genau 779 Patienten und Patientinnen verfügen momentan über eine Ausnahmegenehmigung der Bundesopiumstelle. Eine solche Erlaubnis erteilt sie nur, wenn es keine Alternativen gibt. In erster Linie erhalten Schmerzpatienten diese Genehmigungen, aber auch Menschen, die unter ADHS, Depressionen oder schwerer Appetitlosigkeit leiden. Doch gerade für die, die es am dringendsten bräuchten, ist eine solche bürokratische Hürde unzumutbar: Schwerstkranke, Schmerzpatienten und Todkranke.
Während das Cannabis zur Weiterverarbeitung aus Österreich kommt, werden die Cannabisblüten zum Direktkonsum aus den Niederlanden importiert. Im Auftrag der staatlichen niederländischen Cannabisagentur produziert Bedrocan mehr als eine Tonne medizinisches Marihuana jährlich, wobei die die Firma ihre Kapazität gerade auf 2,75 Tonnen ausgebaut hat. Bisher geht mit rund 100 Kilogramm nur ein geringer Teil nach Deutschland, aber das könnte sich mit der Reform ändern. Davon geht selbst die Bundesregierung in der begleitenden Begründung des Gesetzesentwurfs aus. „Bis der staatlich kontrollierte Anbau von Medizinalcannabis in Deutschland erfolgen kann, wird die Versorgung mit Medizinalhanf weiterhin über Importe gedeckt werden“, erklärt das Bundesgesundheitsministerium.
Bisher mussten die Schwerkranken die Therapie selbst bezahlen: Mit 15 bis 20 Euro pro Gramm ist das medizinische Marihuana deutlich teurer als das Gras, dass man in deutschen Parks illegal kaufen kann. Am Schwarzmarkt kostet ein Gramm rund 10 Euro. Aber: Man kann legales und illegales Marihuana nicht miteinander vergleichen. Das Gras vom Schwarzmarkt wird unter obskuren Bedingungen gezüchtet, die Qualität schwankt, oft ist es mit Schwermetallen oder Schimmel belastet und der THC-Gehalt ist viel niedriger. Medizinisches Cannabis wird unter streng kontrollierten Bedingungen angebaut und muss eine gleichbleibende und standardisierte Qualität besitzen.
Hanf ist eine Kulturpflanze mit Tradition, aber der Anbau erfolgt trotzdem unter Laborbedingungen
In Wien bei der AGES ist man sich der Verantwortung bewusst. Während Bauern seit Tausenden Jahren Industriehanf auf ihren Feldern anbauen, läuft die Produktion von Medizinalhanf wie in einem datengetriebenen Labor ab.
„Der Hanf ist eine jahrtausendealte Kulturpflanze und viele wissen, wie der zu kultivieren ist“, sagt Bernhard Föger, der Versuchsleiter der AGES. „Aber wir beschäftigen uns mit der High-End-Produktion, wo es um Kleinigkeiten geht. Da tut sich extrem viel.“ Gemeinsam mit dem Auftraggeber werden alle Faktoren akribisch festgelegt und überwacht: Lichtmenge, Temperatur, Substrat, Dünger, pH-Wert, Lüftung, Wassermenge, Einsatz von Nützlingen sowie der Abstand der Pflanzen. „Für den Pflanzenbauer ist es eines der interessantesten Projekte, weil man sonst nie so einen hohen Anspruch im Detail hat. Wir werden immer akribischer“, sagt Föger. „Aber im Prinzip ist es dann auch wieder nur Pflanzenbau.“
Manchmal schwappt der süßlich-stechende Geruch des blühenden Hanfs hinüber in die Gärten der Einfamilienhaussiedlung, wo er sich mit dem Chlorduft der Swimming Pools mischt. Die Sicherheitsvorkehrungen in dem 3.000 Quadratmeter großen Gewächshaus sind streng. Jede eingegangene Pflanze muss gemeldet werden, alle Ernteabfälle werden mit heißem Dampf thermisch vernichtet. „So dass nicht irgendwer auf die Idee kommt, dass er bei uns im Biomüll herumsucht“, sagt Föger. Geheim bleiben die Erntemenge, die Zahl der Pflanzen, der Preis und auch Details über die Anbaumethode. Neben dem Geschäftsgeheimnis hat man bei der AGES auch die Sorge, Hobbygärtnern eine Anleitung zu liefern. Auch für mich als Journalist bleibt die Tür zu den Gewächshäusern zu. Ich muss mich auf Fotos, Videos und Beschreibungen verlassen.
Wenn der Bundestag das Gesetz beschließt, wird Bewegung in der Markt mit Medizinalcannabis kommen. Pflanzenzüchter sind in den Startlöchern, große Pharmaunternehmen aus Großbritannien, Kanada und den USA werden nach Deutschland drängen. Aber auch das Kleinunternehmen THC Pharm hofft, nach 20 Jahren die Früchte seiner Arbeit ernten zu können. „Es ermöglicht einer größeren Zahl von Patienten tatsächlich Cannabinoiden von der gesetzlichen Krankenversicherung erstattet zu bekommen. Das bedeutet für uns auch dringend notwendige Planungssicherheit um Dronabinol und Extrakte in der nötigen Menge herstellen zu können, was sich dann auch positiv auf die Kosten für die Allgemeinheit auswirken wird”, glaubt Rönitz.
Glossar
Cannabis, Marihuana, Hanf, Gras:
Cannabis ist der wissenschaftliche Name für Hanf und wird umgangssprachlich auch für Pflanzenteile und Produkte benutzt, insbesondere für Marihuana oder Gras (Blüten der weiblichen Pflanze) und Haschisch (Harz). Während der Anbau von Faserhanf mit geringem THC-Gehalt erlaubt ist, darf in Deutschland Medizinalhanf nicht angebaut werden. Wer Gras als (illegales) Rauschmittel konsumieren will, raucht in der Regel die getrocknete Blüte gemischt mit Tabak als Joint.
Dronabinol, Tetrahydrocannabinol (THC):
Dronabinol, oder Tetrahydrocannabinol, ist der psychotrope, berauschende Hauptwirkstoff der Cannabis-Pflanze, der auch high macht. Dronabinol lässt sich in verschiedenen Verfahren aus Hanf gewinnen: beispielsweise als aufgereinigter Extrakt oder in halb-synthetisch Herstellung aus Faserhanf. In Deutschland stellen Bionorica und THC Pharm Dronabinol her. In Apotheken wird der Reinstoff Dronabinol zu Kapseln oder Lösungen patientengerecht weiterverarbeitet. Derzeit nehmen 3.000 bis 5.000 Patienten laut der Firma THC Pharm Dronabinol.
Cannabidiol (CBD):
Zweiter wichtiger Wirkstoff in der Hanfpflanze, der ähnlich wie Dronabinol gewonnen werden kann. Wird beispielsweise zur Behandlung von frühkindlicher Epilepsie hergestellt. Im Gegensatz zu THC ist CBD nicht berauschend.
Sativex
Das einzige Fertigarzneimittel auf Cannabis-Basis, das derzeit in Deutschland zugelassen ist.
Cannabinoid
In der Hanfpflanze kommen natürlich über 70 Cannabinoide vor, wovon THC und CBD die bekanntesten sind (Quelle). Während diese beiden relativ gut erforscht sind, weiß man über die Wirkung der anderen Cannabinoide relativ wenig. Ein Entourage-Effekt, also das Zusammenwirken der unterschiedlichen Stoffe im Cannabis, wird vermutet, ist aber noch unzureichend erforscht.
Aufmacherbild: Blühender Hanf kurz vor der Ernte in den Gewächshäusern der AGES in Wien. ©-AGES.