Wieder ein Wechsel an der Spitze der SPD. Nach Martin Schulz, der die Sozialdemokraten kaum länger als ein Jahr führte, tritt auch Andrea Nahles zurück, nach wohlwollend gerechnet 14 Monaten. Sie will damit der Partei helfen, aber die Probleme der SPD reichen tiefer. Sie betreffen nicht nur Kandidatenfragen (aber auch).
Ich glaube, dass die Krise so grundlegend ist, weil die Partei gleichzeitig mit fünf Problemen konfrontiert wird. Jedes für sich wäre nicht existenzgefährdend, aber zusammen drohen sie die Partei zu zerreißen. Das Gute für die SPD ist: Sie kann aus diesem Loch allein herauskommen.
Problem 1: Eine Regierungspartei kann sich nicht neu erfinden
In diese Zwickmühle hat sich die SPD durch die Agenda 2010 und große Koalitionen selbst gebracht. Für viele Sympathisanten waren die Regierungsjahre Jahre des Verrats an den Idealen der Partei. Aus den Hartz-Reformen ging die Linkspartei hervor, aus den Jahren der großen Koalition eine SPD, die inhaltlich ausgelaugt ist und am Boden liegt. Kevin Kühnert, der Vorsitzende der Jungsozialist:innen (Jusos), bekommt so viel ernst gemeinte Unterstützung, weil er die große Koalition konsequent ablehnt.
Problem 2: Eine nationalstaatlich organisierte Partei kann globale Phänomene nicht kontrollieren
Länger schon als über die „Krise der Sozialdemokratie“ diskutieren Politikwissenschaftler über die „Krise des Nationalstaates“: Regierungen, die nur Einfluss auf die Politik eines Landes haben, nicht genug Einfluss haben, um wirklich was zu ändern. Diese Entwicklung trifft im Moment vor allem die SPD. Alle Parteien haben zwar Probleme, glaubwürdig zu bleiben, wenn sie eine Klimakrise beherrschen sollen, die auch in Los Angeles oder Peking ausgelöst wird. Da die Globalisierung aber zuerst ein wirtschaftliches Phänomen war und von der potenziellen SPD-Klientel auch so wahrgenommen wurde, trifft eine „Partei der Arbeit“ die eigene Hilflosigkeit besonders hart.
Problem 3: Eine „Partei der Arbeit“ in einer Welt der verschwindenden Arbeit
1863 gründete Ferdinand Lasalle den Allgemeiner Deutschen Arbeiterverein, die Vorgängerorganisation der SPD. Was aber macht eine Arbeiter-Partei, wenn ihr die Arbeiter ausgehen? Sie verschwinden, weil es in anderen Ländern der Welt billiger ist zu produzieren; sie verschwinden, weil sie nicht mehr benötigt werden; sie verschwinden, weil Maschinen die Aufgaben schneller, besser, effizienter erledigen können. Es gibt Menschen, die sich davon eine Zukunft versprechen, in der die Menschen weniger und gleichzeitig besser arbeiten können. Die Befürworter eines bedingungslosen Grundeinkommens argumentieren etwa so.
Problem 4: Eine solidarische Partei der Mitte ist in Migrationsfragen gespalten
Wie viele Migranten kann Deutschland aufnehmen? Diese Frage hat Familienfeiern gesprengt und die öffentliche Debatte vergiftet. Der neue Graben verläuft zwischen den Progressiven, die an einer Gesellschaft arbeiten, die bunt und offen und liberal ist, und jenen, die glauben, dass sie eher geschlossen und traditionalistisch sein sollte. AfD und Grüne, die beiden Parteien, die die deutschen Debatten in der vergangenen Jahren dominiert haben, haben auf diese Frage jeweils eine eindeutige Antwort.
Die SPD hat es traditionell als Teil ihrer Aufgabe gesehen, allen Menschen ohne sichere, ausreichend bezahlte, menschenwürdige Arbeit zu helfen. Gerade auch jenen, die in einem anderen Land geboren wurden. Diese Solidarität kollidiert aber mit dem offenen Argwohn, ja der Feindseligkeit, die auch Mitglieder der SPD Fremden gegenüber hegen. 16,6 Prozent der SPD-Anhänger vertreten ausländerfeindliche Positionen, so eine Studie des Leipziger Extremismusforschers Oliver Decker. Wie unfähig die SPD ist, eine einheitliche Linie in der Migrationspolitik zu finden, zeigen Aussagen des Parteivorsitzenden. Sigmar Gabriel nannte im August 2015 Menschen, die vor einer Flüchtlingsunterkunft demonstrierten, „Pack“ und forderte nur wenige Monate später mehr für „einheimische Bevölkerung“ zu tun.
Problem 5: Eine Weltanschauungspartei ohne ein visionäres Programm
Viele Bürger werfen den beiden großen Parteien der Mitte, CDU und SPD, vor, dass sie ununterscheidbar geworden sind, und das nicht nur in inhaltlichen Fragen. Die Menschen, die beiden Parteien in den großen Talkshows repräsentieren, reden gleich, kleiden sich gleich, sehen oft auch noch gleich aus. Diese Uneindeutigkeit spiegelt sich bei der SPD im Programm. Sie schreibt: „In einer Welt, die sich ständig wandelt, fällt es zudem immer schwerer, Gewissheiten zu verkünden und Garantien abzugeben.“ Dieser Satz steht in dem Abschnitt, in dem es um Ideen für Deutschland, für das ganze Land geht – am Anfang des Programms. Auf die wirklich großen Fragen hat die SPD offensichtlich keine Antwort. Den Wählern präsentieren ihre Politiker eine kleine Lösung da, eine Reform hier und noch ein paar Gesetzesvorschläge. In jeder anderen Partei könnte das reichen, um Mitglieder, Sympathisanten und Wähler für sich zu gewinnen und an sich zu binden. Aber nicht in der SPD. Sie ist aus einer großen Idee geboren: aus der Idee der Gerechtigkeit. Sie ist deswegen im Kern eine pathetische Partei. Das Große, das Ganze, vielleicht wird es in Parteigremien diskutiert. Aber niemand erfährt von diesen Diskussionen. Auf Bundesebene ist die SPD deswegen zu einer Hülle geworden, für Politikinhalte, die von Politikprofis skizziert, entwickelt, umgesetzt werden. Technokratisch-seriös. Hochgradig unberührend.
Einerseits geht es deutschen Arbeitern heute besser als jemals zuvor. Sie arbeiten weniger, bei höherem Lohn. Die deutschen Universitäten haben sich für neue Schichten geöffnet. Immer mehr Menschen machen Abitur und bilden sich weiter. Es scheint, als hätte die Sozialdemokratie zentrale Ziele erreicht. Aber ihre Erfolge erreichen immer weniger Menschen. Immer weniger arbeiten in „normalen Arbeitsverhältnissen“. Die soziale Mobilität, also der Aufstieg von der Unter- zur Mittel- zur Oberschicht, nimmt seit Jahren ab.
Gleichzeitig wächst die Ungleichheit der deutschen Vermögen, Monopolkonzerne fahren Monopolgewinne ein, die kaum versteuert werden, und zehn Jahre nach der Finanzkrise haben viele Menschen den Eindruck, dass sich nichts geändert hat. Dass das Wohl der Banken noch immer wichtiger ist als das Wohl der Bürger. Dass die Großkopferten in den Unternehmensetagen noch für jede Schweinerei und jedes Missmanagement durch Bonuszahlungen belohnt werden. Dann kommt ein Mindestlohn, der aber unter der Armutsgrenze bleibt und für jeden, der grundsätzlich werden will, eine einzige Enttäuschung sein muss.
Die Krise der SPD ist deswegen keine Krise der konkreten Politik. Es ist eine Krise des Programms. Das ist schlimm für eine Partei in diesen wieder hochpolitischen Zeiten, in denen Menschenbilder, Gesellschaftsentwürfe und Politikträume mit ungeahnter Wucht aufeinandertreffen.
Das neue Programm müssen auch neue Köpfe entwickeln
Diese inhaltliche Krise ist dabei nicht von ihrer organisatorischen zu trennen. Denn Visionen kann man nicht verordnen, Begeisterung nicht befehlen. Eine neue Idee für die Gesellschaft muss deswegen von vielen Menschen, die in der SPD sind oder ihr nahestehen, mitgetragen werden. Oder anders formuliert: Ohne neue Köpfe wird die SPD keine neuen Ideen entwickeln und glaubwürdig vertreten können. Sie muss sich nicht nur fragen: Was? Sondern auch: Wer?
Zuerst das „Was?“: Die Sozialdemokraten haben im 20. Jahrhundert den Kapitalismus gezähmt, in dem sie auf die Rechte der Arbeiter gepocht haben. Heute reicht das nicht mehr. Heute müssen sie den Kapitalismus zähmen, in dem sie auf die Rechte der Bürger pochen. Denn die Wirtschaft wandelt sich; die Ausbeutenden sind wir heute alle selbst: als Aktionäre, Facebook-Mitglieder, Kunden des Taxidienstes Uber und des Essenslieferanten Foodora. Wenn aber jeder in der Gesellschaft zum „Kapitalisten“ wird, einfach nur, weil er isst, wohnt, kauft und genießt, verschiebt sich die Konfliktlinie. Die Frage, wer profitiert, wird überlagert von der Frage: Wer reguliert diesen Profit?
Man kann es auch so sehen: Nach 150 Jahren Kampf steht die SPD vor weiteren 150 Jahren
Diese Verschiebung lenkt den Blick auf die Machtfrage. Die Demokratien des Westens stagnieren eben nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch. Heute ist es nicht mehr die erste Aufgabe eines solidarischen Demokraten, dieses oder jenes Gesetz zu verabschieden. Seine erste Aufgabe ist es, sich die Macht zurückzuholen, überhaupt etwas bewirken zu können.
Um diese Aufgabe zu erfüllen, müssen alle demokratischen Entscheidungsprozesse auf den Prüfstand: Reicht die repräsentative Demokratie noch aus? Sollte sie nicht endlich durch direktdemokratische Modelle ergänzt werden? Muss das Verhältnis – Nationalstaat neu geordnet werden? Das sind riesige Fragen! Und wenn sich die SPD bewusstmachen würde, dass sie wieder am Anfang eines neuen großen, gesellschaftlichen Kampfes um die Macht steht, der vielleicht wieder 150 Jahre dauern kann, würde sie nicht so hasenfüßig reagieren. Sie wäre viel wütender und aggressiver.
Die SPD könnte die Energie einer Bewegung in Politik umsetzen
Aber dieses Programm zu entwickeln, wird schmerzhaft werden. Die SPD kann nicht nur alte Parolen neu aufwärmen, sie muss neue finden. Und selbst, wenn ihr das gelingt: Dann muss sie mit diesen neuen Parolen die Menschen erreichen, nicht nur die alten, sondern gerade auch die jungen. Sie sind nicht politikverdrossen, wie viele immer behaupten. Die Flüchtlingshilfe, die Anti-Pegida-Demos, die Klimademonstrationen werden und wurden überall in Deutschland nicht nur, aber vor allem von jungen Menschen getragen. Befragungen, zuletzt etwa der SPD-nahen (!) Friedrich-Ebert-Stiftung zeigen, dass die jungen Deutschen lieber direkt helfen, demonstrieren gehen oder online aufklären, wenn sie sich politisch betätigen wollen. Sie machen eigentlich fast alles lieber, als sich in einer Partei zu engagieren. Das wird sich auch nicht mehr ändern. Genauso wenig, wie ein Tag kommen wird, an dem Jüngere zu Hunderttausenden zu den Kiosken strömen werden, um gedruckte Tageszeitungen zu kaufen wird, wird nie ein Tag kommen, an dem sie zu Hunderttausenden wieder in eine Partei eintreten. Wenn überhaupt, wird die Parteiarbeit am Ende ihres politischen Engagements stehen, nicht am Anfang.
Die SPD wird ihren inhaltlichen Wandel begleiten müssen durch einen organisatorischen. Sie hat gegenüber Neugründungen wie der Piratenpartei und der AfD den Vorteil, dass sie alte institutionelle Erfahrung in den Parlamenten mit in die neue Welt einbringt. Denn woran ist die Piratenpartei gescheitert? Ist sie daran gescheitert, dass sie nicht genug Ideen hatte? Ist sie daran gescheitert, dass sie die Leute nicht erreicht hätte? Oder ist sie daran gescheitert, dass es ihr nie gelungen ist, eine schlagkräftige Organisation zu werden?
Am Chaos ist sie gescheitert. Die Piratenpartei hatte am Anfang, was der SPD fehlt. Elan, Schwung, sie glich einer Bewegung. Die SPD wiederum hat das, was der Piratenpartei fehlte. Eine Organisation, die in der Lage ist, sehr viele unterschiedliche Meinungen zu integrieren, aufeinandertreffen zu lassen, ohne dass die Partei daran zugrunde geht. Die SPD könnte die Energie einer Bewegung in die parlamentarische Politik übersetzen. Ähnlich wie es den Grünen mit der Fridays-For-Future-Bewegung gelang.
Dafür müsste sie wie die verhassten Tech-Unternehmen werden – eine Plattform
Nur woher eine Bewegung nehmen? Sie kann sie nicht von oben erschaffen, die Bewegung müsste sich unten formen. Die Chance für die SPD liegt darin, sich nach allen Seiten zu öffnen. Programmierer würden sagen: Sie braucht mehr Schnittstellen in die Gesellschaft. Das klingt sehr abstrakt. Aber fragen Sie sich mal: Wann sind Sie außerhalb der Nachrichten das letzte Mal mit einer Partei in Berührung gekommen? Ist wahrscheinlich lange her. Aber wann sind Sie das letzte Mal mit einer politischen Aktion in Berührung gekommen? Vielleicht mit einer Unterschriftenliste gegen das Freihandelsabkommen TTIP, einer Aktion von Politikkünstlern, die sich für Flüchtlinge engagieren? Die SPD muss versuchen, häufiger durch ihre Aktionen und Inhalte aufzufallen, als durch ihre Parteisachen. Sie muss ein bisschen mehr Bewegung werden, mehr zur Plattform.
Die Ironie daran: Die SPD muss als politische Partei ein bisschen mehr denken wie die Tech-Unternehmen. Die profitabelsten unter ihnen stellen nichts her, sondern setzen sich als Mittelmann in bereits existierende Zusammenhänge. Sie stellen einen virtuellen Marktplatz bereit, auf dem sich Käufer und Verkäufer treffen. Diese haben den Vorteil, dass sie sich nicht um die Infrastruktur kümmern müssen, im Gegenzug erhält die Plattform Provision. Digitale Plattformen sind überlegen, weil sie leichter zugänglich sind als die starren hierarchischen Systeme des vergangenen Jahrhunderts. Sie sind als Knotenpunkte in Netzwerken viel besser geeignet, um sich den komplexen, nicht planbaren Veränderungen anzupassen, die durch Digitalisierung, Automatisierung und Globalisierung ausgelöst werden. Der raketenhafte Aufstieg von Online-Aktivismus-Seiten wie Campact oder MoveOn weist den Weg.
Warum ruft die SPD nicht eine eigene Plattform ins Leben, ohne Parteilogo, aber mit der Aussicht, die Anliegen in die Parlamente zu tragen? Warum stellt sie nicht einen kleinen Etat für ehrgeizige, neue, freche Politprojekte auf – so wie jedes Unternehmen eine Forschungs- und Entwicklungsabteilung hat? Warum öffnet sie nicht die Nominierungen für die Wahllisten? Wann beginnt sie die Kampagnen der NGOs zu kopieren, in Stil, Tonalität – und Unverbindlichkeit?
2011 überlegte die Partei, ob sie ihren Kanzlerkandidaten auch von Nicht-Mitgliedern bestimmen lassen sollte; es war einer der mutigsten Vorschläge der jüngeren Parteigeschichte. Aber er kam nicht durch. Wichtigstes Gegenargument: Man wolle die Mitgliedschaft in der Partei nicht entwerten. Aber wieso sollte die Partei jemanden ausschließen, der eine gute Idee hat, nur weil er nicht Mitglied ist? Warum sollte sie nicht mit ihm reden? Oder ihm sogar helfen, seine gute politische Idee umzusetzen? Mal frech gefragt: Wo sollen denn sonst die Kanzlerkandidaten der Zukunft herkommen?
Und wer sollte die wählen?