Auch wir müssen uns entscheiden
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Kommentar: Auch wir müssen uns entscheiden

Der weltoffene Teil der Gesellschaft war viel zu lange zu gleichgültig und opportun, das hat den Brexit befördert. Um etwas Ähnliches in Zukunft zu verhindern, müssen wir selbst uns für eine Seite entscheiden – und kämpfen.

Profilbild von Kommentar von Sebastian Esser

Großbritannien hatte die Wahl. Zur Abstimmung stand zwar die Mitgliedschaft in der Europäischen Union. Aber die Kampagne hat noch einmal klarer als je zuvor die grundsätzlichen Gegensätze hervorgebracht, die überall in der westlichen Welt entstanden sind. In Deutschland und den meisten anderen EU-Ländern geht es nicht um einen EU-Austritt. Aber auch sie sind mit den gleichen Gegensätzen konfrontiert, auch sie müssen sich entscheiden, auf welcher Seite eines neuen politischen Graben sie stehen wollen.

Zwei neue Lager ersetzen die alte Aufteilung in links und rechts, in konservativ gegen sozialdemokratisch, in Umverteilung gegen Leistung. Anstelle des Konsenses der Mitte, der seit dem “Dritten Weg” der Neunzigerjahre die Politik in Amerika und Europa dominierte, bilden sich neue Gegensätze, die schwer zu vereinbaren sind. Es geht nun auch bei uns um Offenheit gegen Abschottung.

Gestern haben die Abschotter gewonnen. Wie in Großbritannien sind sie überall älter, wohnen häufiger auf dem Land als in der Stadt und lehnen zusätzliche Einwanderung ab. Sie haben im Schnitt einen niedrigeren Bildungsgrad und gehören eher zu den Verlierern der wirtschaftlichen Globalisierung. Sie misstrauen dem politischen Establishement und den Medien und fühlen ihre Meinung nicht ausreichend repräsentiert. Sie sind gegen weitere europäische Integration und Freihandel, gegen gleiche Rechte für Homosexuelle. Sie wollen zurück in eine übersichtlichere Welt, in der nationale Grenzen und klare politische Verantwortlichkeiten noch etwas galten.

Wähler, die Multikulturalismus, Feminismus, Umweltschutz, Globalisierung und Einwanderung gut finden, stimmten in großer Mehrheit für einen Verbleib in der EU. Die all das schlecht finden, stimmten dagegen.

Wähler, die Multikulturalismus, Feminismus, Umweltschutz, Globalisierung und Einwanderung gut finden, stimmten in großer Mehrheit für einen Verbleib in der EU. Die all das schlecht finden, stimmten dagegen. Illustration: Lord Ashcroft Polls

Die Weltoffenen sind jünger, urbaner und begrüßen Einwanderung grundsätzlich. Sie sind formal besser gebildet, unterhalten sich bereitwillig in unterschiedlichen Sprachen und kommen gut zurecht in der Online- und Easyjet-Gesellschaft. Sie wählen pragmatisch und parteipolitisch ungebunden. Sie sind für die Emanzipation, für LGBT-Rechte und haben kein Problem mit den Regeln der Politischen Korrektheit. Sie sind überzeugt, dass “Wir schaffen das!” ein guter Slogan in der Flüchtlingskrise ist. Sie wollen die Chancen der Globalisierung nutzen. Sie sind in der Welt zu Hause, statt es sich hinter nationalen Mauern bequem zu machen.

Solche und solche gibt es überall in den politischen Lagern, in allen Parteien, auch in Deutschland. Bei der CDU gibt es natürlich viele Abschotter – repräsentiert durch den Zwergenaufstand der CSU –, aber auch viel Weltoffene. Bei der SPD wünschen sich viele Wähler weniger Einwanderung, weniger Freihandel und sind häufig überdurchschnittlich Europa-skeptisch. In der liberalen FDP wollen viele die Zahl der Flüchtlinge begrenzen. Bei der Linken sind die Abschotter wohl sogar in der Mehrheit, können sich aber nicht durchsetzen. Diese Parteien sind innerlich zerrissen. Ihr traditioneller Zuschnitt kann ihre inneren Konflikte nicht mehr überdecken. Die innerlich zerrissenen Parteien sind nicht bereit, sich klar zu positionieren, um den Abschotter-Anteil ihrer Wählerschaft nicht zu verprellen. Wer sich so halbherzig für eine offenen Welt einsetzt wie Premierminister Cameron oder Labour-Chef Corbyn, ist nicht überzeugend. Cameron und Corbyn zeigen, wohin ein Mangel poltischen Mutes führen kann. Sie wollten sich nicht entscheiden – und müssen jetzt mit dem fertig werden, was sich lange andeutete im Vereinigten Königreich, aber durch den Brexit offensichtlich wird: die Spaltung ihrer Gesellschaft.

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Ganz bei sich sind die (relativ) neuen Parteien Grüne und AfD. Bei den postmaterialistischen Grünen gibt es nur wenige Abschotter, bei der AfD inzwischen überhaupt keine Weltoffenen mehr. Beide haben nur wenige Konflikte zu überschminken, sie gewinnen spektakulär Wähleranteile hinzu. Ein Bundestag, in dem sich Grüne und AfD als größte Fraktionen gegenübersitzen scheint heute zwar völlig undenkbar. Im Stuttgarter Landtag ist es aber schon fast soweit.

Noch ist die Mehrheit für die Weltoffenen klar: Fast der gesamte Bundestag besteht aus Abgeordneten, die den Asylkurs der weltoffenen CDU-Kanzlerin unterstützen, selbstverständlich für europäische Integration eintreten und den Aufstieg der AfD für ein vorübergehendes Phänomen halten. Anderswo in Europa und in Amerika – In Polen, Ungarn, nun in Großbritannien – schaffen es die Abschotter als nationalistische Populisten in Regierungsämter oder gewinnen Referenden. In Frankreich, Österreich, Italien und in den Vereinigten Staaten ist eine Regierungsbeteiligung in greifbarer Nähe. In Deutschland, den Niederlanden, Skandinavien gewinnen sie stetig hinzu.

Die Weltoffenen waren zu gleichgültig

Durch das Brexit-Referendum haben sich die beiden großen Schwächen der Weltoffenen gezeigt: Gleichgültigkeit und Opportunismus. Wer nicht will, dass sein Land sich mit sehr knapper Mehrheit gegen die friedensstiftende Nachkriegsordnung Europas ausspricht, auseinanderzubrechen droht und seine Grenzen schließt, der muss kämpfen. Gerade bei jungen Wählern, die sich in großer Mehrheit gegen den Brexit positionierten, war die Wahlbeteiligung aber niedriger als bei den Älteren. Links-liberale Medien wie der Guardian waren sehr zurückhaltend in ihrer Berichterstattung. Die Weltoffenen waren ganz offensichtlich zu gleichgültig, um sich für ihre Überzeugungen ins Zeug zu legen.

In Deutschland lässt sich beobachten, wie Opportunismus und Angst vor Klarheit dazu führt, dass die Weltoffenen schlechter dastehen, als sie müssten. Sigmar Gabriel ist gleichzeitig für und gegen Zuwanderung, für und gegen das Freihandelsabkommen mit Amerika, für und gegen Handel mit Staaten wie Saudi Arabien, Russland und Ägypten. Die CSU ist gegen die Regierung, stellt aber Minister. Die Linke ist für Flüchtlinge, aber manchmal auch gegen sie.

Diese Konflikte befinden sich im Moment noch unter der Oberfläche. Viele von uns sind sich ihren inneren Widersprüchen in politischen Fragen unserer Zeit gar nicht bewusst. Ein Beispiel: In Deutschland gibt es Massenproteste gegen TTIP. Zu den Gegnern des Freihandelsabkommens gehören viele Linke, die sich sonst zum Lager der Weltoffenen zählen. Auch sie müssen sich entscheiden: Sind sie grundsätzlich gegen freien Handel? Dann passt das zwar in die Linke der 70er-Jahre, aber nicht ins Lager der Weltoffenen – die Linken gehören dann zu den Abschottern dieser Welt. Oder sind sie grundsätzlich einverstanden und es geht um die Details der Ausgestaltung? Dann müssen sie das deutlich und offen sagen, auch wenn es Unterstützung im linken Lager der Abschotter kostet.

Dazu ist den Briten zu gratulieren: Sie hatten den Mut, Klarheit zu schaffen. Wir selbst brauchen auch mehr Klarheit. Wir müssen uns mit den eigenen Widersprüchen auseinandersetzen und unsere politischen Selbstgewissheiten dieser Zeit anpassen. Auch wir müssen uns entscheiden. Sonst gewinnen die anderen.