In Europa geht es immer um die Wurst. Um den Frieden, den Wohlstand, unsere Zukunft. Die „Krise“ ist seit ihrer Gründung wichtigste Vokabel zur Beschreibung der EU. Gleich übermorgen droht die Katastrophe, wenn nicht dies und das passiert. Diese hysterische Art zu argumentieren entsteht weniger aus einem tatsächlich kurz bevorstehenden völligen Zusammenbruch, sondern eher aus politischem Kalkül: Wer widerspricht schon, wenn ALLES auf dem Spiel steht?
Vor dem Brexit war es wieder so weit. „Bitte geht nicht”, fleht der Spiegel in englischer Sprache, warnt vor einer „Katastrophe für uns alle” und versucht unter dem Hashtag #pleasedontgo vergeblich eine Social-Media-Kampagne zu starten. „Die EU braucht die Briten”, glaubt die FAZ. Zeit Online ergänzt sein Logo um ein Herzchen und den Union Jack.
So viel Liebe! Leider aber basiert diese nicht auf Gegenseitigkeit. Die deutschen Medien wirkten wie ein treudummer Ehemann, der einfach nicht wahrhaben will, dass seine Ehe, die von Anfang an eine Zweckverbindung war, am Ende ist.
Tatsächlich gibt es gute Gründe, das Vereinigte Königreich ziehen zu lassen:
1. Die meisten Briten fühlen sich nicht als Europäer
Europa ist für die Leute in fast allen Mitgliedsländern mehr als ein guter Deal, es ist eine Herzensangelegenheit. Grenzen zu überqueren sie, ohne nachzudenken, Freundschaften unterhalten sie in ganz Europa, sie leben mal in Barcelona, mal in Krakau, mal in Amsterdam. Natürlich fühlen sie sich zuerst als Niederländer, Slowenen oder Portugiesen, aber eben auch als Europäer. Europäische Identität, so etwas gibt es tatsächlich.
Auch in Großbritannien gibt es Menschen, die sich als Europäer fühlen. Aber sie sind – anders als in fast allen anderen europäischen Ländern – in der klaren Minderheit. Zwei Drittel der Briten definieren ihre Identität in keiner Weise als europäisch, sondern ausschließlich als britisch. Nur 29 Prozent geben an, sich sowohl als Bürger ihres Landes als auch als Europäer zu fühlen. In Deutschland sind es 58 Prozent, im EU-Schnitt 51 Prozent.
All das macht klar, dass für die große Mehrheit der Briten die Mitgliedschaft in der Union eine reine Kosten-Nutzen-Rechnung ist. Was zahlen wir ein, was bekommen wir dafür? Politologen messen zwar seit Langem, dass solche rationalen Abwägungen in allen Mitgliedsstaaten eine entscheidende Rolle spielen – je mehr ein Land profitiert, desto beliebter ist die EU. Aber zum Hirn kommt überall in Europa noch das Herz. Mit Ausnahme von Großbritannien.
Die Gründe liegen in der Geschichte. Über Jahrhunderte musste der einzig legitime Souverän, das britische Volk, repräsentiert durch das Parlament in Westminster, den Herrschenden Kompetenzen und Zustimmungsrechte abringen. Die Beschränkung der Macht des Königs ist darum auch heute noch das Ziel und die Pflicht eines jedes aufrechten Demokraten. Nur trotzen britische Patrioten nicht mehr dem König, sondern dem Europäischen „Superstaat”, wie die EU dort genannt wird.
Außerdem haben Briten ihre Identität immer in Abgrenzung zum Kontinent definiert. Brite sein heißt mindestens: anders sein als die Kontinental-Europäer. Auch die Sonderrolle des Vereinigten Königreichs als Sieger des Zweiten Weltkriegs, als Retter des Kontinents, hat Folgen. Die meisten europäischen Staaten, nicht nur Deutschland, erinnern sich an 1945 als großen Bruch ihrer Geschichte.
Die EU ist eine gemeinsame Lehre aus dem Trauma des Krieges. Nur in Großbritannien verfängt dieser Gründungsmythos der EU nicht. Noch heute ist in der kollektiven Erinnerung die nationale Leistung, Hitler-Deutschland mit Durchhaltevermögen und Opferbereitschaft niedergerungen zu haben, wichtiger als die erlittenen Verluste. Die Briten sehen sich als Sieger, die anderen Europäer sehen sich als Opfer.
Identität, Kultur, Geschichte: Das alles passt in Großbritannien schlecht zu einer Europäischen Union, die mehr sein will als ein loser Staatenbund. Absolute parlamentarische Souveränität, das wichtigste britische Verfassungsprinzip, widerspricht dem europäischen Grundprinzip, dass EU-Gesetzgebung mächtiger ist als nationale. Großbritannien müsste sich sehr ändern, um diesen Widerspruch aufzulösen. Nur eine Minderheit der Briten war in den vergangenen Jahrzehnten dazu bereit.
Also regiert der Opportunismus, solange die Vorteile einer EU-Mitgliedschaft überwiegen. Wenn man Europa so kühl betrachtet wie auf der Insel, ist es folgerichtig, einer Union den Rücken zu kehren, die es nach einer Finanz-, Schulden- und Währungskrise gerade schwer hat. Eine rationale, logische Entscheidung. Man könnte – vom Kontinent aus betrachtet – allerdings finden: eine unsolidarische. Die Briten gehen, wenn es schwierig wird. Stattdessen überschütten deutsche Zeitungen die Insel mit flehender Liebe. So, als ob es nicht ein unbezahlbares Privileg wäre, sondern eine Bürde, Teil dieser Union zu sein, in die Staaten wie die Türkei, die Ukraine, Georgien oder Serbien all ihre Hoffnungen setzen. Es ist einigermaßen würdelos.
2. Die britische Regierung ist nationalistisch und fremdenfeindlich
Die Angst vor den neuen Rechten geht um in Europa. Überall in der EU verschaffen sich Leute Gehör, denen Weltoffenheit und Liberalität zuwider sind, die eine Zukunft in der Vergangenheit suchen, im Nationalstaat und hinter geschlossenen Grenzen.
Großbritannien ist da weiter: Hier regiert eine solche Partei mit absoluter Mehrheit. Es fällt gar nicht auf, dass die Regierung in London mehr oder weniger die Politik macht, die sich der stets in englischem Tweed gewandete AfD-Vordenker Gauland so ähnlich auch für Deutschland vorstellen würden. Premierminister David Cameron gewann seine erste Wahl hauptsächlich mit dem Versprechen, die Zuwanderung stark zu begrenzen. Eilig führte er seine Tories heraus aus der Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP) im Europäischen Parlament, zu der auch die CDU gehört, und hinein in die „Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer”, einer Ansammlung von Nationalkonservativen, EU-Kritikern und Rechtspopulististen – zwischenzeitlich auch der AfD. Gesamtzahl syrischer Flüchtlinge, die Großbritannien im vergangenen Jahr aufgenommen hat: etwa 3.000.
Cameron ist durch und durch Politiker, er ist kein Staatsmann. Die Zukunft seines Landes ordnet er taktischen Spielzügen unter. Seine Leistung ist es, dass man in Großbritannien selbst seine Führungsschwäche nicht erkennt. Aus Opportunismus und Macht-Kalkül machte er anti-europäischen Populismus zur Regierungspolitik. Die britische EU-Feindlichkeit ist in wesentlichen Teilen machtpolitisch motiviert und mit der Krise des Parteiensystem zu erklären. Um seine eigene, EU-hassende Partei im Zaum zu halten, die getrieben ist von der national-radikalen UKIP-Partei, musste er das Brexit-Referendum ansetzen. Nach all dem versucht er nun, glaubwürdig für einen Verbleib Großbritanniens zu werben. Kein Wunder, dass das nicht klappt.
Camerons wichtigster Konkurrent ist sein Parteifreund Boris Johnson, der für den Brexit wirbt. Barack Obama unterstellte er, wegen seiner „teil-kenianischen” Abstammung ein Gegner Großbritanniens zu sein. Selbst Marine Le Pen wären solche Klischees aus der Kolonialzeit wohl zu rassistisch. Das Selbstbewusstsein der britischen politischen Elite ist ohnehin erstaunlich. Ihrem Land droht ein völliger Bedeutungverlust und das Auseinanderbrechen ihres Vereinigten Königreichs, wenn die Schotten, die Europäer bleiben wollen, ein neues Unabhängigkeits-Referendum ansetzen. Trotzdem trägt die politische Klasse weiterhin die Grandezza eines Weltreichs zur Schau: „Rule, Britannia! rule the waves: Britons never will be slaves.“
Tatsächlich unterscheiden sich die fundamentalen Werte der britischen Gesellschaft von denen im Rest Europas. In den Untersuchungen des World Values Survey ist Großbritannien den Vereinigten Staaten stets näher als dem protestantischen und katholischen Europa. Stark verkürzt: Die Briten sind im Schnitt konservativer als die meisten Kontinental-Europäer. Was anderswo radikal klingen würde, ist hier konservativer Mainstream. Nationalistische Töne fallen nur nicht so unangenehm auf, wenn sie im Akzent der Queen vorgetragen werden und der Maßanzug sitzt. Längst regiert in London der Abschottungs-Populismus.
3. Großbritannien blockiert die Zukunft Europas
Großbritannien kämpft in der EU für Freihandel und liberale Wirtschaftspolitik, und das ist gut für Deutschland. Das genügt als Argument fast allen deutschen Kommentatoren, Politikern und Wirtschaftsvertretern. Tatsächlich versuchen britische Regierungen seit jeher, die EU grundsätzlich zu ändern, und sie kompatibler zu machen mit der britischen Vorstellung einer europäischen Ordnung. Oft war das gut für die deutsche Wirtschaft. Der gemeinsame Binnenmarkt, der größte Integrationsschritt überhaupt, war ein Projekt des Kommissionspräsidenten Delors mit – ausgerechnet – Maggie Thatcher (“I want my money back!”).
Allerdings: Großbritannien kämpft auch für ganz andere Dinge – vielmehr gegen andere Dinge. Zum Beispiel gegen das wichtigste Grundprinzip der Union, das Ziel einer „immer engeren Union der Völker Europas“. Der EU-hassende Flügel der Konservativen Partei setzte Anfang des Jahres – ohne großes Aufsehen im Rest Europas – durch, dass dieses Ideal der “ever closer union” zwar für alle weiter gilt, für Großbritannien aber irgendwie nicht. Die britische Regierung verlangte außerdem, beim Euro mitreden zu dürfen und die Freizügigkeit in Europa auszuhebeln, um die Fremden vom Kontinent von der Insel fernzuhalten. Diese Fremden, das sind für die britische Regierungspartei Rumänen und Polen, betroffen wären alle Kontinentaleuropäer.
Großbritannien ist nicht Teil des Euro-Raums. Und genießt einen Budget-Rabatt. Und nimmt nicht an der Schengen-Vereinbarung teil. Die Briten haben längst einen Sonderstatus, sind aber stets unzufrieden. Dabei hat sich der britische öffentliche Diskurs, dominiert von völlig verrückten Boulevard-Zeitungen, vom Rest des Kontinents abgekoppelt. Was in deutschen und französischen Zeitungen steht, interessiert in London nicht. Die Öffentlichkeit debattiert nach innen. Leider können alle zuhören, die des Englischen mächtig sind, und das ist selten angenehm für Deutschland und Europa.
Am liebsten würden die Briten die supranationalen europäischen Institutionen abschaffen – die Kommission, das Parlament, den Gerichtshof – und die nationalen Regierungen alle Entscheidungen am runden Tisch aushandeln lassen, so wie im glorreichen 19. Jahrhundert. Dabei können Europas Probleme häufig auch in Zukunft nur durch mehr Integration sinnvoll gelöst werden. Zum Beispiel durch eine Banken-Union in der Finanzkrise. Einen gemeinsamen Grenzschutz in der Flüchtlingskrise. Gemeinsame Datenbanken bei Terror-Ermittlungen. Wie sieht eine positive britische Vorstellung von einem starken Europa aus? Wo soll diese Frontalopposition auf Dauer hinführen, außer hinaus aus der Union?
Die Mehrheit der Briten fühlt sich also nicht als Europäer. Ihre Politik ist zunehmend nationalistisch und fremdenfeindlich. Die britischen Vorstellungen von Europa laufen auf Blockade hinaus. Das sind genug Gründe für Europa, einen Brexit als Chance zu begrüßen. Er wäre, wenn nicht für die Briten, dann doch für Europa, die beste Lösung.
Der große Vorteil eines Austritts wäre: Klarheit. Die verbleibenden EU-Staaten würden sehen, welche klaren Privilegien ihre Mitgliedschaft in diesem Frieden stiftenden, Wohlstand schaffenden Club mit sich bringt, und welche klaren Nachteile es haben würde, nicht mehr dabei zu sein. Sollten anderswo in Europa in den kommenden Jahren Rechtspopulisten an die Regierung gelangen und die EU zum Sündenbock machen, wäre es hilfreich, wenn ihren Wählern die Alternativen klar sind.
Die Alternative zum Brexit – ein knappes, opportunistisches Ja beim Referendum – würde die EU dagegen schwächen und ihre Entwicklung zu einer starken Institution behindern, die in der globalisierten Welt bestehen kann. Darum sollten die Briten sich ein Herz nehmen – und endlich gehen.